"Ich war eine hochfunktionale, depressive Mutter"

mit Birgit

Lange war Birgit selbst psychisch erkrankt, litt unter schweren Depressionen und war suizidgefährdet. Heute betreut sie als Genesungsbegleiterin psychisch erkrankte Mütter. Hier berichtet sie, wie ihre Genesung verlief und wie die Familie daran beteiligt war. 

A: Liebe Birgit, Kannst Du dich bitte kurz vorstellen?

Birgit: Ich bin Birgit und kämpfe seit ich Kind bin mit Depressionen und suizidalen Gedanken. Ich habe immer gedacht, es sind die äußeren Gegebenheiten und nicht ich. Dass sich sowas auch manifestiert in mir selbst, war mir nicht klar. Ich habe trotzdem drei Kinder bekommen und war dann auf einmal Mutter mit starken Depressionen. 

A: Welche Diagnose hast Du?

Birgit: Meine Diagnose sind Depressionen und Ängste.

A: Kannst Du erzählen, wie es in deiner Familie war, wie sie damit umgegangen ist?

Birgit: Ich war eine hochfunktionale depressive Mutter. Ich bin morgens aufgestanden und habe gemacht, was sein musste. Ich habe die Kinder in die Kita gebracht. Die Kinder hatten immer ein Brot und ein Getränk in der Tasche, dann habe ich sie in die Schule und die Kita gebracht und dann bin ich zusammengebrochen. Und das jeden Tag. Dann bin ich irgendwann aufgestanden, weil ich wusste, ich muss jetzt die Kinder abholen, war für die Kinder da bis  abends. Wir haben tolle Ausflüge gemacht. Meine Kinder haben viel Spaß gehabt, aber es ist auf jeden Fall nicht spurlos an Ihnen vorbei gegangen. Irgendwann funktionierte das dann nicht mehr so gut.

A: Du meinst, sie haben es gemerkt, obwohl Du Dir solche Mühe gegeben hast, zu funktionieren? 

Birgit: Es ist eine Illusion zu glauben, dass die eigenen Kinder das nicht spüren, dass irgendetwas nicht stimmt. Ich bin mir sicher, dass sie sich gefragt haben, was ist mit Mama los? Irgendwann sind sie zu meinem Mann gegangen und haben ihn gefragt und wollten eine Erklärung, die er Ihnen auch nicht liefern konnte, weil er auch noch nicht verstanden hatte, was da los war. Die ganze Familie hatte es nicht verstanden. Das hat sich oft in so Kleinigkeiten gezeigt, z.B. wenn meine Lieblingstasse zerbrochen ist, dann bin ich in Tränen ausgebrochen. Das ist ein Schritt über die normale Reaktion hinaus oder ich wurde furchtbar wütend. Diese Wut und diese Trauer, das haben meine Söhne schon miterlebt.

Die Kinder hatten immer im Fokus wie es mir geht

A: Wie haben die Kinder darauf reagiert? Die Parentifizierung, das Kinder die Rollen der Eltern übernehmen, das hat es bei euch wohl so nicht gegeben. Gab es andere Reaktionen?

Birgit: Meine Kinder hatten ganz doll im Fokus, wie es mir geht. Da spricht man schon von Parentifizierung. Ob ich wütend oder traurig wurde. Meistens haben sie mich in solchen Situationen mit Riesenaugen angeguckt und nicht verstanden, wo das jetzt plötzlich herkam, das konnten sie sich nicht erklären. Ich erinnere mich, dass sie versucht haben, mich zu trösten. Auch da haben sie ihre Rolle als Kinder überschritten und sind dann ja eher Elternteil. Mein kleiner Sohn hat das für sich am besten gelöst. Der hatte so ein großes Kuscheltier, den hat er mir einfach in den Arm gedrückt. Es gab einmal eine Zeit, da ist er zu mir gekommen, als ich im Bett lag und weinte, da hat er mir so lange Witze erzählt, bis ich lächeln musste. Lachen konnte ich nicht, aber lächeln. Dann ist er ganz stolz abgezogen. Das Kuscheltier blieb bei mir. 

A: Die Anteilnahme deiner Familie war sehr groß. Was war denn der Wendepunkt, wo sie verstanden haben, dass es so nicht weiter geht und Du professionelle Hilfe brauchst?

Birgit: Der Wendepunkt ging bei mir los an meinem Tiefpunkt. Man spricht ja auch von der Recovery- oder Heldenreise im eigenen Leben und die fing bei mir an, als ich ganz unten war. Da war mein Jüngster knapp drei Jahre und ich habe einfach gespürt, dass alles nicht mehr stimmte und auch mein Mann keine Kraft mehr hatte. Den Jungs ging’s nicht so gut. Der Mittlere hatte Sorgenzustände. Ich merkte, dass er sehr belastet war. Auf jeden Fall hatte ich das Gefühl, ich bin nur noch eine Belastung war für meine Familie. Die Kinder, die ich in die Welt gesetzt hatte, würde ich zerstören. Das ist ein hochdepressiver Gedanke, dass man nur destruktiv denkt. Ich kam aus der Gedankenwelt gar nicht mehr raus. Ich habe gedacht, wenn ich mich jetzt rausnehme aus dieser Familie, dann würde es ihnen besser gehen, weil dieses destruktive Element irgendwie weg ist.
Das war der Moment, wo ich arrangiert habe, dass die Kinder bis zum Abend weg waren. Und dann wollte ich wirklich meinem Leben ein Ende setzen. Ich konnte nicht mehr. Ich war so verzweifelt und habe keinen anderen Ausweg mehr gesehen. Und dann stand ich auf der Brücke und habe runterguckt und habe nochmal an meine Jungs gedacht. Das sollte mein letzter Gedanke sein. Zum Glück, denn dann habe ich mir gedacht, wenn ich mich jetzt aus dieser Welt nehme, dann zerstöre ich diese/meine Kinder erst recht. Das kann ich nie wieder gut machen, weil ich dann nicht mehr da bin. Und dann habe ich mir gedacht, ich muss etwas tun, das schaffe ich nicht alleine. Ich brauche Hilfe. Ich war auch danach oft ganz verzweifelt, habe dann aber immer gedacht, ich habe es meinen Jungs auf der Brücke versprochen. Für meine Jungs schaffe ich das. Das war der Gedanke, der mich da so durchgeführt hat.

A: Es gibt ja leider auch die Variante, dass Eltern ihre Kinder mitnehmen und sich sagen, was wollen die ohne mich auf der Welt? Dich hat der Gedanke an die Kinder gerettet.

Birgit: Das hätte ich niemals gemacht, aber ich wusste auch, dass sie bei meinem Mann in guten Händen sind. Der hat ein riesengroßes Herz.

Einen Sinn im Leben zu haben, hat mir geholfen

A: Du arbeitest heute als Genesungsbegleiterin?

Birgit: Ich arbeite heute als Genesungsbegleiterin, weil ich zwei Jahre selbst bei einer war und sehr wachsen konnte, bis ich mir gedacht habe, das ist so eine gute Erfahrung, die möchte ich gerne weitergeben. Ich bringe so viel Erfahrung mit, da will wich mal schauen, ob ich anderen Menschen nicht helfen kann, den Weg etwas abzukürzen. Das mache ich jetzt schon seit neun Jahren.

A: Wie hast Du Hilfe gefunden?

Birgit: Ich habe die erstbeste Therapeutin angerufen sofort, als ich von der Brücke nach Hause gegangen bin. Und hatte zwei Wochen später einen Termin. Ich bin sehr kleinschrittig nach vorne gegangen. Ich musste erstmal annehmen, dass diese Depression in mir steckt. Ich habe erstmal nur die Depressionen gesehen und die Ängste nicht. Ich musste erstmal eins angehen, dann das nächste.

A: Ist deine Krankheit latent immer vorhanden? Weißt Du jetzt, wie Du damit umgehen muss?

Birgit: Ja. Ich glaube, dass ein Sinn im Leben etwas Schönes ist, das einen vorantreibt und am Leben hält. Solange ich diese sinnstiftende Arbeit der Genesungsbegleitung machen kann, bin ich einigermaßen zufrieden mit mir. Nur gibt es auch Momente, in denen ich zuviel mache und nicht gut auf mich aufpasse. Ich glaube, dass das auch damals mit den Kindern passiert ist, ich habe nicht genug auf mich geachtet. Ich habe in meiner Kindheit schon gelernt, ich bin nicht so wichtig, wie mein Gegenüber, sprich meine Mutter und mein Vater, und habe alles versucht, um die zufrieden zu stellen. Das habe ich in mein Leben mit reingenommen und bin immer noch am Arbeiten, um das rauszubekommen. Das habe ich mit den Kindern auch gemacht. Ich habe mich kleingefaltet und habe mich gar nicht mehr wahrgenommen. 

Birgit: Ich arbeite heute als Genesungsbegleiterin, weil ich zwei Jahre selbst bei einer war und durch die Gespräche mit ihr sehr wachsen konnte, bis ich mir gedacht habe, das ist so eine gute Erfahrung, die möchte ich gerne weitergeben. Ich bringe so viel Krisen-Erfahrung mit, da will ich mal schauen, ob ich anderen Menschen nicht helfen kann, den Weg etwas abzukürzen und sich selbst schneller zu reflektieren. Das mache ich jetzt schon seit neun Jahren.

Ein leises Kind stört nicht, das ist die große Gefahr

A: Worauf sollten Lehrer*innen oder Erzieher*innen in der Schule oder der Kita achten, wenn es um Depressionen in der Familie geht?

Birgit: Ich glaube tatsächlich, weil ich selber auch Kind von psychisch erkrankten Eltern bin, ich würde mir als Fachkraft am meisten Sorgen um die stillen Kinder machen, die vordergründig so wahnsinnig gut funktionieren und über ihre Gefühle nicht sprechen möchten. Eine Lehrerin meines Sohnes hat das mal so beschrieben, was ich damals sehr hässlich fand: Er wäre nicht emotional entwickelt. Ich habe mir nur gedacht: Wenn Sie wüssten, er hat so viele Emotionen, die er gar nicht nach außen bringen kann. Er hat sie nicht rausgelassen und hatte ständig den Blick auf andere. Das ist heute unser Sohn, der am meisten Kummer mit sich rumträgt. Ich glaube, dass diese Kinder sich selber aus dem Blick verlieren und es auf diese Art zeigen. Manchmal ist es leichter, man hat ein lautes Kind vor sich. Da weiß man auch, es stimmt was nicht, aber es wird sich gekümmert, weil es stört. Ein leises Kind stört nicht. Das ist die große Gefahr.

A: Die Fachkräfte sollten darüber aufgeklärt werden, was hinter so einem Verhalten stecken kann.

Birgit: Ja, aber ich glaube, es ist schwierig mit den Kindern ins Gespräch zu kommen, da Kinder ja solidarisch mit ihren Eltern sein wollen. Ich glaube nicht, dass mich eines meiner Kinder irgendwo „verpfiffen“ hätte. Aber eine Beziehung aufzubauen, lohnt sich, damit das Kind weiß, ich kann da hingehen, wenn ich Probleme habe.

A: Was hat Dir konkret am meisten geholfen? Gab es Krisenpläne?

Birgit: Das haben wir nicht gemacht. Was mir in der starken Krise geholfen hat, waren vor allem Gespräche mit dafür offenen Menschen und ein Antidepressivum zu nehmen. Das hat die Spitzen rausgenommen und mir einen Seelenraum eröffnet, wo ich wieder Kraft schöpfen und überhaupt nachdenken konnte. Dann habe ich mir mit Hilfe der Therapeutin klar gemacht, was ist das überhaupt in mir. Ich hatte den Mut mir einzugestehen, dass ich an mir arbeiten muss. 

Ich habe das mit einem Blatt Papier verglichen, das zusammengeknüllt ist. Ich wusste, das bin ich, aber ich hatte keine Ahnung, was darauf steht. Das habe ich vor allem mit meiner Genesungsbegleiterin aufgedröselt und mal eine kleine Ecke freigefaltet und geguckt, wer bin ich denn eigentlich und was möchte ich mit diesem Leben machen? Ich war so im Dienst anderer Menschen, dass ich nicht mehr wusste, was brauche ich überhaupt?

Die meisten können eine Suizidandrohung nicht aushalten

A: Was erlebst Du mit Familien, in denen Suizid ein Thema ist? Wenn jemand sagt, dass er oder sie Suizidgedanken hat?

Birgit: Ich versuche die Situation richtig mitzutragen, zu halten, auszuhalten, dass dieser Mensch die Verzweiflung endlich mal aussprechen darf, weil das tut so unheimlich gut. Was normalerweise passiert, wenn Du das jemandem erzählst, der wendet sich ab. Das kann die beste Freundin sein, die hält dieses Gefühl nicht mit dir aus. Wahrscheinlich, weil das zuviel ist. Und wenn ein Mensch sagt; komm, rede Dir alles von der Seele, danach schauen wir, was wir damit machen. Das tut unheimlich gut. Und ich habe mir versprochen, so ein Mensch zu sein. Dann ist auch die Verzweiflung des anderen Elternteils ok, oder wenn die Großeltern dabei sind, die sagen: Nehmen Sie das ernst. Ja, das tue ich.

A: Die meisten wissen nicht, was sie mit einer Suizidandrohung anfangen sollen.

Birgit: Das einzige, was den meisten einfällt ist, rufen wir den SPDI (Sozialpsychiatrischer Dienst). Aber der hilft ja auch nicht. Aber sich das mal anzuhören und zu sagen, solange ich da bin, passiert dir ja auch nichts. Das fand ich entscheidend. Den SPDI kann ich auch noch später rufen, jetzt bin ich aber für dich da.

A: Arbeitest Du mit einem bestimmten Schema? 

Birgit: Ich arbeite vor allem im Team. Und die strukturelle Ebene, wo kommen die Kinder hin, was braucht jetzt die Mutter usw., das übernehmen andere aus dem Team, ich bin ja die Genesungsbegleiterin. Ich bin da, um das erste Feuer zu löschen und auch um später zu begleiten oder nachzubesprechen und die Recovery-Wege zu entdecken, das ist meine Aufgabe.

A: Du bist selber Kind psychisch erkrankter Eltern. Hast Du das mit deinen Kindern thematisiert? Dass sie selber auch psychisch krank werden können?

Die Kinder müssen wissen, was hier gerade passiert

Birgit: Doch absolut, direkt nach meiner Krise. Das gehörte mit zu dem Prozess der Heilungsweges. Und da würde ich mich selbst auch als Heldin bezeichnen wolle in meiner eigenen Heldenreise, weil ich das ganz gut gemacht habe. Mein Mann hat den Anfang gemacht, er ist mit unseren Söhnen ins Gespräch gekommen und hat ihnen zugehört. Er hat mir gesagt, die brauchen eine Antwort, die wollen wissen, was hier gerade passiert, kannst Du mit Ihnen sprechen. Da war ich im ersten Moment empört, dass sie zu ihm gegangen sind und nicht zu mir. Dann habe ich gedacht, das ist ja Blödsinn. Dann haben wir eine Familienrunde gemacht und ich habe viel darüber gesprochen, was gerade los ist und was ich jetzt angehe. Ich habe ihnen gesagt, sie sind nicht verantwortlich für irgendwas. Sie müssen mich nicht trösten, auch wenn ich weine. Sie können mir eine kurze Umarmung geben, aber sie sind absolut nicht dafür verantwortlich. Das war mir sehr wichtig ihnen weiterzugeben. Und auch zu zeigen, wie ich stückweise wieder stärker wurde.  Nichtsdestotrotz, wenn ich gesehen habe, dass sie Schwierigkeiten hatten, da habe ich sie mitbegleitet, da mir auch die Ängste sehr bekannt vorkamen. 

Der Jüngste hat irgendwann heftige Wutanfälle bekommen und hatte große Schwierigkeiten mit dem Schulwechsel. Dann haben wir einen Kinderpsychologen gesucht, mit dem er sprechen konnte und der hat ganze Arbeit geleistet. Das hat wunderbar funktioniert. Kurz darauf hat mir der Mittlere eröffnet, dass er schwere Depressionen und Suizidgedanken hat. Das war die schwerste Zeit für mich. Er hat dann die Schule abgebrochen und wusste nicht, wie es weitergeht. Den habe ich dann auch an denselben Psychologen vermittelt. Das hat anderthalb Jahre gedauert, bis er wieder Mut und Kraft geschöpft hat. Da kann ich Eltern auch nochmal besser verstehen, weil er nicht geantwortet hat. Die Tür war abgeschlossen und ich wusste nicht, ob der noch lebt, wenn ich morgens zur Arbeit musste. Dann erfindet man so Sachen, dass man ihm ein Duplo vor die Tür legt. Und wenn das dann abends fehlte, wusste ich, er lebt noch. Das war für mich eine ganz, ganz harte Zeit. Da habe ich mir viel Sorgen gemacht. 

Mein größter Wunsch wäre irgendwann zu sagen, ich habe meine Erkrankung nicht weitergegeben und ich habe es geschafft, dass wir das mit dieser Linie beenden, dass meine Söhne merken, sie hat soviel dafür getan, um gesund zu werden wird. Ich finde, mit gelegentlichen Depressionen kann man umgehen, aber die Hoffnung zu verlieren, das ist bitter. Und das wird mir nicht mehr passieren.

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