Systemisch heißt vor allem auch vernetzt zu denken
mit Prof. Dr. Björn Hermans
A: Warum begeistern Sie sich so sehr für die systemische Perspektive, sowohl bei den Familien als auch bei den Institutionen?
Björn Enno Hermans: Systemisch heißt ja vor allem auch, vernetzt zu denken und Wechselwirkung und zirkuläre Zusammenhänge zu fokussieren. Bei den komplexen lebenden Systemen und dazu zählen sowohl Institutionen, Organisationen, als auch Familien, erscheint mir diese Perspektive besonders sinnvoll, um so ein umfassenderes Verständnis zu erreichen.
A: Welche Chancen haben wir, wenn wir mit einer systemischen Haltung auf das Arbeitsfeld Kinder psychisch erkrankter Eltern schauen?
Björn Enno Hermans: Auch hier geht es darum keine einseitige, linear kausale Ursachenzuschreibung zu vollziehen, sondern einen wohlwollenden wertschätzenden Blick auf die Eltern zu werfen, mit der Unterstellung, dass die allermeisten Eltern etwas Gutes für ihre Kinder wollen. Gleichzeitig gilt es, mit dem gleichen wertschätzenden ressourcenorientierten Blick aber auch auf das zu schauen, was die Kinder benötigen, um gemeinsam mit den Beteiligten zu guten Ergebnissen zu kommen. Wenn es gelingt, die Ressourcen im Sinne aller zu nutzen, ist das eine große Chance.
A: Erklären Sie uns bitte, was die Feinheiten und Unterschiede von Netzwerken, Kooperationen und interdisziplinärer Zusammenarbeit sind?
Björn Enno Hermans: Netzwerke beschreiben für mich erst einmal, dass Institutionen oder Personen in irgendeiner Weise miteinander in Beziehung stehen. Man könnte auch sagen, es handelt sich um ein soziales System. Kooperation hingegen deutet schon auf eine Qualität hin, wie miteinander umgegangen wird - in diesem Sinne eben kooperativ, das heißt gemeinsam etwas Thematisches in den Fokus zu nehmen und im Ergebnis auch bewegen zu wollen. Die interdisziplinäre Zusammenarbeit ist vor allen Dingen dadurch geprägt, dass Menschen aus verschiedenen beruflichen Disziplinen und aus verschiedenen Versorgungskontexten zusammenkommen und im Sinne eines Falls oder eines Themas zusammenarbeiten.
A: Was kann jede Fachkraft und Institution selbst zum Gelingen beitragen und wo sind die Grenzen in Bezug auf interdisziplinäre Zusammenarbeit?
Björn Enno Hermans: Ich glaube der wichtigste Satz ist hier ein Zitat, angelehnt an Luhmann: Kooperation als auch Vertrauen bedeuten, den Mut zu haben, das Risiko einzugehen, dem anderen eine gute Absicht zu unterstellen. Ich glaube für die interdisziplinäre Zusammenarbeit ist es wichtig, sich seiner eigenen Stärken, Aufgaben, aber auch Grenzen bewusst zu sein und das, was möglich ist, in das Gemeinsame mit hineinzugeben und somit zum Gelingen beizutragen. Das erfordert aber auch, nicht die Schuld bei anderen zu suchen, andere abzuwerten, die ebenfalls in der Kooperation oder Zusammenarbeit beteiligt sind, sondern auch die Grenzen anderer Organisationen, Institutionen und Fachkräfte zu akzeptieren. Wenn es dann gelingt, im Sinne der Klient*innen gemeinsam zu agieren, gemeinsam ein Fallverständnis zu entwickeln und abgestimmt aufeinander Maßnahmen zu erarbeiten, dann sind das sicherlich sehr positive Konsequenzen für die Klient*innen. Wenn sich die Fachkräfte in der interdisziplinären Zusammenarbeit verstricken, möglicherweise andere als Erklärung dafür nutzen, wieso etwas nicht gelingt, dann ist es häufig auch sehr hinderlich und desorientierend für Klienten, was dann meist auch mit größerer Verunsicherung einhergeht.
A: Erklären sie uns bitte die Idee vom dritten Raum.
Björn Enno Hermans: Die Idee des dritten Raums ist, dass Fachkräfte sich außerhalb ihrer eigenen sonstigen Tätigkeit beziehungsweise der Tätigkeitsgrenzen ihrer eigenen Institution oder Organisation in einem weiteren Raum, so wie wir es hier nennen, begegnen. Das heißt, gemeinsam bezogen auf ein Thema, in einem konkreten Projekt, in einer konkreten Kooperation, möglichst praxis- und fallbezogen zusammenkommen und gemeinsam konkret tätig werden. Darüber entsteht eben dieser dritte Raum der Kooperation, der über die Systemgrenzen der Fachkräfte und ihrer Institution oder Organisation hinausgeht und tatsächlich in diesem dritten Raum gemeinsam etwas Neues entstehen kann. Unsere Überzeugung ist, dass wenn das gelingt, es eine andere, bessere Grundlage für Kooperation, aber auch für die dauerhafte interdisziplinäre und intersektorale Zusammenarbeit bietet.
A: Was bringen gemeinsame Fortbildungen und Konzeptentwicklung an neuen Impulsen und worin liegen die Chancen?
Björn Enno Hermans: Ich habe es bei der letzten Frage schon versucht deutlich zu machen: Ich glaube, dass in der persönlichen Begegnung in dem gemeinsamen Konzipieren und Entwickeln ein größeres Verständnis füreinander, für die Ziele, Motive, aber vor allen Dingen auch das Arbeitsfeld und die schon genannten Grenzen des anderen und seiner Institution deutlich werden können und über dieses erweiterte Verständnis und die wechselseitigen Perspektivübernahme eine andere Qualität von Zusammenarbeit und Kooperationen ermöglicht wird.
A: Wie sind ihre Erfahrungen mit der Erprobung, wie Sie es jetzt in Mecklenburg-Vorpommern im Rahmen von KipsFam durchführen?
Björn Enno Hermans: Hierzu lässt sich noch nicht allzu viel sagen, da das Projekt zeitlich noch relativ am Anfang steht. Es ist aber gelungen, für Mecklenburg-Vorpommern verschiedene Moderator*innen-Tandems zu bilden. Dabei war uns wichtig, dass diese Moderator*innen auch aus unterschiedlichen Versorgungskontexten kommen. Es ist gelungen, dort einige Moderatorenpaare zu finden, die jetzt wiederum ganz konkrete interdisziplinär angelegte Projekte, im ganzen Land begleiten werden. Derzeit befinden wir uns noch in der Akquise-Phase von Projekten beziehungsweise Projektpartner*innen. Ich gehe aber davon aus, dass es gelingen wird, doch einige Projekt-Tandem aus unterschiedlichen Versorgungskontexten zu gewinnen, die konkret Projekte in Mecklenburg-Vorpommern durchführen werden. Ich bin sehr gespannt auf die Erkenntnisse und Ergebnisse, die wir dann wahrscheinlich im nächsten Jahr haben werden.
A: Was muss zum Abschluss noch gesagt werden, damit es sich für KipE qualitativ weiterentwickeln kann?
Björn Enno Hermans: Dranbleiben ist sicherlich eine Maxime. Ich glaube, dass die Erkenntnisse oder Ideen über mögliche Zusammenarbeit nicht wirklich brandneu sind, sondern ähnliche Thesen und Ideen zur interdisziplinären und intersektoralen Kooperation auch schon vor 10 oder 15 Jahren im Grundsatz vorgelegen haben. Es gilt weiter, eine Haltung zu etablieren, auch die Erfahrungen von positiven Beispielen im Hintergrund zu haben, um dann systematisch, auch auf der Ebene von Gesetzgebung und weiterer Rahmenvorgaben eine Kooperation verbindlicher zu gestalten. Allerdings lässt sich das nicht nur verordnen, sondern muss von der Überzeugung getragen sein, dass es tatsächlich einen Mehrwert bietet, sowohl für die eigene Arbeit als auch insbesondere für die Klientinnen und Klienten.
Björn Hermans
Psychologe und systemischer Psychotherapeut an der MSH Medical School Hamburg, Professor für Klinische Psychologie und Psychotherapie, Therapeut und Supervisor.