"Dann tu's doch endlich"

Erfahrungsbericht einer erwachsenen Tochter über das Leben mit ihrer suizidalen Mutter

von Beate

Beates Mutter war schwer depressiv und unternahm mehrere Suizid-Versuche. Als Kind litt sie sehr unter der Angst um die Mutter bis endlich eine Therapie gefunden wurde, die der Mutter geholfen hat und die Depression besiegte. 

Meine Mutter hat es ein paar Male versucht. Manchmal hat sie auch nur gedroht. Ich weiß nicht mehr wie oft. Es waren unzählige Male und irgendwann war ich so müde, da habe ich zu ihr gesagt: “Dann tu es doch endlich ganz!” - Dann ist es endlich vorbei, dann ist es endlich vorbei mit dieser Angst, es könnte passieren. Dann wäre endlich Ruhe und alle könnten sich wieder auf sich selbst konzentrieren. Ich hatte schon die Kleidung für Ihre Beerdigung zurechtgelegt. Und als ich das getan hatte, konnte ich ihr diesen Satz: „Dann tu es doch endlich ganz!“ in meiner ganzen Wut entgegen schleudern. Danach habe ich aufgehört, in ihrem Kleiderschrank die Tablettenverstecke zu suchen, danach habe ich aufgehört nach Rasierklingen zu suchen. Und als ich so klar war, hat sie aufgehört Suizidversuche zu starten. Vorher war es oft die Hölle.

Ein paar Male träumte ich davon, dass meine Mutter sich das Leben nimmt und einmal war es dann auch richtig dramatisch. Wir hatten eine Zeitlang immer versucht, sie nicht alleine zu lassen. Irgendjemand hat immer aufgepasst, dass sie sich nichts antut. Doch dann kam eine Zeit, in der wir diese Kapazitäten einfach nicht mehr hatten. Ich kam nach einem Frühdienst im Praktikum nach Hause und ihr Fahrrad, dass immer vor unserer Haustür stand, war weg. Das war alarmierend, denn sie verließ zu diesem Zeitpunkt die Wohnung schon lange nicht mehr alleine. Drei Tage vorher hatte ich von einem erneuten Suizidversuch geträumt. Ich rief sofort meinen Vater an, da sie wirklich nicht zu Hause war, und er (mein Vater war Polizeibeamter) veranlasste eine Suche mit einem Polizeihubschrauber, denn wir hatten überhaupt keinen Ansatzpunkt, wo sie sich aufhielt. Es folgten fünf endlose Stunden der Ungewissheit. Und dann der erlösende Anruf vom allgemeinen Krankenhaus in K. Meine Mutter war eingeliefert worden. Sie hatte versucht, sich an einem verlassenen Ort die Pulsadern aufzuschneiden, aber den Versuch nicht zu Ende gebracht. Meine Mutter hatte im letzten Moment an einem Einfamilienhaus geklingelt und um Hilfe gebeten. Die Menschen dort riefen einen Rettungswagen und sie wurde in die nächste Klinik gefahren.

Psychischer Ausnahmezustand

Als wir dort eintrafen, war meine Mutter fixiert und sie befand sich weiterhin in einem psychischen Ausnahmezustand. Wir redeten mit Engelszungen auf sie ein, sich freiwillig in die Psychiatrie aufnehmen zu lassen, doch sie wollte nicht. Es blieb uns nichts anderes übrig, als eine Zwangseinweisung zu veranlassen und das hieß, Aufnahme auf einer geschlossenen Station. Für mich damals (1987) als 19-jährige junge Frau, ein Erlebnis, dass sich tief eingebrannt hat. Auf dieser geschlossenen Station sind mir Menschen begegnet, denen es einfach sehr, sehr schlecht ging. Alle waren sediert und liefen mit leeren Blicken umher. Auf der Station gibt es keine Materialien, mit denen Patienten sich verletzen könnten. Es gibt keine Vorhänge und alle Möbel sind im Boden verankert. Beim Betreten der Station gibt es für den Besuch eine Taschenkontrolle, damit nichts auf die Station gelangt, womit Menschen sich umbringen könnten. Das war alles sehr bedrückend. 

Meine Mutter war kreuzunglücklich dort eingesperrt zu sein. Zumal das schon immer ihre große Angst war, wir aber nie herausbekamen, woher diese Angst rührte. Es war zu diesem Zeitpunkt eine „Endogene Depression“ diagnostiziert. Eine Depression, die eher auf eine erbliche Vorbelastung oder eine Stoffwechselstörung hindeutete. Auf der Station versuchte meine Mutter ein weiteres Mal, ihrem Leben ein Ende zu setzen. Sie schnitt mit einem stumpfen Frühstücksmesser an sich herum. Es gelang nicht. Bevor sie den weitern Versuch unternahm, hatte sie auf einem Taschentuch ein „Testament“ verfasst. Woher sie den Kugelschreiber dafür hatte, ist mir bis heute noch ein Rätsel, denn auch Kugelschreiber waren auf der Station nicht erlaubt. Das „Taschentuch-Testament“ habe ich eine ganze Zeit aufbewahrt, als ich es wegwarf, war es eine große Befreiung. Dieser Aufenthalt auf der geschlossenen Station war nicht der erste, doch er war der dramatischste und zugleich erfolgreichste, denn im Verlauf ihres Aufenthalts dort wurde endlich eine Medikation gefunden, die geholfen hat. Neben starken Beruhigungsmitteln, bekam meine Mutter endlich Lithium, ein Botenstoff, der in ihrem Gehirn tatsächlich fehlte. Und nach ein paar Wochen, nachdem sich die Wirkung der Medikamente vollends entfaltet hatte, verbesserte sich die Verfassung meiner Mutter deutlich. Sie konnte auf eine offene Station verlegt werden und wenig später wurde sie wieder nach Hause entlassen.

Beruhigungsmittel, Psychopharmaka 

Die Beruhigungsmittel waren schon vorher im Krankenhaus ausgeschlichen worden. Das war für uns besonders wichtig, denn oftmals war sie in der Vergangenheit mit einer hohen Dosis Tavor entlassen worden, wovon sie im hohen Maße abhängig wurde und wir uns dann auch zu Hause noch mit einem Entzug des Medikaments beschäftigen mussten. Sie bekam nun Timonil, eigentlich ein Antiepileptikum, doch es half auch und hatte sie nicht abhängig gemacht.
Wir waren wieder einen Schritt weiter.

Zu Hause nahm meine Mutter dann nur noch ein Antidepressivum, um ihren Serotonin-Spiegel auf einem guten Level zu halten und eben Lithium. Das Antidepressivum konnte mit der Zeit auch ausgeschlichen werden und ihr psychischer Zustand blieb trotzdem stabil, was für ein Meilenstein. Unser Leben wurde wieder das alte:

  • Keine endlosen nächtlichen Gespräche meiner Eltern gegen die Angstzustände mehr

  • Keine Begleitung mehr beim Entzug der Tranquilizer 

  • Keine Suizidversuche mehr

  • Keine Schwere mehr im Alltag

 

Zwei Seiten 

Und wieder eine Mutter, die die Verantwortung für ihr Leben übernahm, und für uns Kinder da war und unser Leben teilte, was besonders für meinen Bruder wichtig war, der zu dieser Zeit erst 14 Jahre alt war. Meine Mutter rauschte in den folgenden Jahren immer mal wieder in depressive Episoden, doch sie waren alle nicht mehr so schlimm und konnten schneller wieder eingefangen werden. Oftmals stellten sich diese Phasen ein, weil meine Mutter der Meinung war, das Lithium, was eine lebenslange Dauermedikation wurde, absetzten zu können. Wir konnten dann die Verschlechterung ihrer psychischen Verfassung fast sekündlich beobachten. Es war noch einmal ein langer Prozess, bis sie diese lebenslange Medikation akzeptierte, doch als dies geschehen war, war es für uns alle eine unglaubliche Erleichterung, denn sie war danach bis ans Ende ihres Lebens psychisch stabil und war wieder die Frau, die mir in Sachen Lebensfreude ein großes Vorbild war. 

Meine Mutter war eine sehr fröhliche und empathische Frau mit einem wundervollen Humor und einem großen Herz. Sie war ihr Leben lang Verkäuferin in kleinen Confiserien und ihre Kunden haben sie geliebt. Da, wo sie in ihrem Freundeskreis auftauchte, war Stimmung und es wurde viel gelacht. Ja, auch diese Seite gab es und um so schlimmer waren die depressiven Episoden in ihrem Leben zu verstehen und auszuhalten. Und gar nicht zu verstehen, war diese immer wiederkehrende Todessehnsucht, wo sie doch auf der anderen Seite so lebensfroh war. Die schwierigste Zeit, an die ich mich erinnere, war die von mir eben beschrieben Zeit, doch heute mit dem Blick zurück und auch mit den Erkenntnissen aus den Erzählungen meines Vaters, gab es diese Zeiten in unserer Familie immer wieder, sie waren nur nicht so ausgeprägt und konnten ohne Krankenhausaufenthalte durchgestanden werden. Als ich zehn Jahre alt war, erinnere ich mich noch an eine Phase, in der es schon einmal etwas schwieriger war, aber so richtig begreifen, konnte ich es damals noch nicht.

Thema Suizid muss mehr besprochen werden

Was mir immer geholfen hat, war darüber zu sprechen und ich hatte das große Glück eine Freundin zu haben, die das Gleiche mit ihrer Mutter erlebt hat. Es war damals so gut mit Jemanden zu sprechen, der ähnlich fühlte wie ich. Auch ihre Mutter hatte ein paar Mal versucht, sich das Leben zu nehmen. Meine Freundin wusste genau, wie es mir ging. Ich bin überzeugt davon, dass alle Kinder, die mit psychisch erkrankten Eltern leben, so ähnlich fühlen, wie ich damals, denn ich gehe davon aus, dass psychisch erkrankte Eltern, ihre Todessehnsucht aussprechen. Und wenn es nur der Satz ist: „Ich kann nicht mehr“. Solche Sätze lösen große Ängste aus und die Kinder müssen ihren Alltag mit dieser Schwere und mit dieser immerwährenden Angst meistern. Das ist eine zu große Belastung für so kleinen Schultern. Deshalb wäre mein Appell zum Schluss: Das Thema Suizid muss mehr in die Öffentlichkeit, es muss mehr besprochen werden und es muss vor allem auch Thema in den Kindergruppen sein.

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