Manchmal muss man im Leben Dinge einstecken, für die man eigentlich keine Tasche hat
Die Geschichte eines Kindes, das seinen Vater an den Suizid verlor
Bericht einer anonymen Autorin
„(…) das Gefühl der bedingungslosen Liebe und des Urvertrauens werden für mich immer die schönsten Erinnerungen meiner Kindheit bleiben.”
Ich erinnere mich nicht genau daran, wann sich die Gewohnheiten meines Vaters verändert haben, aber ich werde nie die erste Nacht vergessen, in der er, statt ins Bett zu meiner Mutter zu gehen, allein in der Küche mit seinen leer getrunkenen Alkoholflaschen saß. Schon in dieser Nacht habe ich ihn angefleht, die Alkoholflaschen beiseitezulegen, doch trotz des mir ins Gesicht geschriebenen Schmerzes konnte ich bei ihm keine Wirkung erzielen. Nach diesem für mich prägenden Ereignis folgten in den kommenden Jahren viele weitere Nächte, in denen mein Vater entweder gar nicht oder viel später als verabredet nach Hause kam. Ich habe so oft in die enttäuschten Augen meiner Mutter schauen müssen und damit angefangen, Nachrichten auf seinem Anrufbeantworter zu hinterlassen und ihn angefleht, nach Hause zu kommen, doch mit Antworten konnte ich in der Regel nicht rechnen. Die Nächte vergingen, meine Schlaflosigkeit und die gleichzeitige Enttäuschung nahmen zu. Das Urvertrauen zu meinem Vater verlor ich Stück für Stück.
„Das Urvertrauen zu meinem Vater verlor ich Stück für Stück.”
Ich wurde älter und begann mehr auf eigenen Beinen zu stehen. Jedoch ging die Sorge um meinen Vater und auch um das, was diese Zeit mit meiner gesamten Familie machte, nie weg. Nach mehrfach gescheiterten Klinikaufenthalten und der fehlenden Einsicht meines Vaters, hat sich meine Mutter gemeinsam mit uns nach vielen kräfteraubenden Jahren dazu entschlossen, aus unserem damaligen Zuhause auszuziehen. Dieser Schritt war einer der schwersten in meinem Leben. Zum einen, weil ich in diesem Haus meine wundervolle Kindheit verbracht hatte und diese nicht hinter mir lassen wollte und zum anderen, weil die Angst, dass sich mein Vater durch diesen Schritt noch mehr ins Verderben stürzen würde, unglaublich groß war. Und genau diese Angst sollte sich bestätigen.
Durch den Verlust meiner Mutter und unserem Auszug wurde mein Vater unberechenbar. Es gab Tage, an denen er den Kontakt suchte und uns Kinder mit Liebe überschüttete und es gab Monate, in denen ich kein Lebenszeichen von ihm erhalten habe. Auch wenn ich damals bereits wusste, dass ich meinen Vater an die Sucht verloren hatte, war der Gedanke daran, ihn endgültig zu verlieren, nicht zu ertragen. Meine Geschwister und ich begannen ihn regelmäßig zu besuchen. Die meiste Zeit schlief er, und wenn er wach war, erinnerte er sich am nächsten Tag nicht einmal mehr daran, dass wir da waren.
Ich begann zu arbeiten und einen Weg für mich zu finden, mit dem Zustand meines Vaters umzugehen. Ich wusste immer, dass dieses Leben für ihn nicht ewig so weitergehen konnte, aber ich wusste auch keinen Weg, wie ich hätte noch stärker eingreifen können.
An einem Donnerstagnachmittag bekam ich die Nachricht, dass mein Vater durch einen Überkonsum im Krankenhaus liegt und aufgrund einer Schocklunge um sein Leben kämpft. Ich bin sofort ins Krankenhaus gefahren und verbrachte die kommenden Wochen jeden Tag damit, ihn an Maschinen gefesselt beim Kampf ums Überleben zu begleiten. Jeden Tag herrschte die Angst, dass es heute vorbei sein könnte. Doch er hat sich durch diese Zeit durchgekämpft und uns noch im Krankenhaus versprochen, sein Leben zu ändern und anzugehen.
„Ich wusste immer, dass dieses Leben für ihn nicht ewig so weitergehen konnte (…)“
Nach all den Jahren hatte ich zu diesem Zeitpunkt wieder die Hoffnung, meinen Vater, der mich in meiner Kindheit mit Liebe überschüttete, überall hinbegleitete und niemals allein lies, zurückzugewinnen. Und genauso kam es auch. Er hörte auf zu konsumieren. Ich verbrachte während des Lockdowns viele wunderbare Momente mit meinem Vater. Wir sind viel zusammen draußen gewesen, ich habe ihn bei sämtlichen Arztbesuchen begleitet und bei Medizinisch-Psychologischen Untersuchungen unterstützt. Ich war so zuversichtlich wie zu keinem Moment zuvor und schätze ihn für seine wunderbare Art wieder auf eine ganz andere Weise. Doch es kam der Moment, wo er mit all dem, was in den vorherigen Jahren passiert war, nicht mehr leben konnte. Er wurde ruhiger, zog sich zurück und weinte sehr häufig, wenn ich bei ihm war. Ihn in diesem Zustand zu sehen, war für mich das Allerschlimmste, weil ich wusste, wie starke Vorwürfe er sich selbst machte. Die Angst, ihn zu verlieren, aber diesmal nicht an die Sucht, sondern an sein Gewissen, fraß mich auf. Unsere Besuche bei ihm wurden regelmäßiger, bis an einem Dienstag keine Antwort mehr auf jene Nachricht erfolgte. Meine Mutter ist daher zu ihm gefahren, um nach dem Rechten zu schauen, und kam schreiend zurück nach Hause. Er hatte die Entscheidung getroffen.
„Die Angst, ihn zu verlieren, aber diesmal nicht an die Sucht, sondern an sein Gewissen, fraß mich auf.”
Ich wünschte von meinem Herzen, ich hätte diese Entscheidung verhindern können. Ich wünschte, er wäre heute noch da und er hätte die Sucht und all die Jahre hinter sich gelassen. Aber ich habe gelernt, dass ich manche Dinge nicht beeinflussen kann, so sehr ich es auch wollte. Ich denke täglich an meinen wundervollen Vater, den ich am Ende noch einmal von seiner alten Seite erleben durfte. Er ist nun an einem ruhigen Ort, wo er den Frieden finden konnte, den er auf der Erde nicht mehr erfahren hat.
Gastbeitrag einer anonymen Autorin.