Will die Gesellschaft diese ungeborenen Kinder überhaupt schützen?

mit Prof. Dr. Christof Radewagen

Pränataler Kinderschutz ist eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe – er sollte frühzeitig, partizipativ und beharrlich sein und mit Ressourcen ausgestattet werden. 

A: Herr Radewagen, stellen Sie sich bitte vor.

Christof Radewagen: Ich bin seit 11 Jahren an der Hochschule Osnabrück als Professor für Handlungsmethoden und Soziale Arbeit beschäftigt und hatte vorher eine Professur im Kinder- und Jugendhilferecht an der Hochschule Hannover. Von meiner Ausbildung bin ich Sozialarbeiter. Ich habe 15 Jahre in der Kinder- und Jugendhilfe gearbeitet. Ich kenne das primäre Arbeitsfeld der Kinder- und Jugendhilfe und die Problematik des Zugangs zu Adressat*innen. Ich leite seit 2021 das Kinderschutzkompetenzzentrum an der Science to Business der Hochschule Osnabrück.

A: Unser Thema heute ist „Pränataler Kinderschutz“, also der Kinderschutz, in der Zeitspanne vor der Geburt. Wie sind Sie mit dem Thema in Berührung gekommen?

Christof Radewagen: Ich habe vor einiger Zeit mit Jurist*innen zusammengesessen und das Thema Pränataler Kinderschutz wurde von verschiedenen juristischen Disziplinen aus diskutiert. Die Strafrechtsjurist*innen haben dabei die Haltung vertreten, dass Drogenkonsum während der Schwangerschaft, zum Schutz des ungeborenen Kindes, unter Strafe gestellt werden sollte. Aus meiner sozialarbeiterischen Position habe ich angemerkt, dass sich das Problem dadurch nicht lösen wird. Das kriminalisiert ein Verhalten. Und diese Kriminalisierung führt dazu, dass die Betroffenen für Helfersysteme schlecht erreichbar sind. Weil sie sich zurückziehen und schämen, weil sie verbergen, dass sie konsumieren. In so einer Verbotslogik kommt man nicht weiter. Es geht darum Menschen zu erreichen. 

A: Lassen Sie uns die werdenden Eltern, besonders die Mütter, in den Blick nehmen. Wie sehen Sie die Zielgruppe, über die wir im pränatalen Kinderschutz reden?

Christof Radewagen: Ich sehe, dass wir sie zum Teil nicht sehen, dass wir sie nicht erkennen. Diese werdenden Eltern sind vielleicht zum ersten Mal schwanger. Wie kommen wir also mit diesen Menschen in Kontakt? Sie haben vielleicht eine Gynäkologin oder Hebamme, die einbezogen wird. Aber welche Möglichkeiten haben diese Berufsgruppen im pränatalen Kinderschutz? Als Geheimnisträgerinnen können sie das Jugendamt gem. § 4 KKG über eine Kindeswohlgefährdung informieren, aber diese Regelung gilt nur für das geborene Kind. Alternativ benötigen sie die Zustimmung der Betroffenen in die Datenübermittlung an das Jugendamt. Aber was machen wir, wenn die Betroffenen diese nicht geben wollen oder können? Und was machen wir, wenn die Geburt unmittelbar bevorsteht? Greift dann die Befugnis zur Datenübermittlung über den rechtfertigen Notstand nach §c 34 StGB? Es gibt in der Praxis häufig Unsicherheiten hinsichtlich der Kooperations- und Hilfsmöglichkeiten unterschiedlicher Hilfesysteme. Hilfreich kann hier die medizinische Kinderschutzhotline sein, die 24/7 unter 0800 19 210 000 zu erreichen ist oder aber die Beratung durch eine Kinderschutzfachkraft gem. § 8b SGB VIII.

A: Sie sprechen die strukturelle Ebene an. Wer ist im Erstkontakt? Wären das die Gynäkolog*innen, wenn Frauen die Vorsorge nutzen? 

Christof Radewagen: Es können auch die Psychiater sein. Wir wissen aus dem Fall Kevin, dass häufig die Schwangere im Mittelpunkt steht und nicht das ungeborene Leben. Da sehe ich schon auf der Helferebene, dass die Personen in Konflikt geraten können, was der Auftrag ist.

A: Das heißt, das Ungeborene muss in den Fokus gebracht und so auch das Kinderschutzthema mitgedacht werden.

Christof Radewagen: Es mitdenken. Man muss sagen, das Kind ist ja noch nicht geboren. Die Untrennbarkeit von Schwangerer und Kind macht eine Fremdplatzierung des Kindes unmöglich. Wenn es nicht eine extreme Selbst- und Selbstgefährdung ist, ist auch die psychiatrische Unterbringung so gut wie ausgeschlossen. Das ist keine langfristige Lösung. Die Frage ist auch eine ethische: Will man das eigentlich? Das Helfersystem muss durchaus bedenken, dass hier eine Person ist, die eine eingeschränkte Erziehungsfähigkeit hat, vielleicht aufgrund eines Risikofaktors keine Krankheitseinsicht zeigt, egal ob es sich um eine psychische oder Suchterkrankung handelt. Die Verhaltensweisen weisen darauf hin, dass der Schutz des Kindes nicht da ist, dass das Kind geschädigt wird, z.B. durch Alkohol. Mit der Geburt wird das hinreichend wahrscheinlich zu einer akuten Kindeswohlgefährdung führen. Wenn ich das nicht mitdenke und davon ausgehe, dass die Unterstützung erst mit der Entbindung beginnt, dann stünden Ärzt*innen oder Hebammen mit der alleinigen Verantwortung da. Was ich als Problem an der Stelle sehe ist, wenn wir nicht die Zeit bis zur Entbindung nutzen, um den Kontakt zur Familie herzustellen und um Hilfe zu werben, dann haben wir vielleicht nicht mehr die Möglichkeit, Hilfen so zu gestalten, wie man das könnte, wenn man die Hilfen rechtzeitig angebahnt hätte. Dann ist es vielleicht nicht möglich ein System zu entwickeln, wo Eltern und Kinder zusammenbleiben. 

A: Wie können wir werdende Eltern, die sich augenscheinlich schädigend in Bezug auf ihr Kind verhalten, gut erreichen, damit wir Ihnen einen Support anbieten können?

Christof Radewagen: Die Frage, die für mich vorgelagert ist: Wollen wir sie überhaupt erreichen? Wenn wir sie erreichen wollen, ist die Frage, wie kann das gelingen? Mit niederschwelligen Angeboten, mit Beratungsangeboten. Wie sieht es mit Streetwork aus, mit akzeptierender, nicht stigmatisierender Drogenarbeit? Wie will die Gesellschaft diese Menschen erreichen? Wir müssen uns im Kinderschutz schon die Frage stellen, welches Kind schützen wir? Im Wesentlichen geht es um einen präventiven Ansatz, den wir fahren müssten. Neben den niedrigschwelligen Angeboten und der Schwangerschaftskonfliktberatung müssen wir aufklären, was für Hilfsmöglichkeiten es gibt, wo Kinder auch hinkommen können, die nicht gewollt sind. Wenn jemand sagt, ich möchte dieses Kind nicht. Das heißt, dass wir diese Eltern erreichen und noch niedrigschwelliger und beharrlicher hinterherlaufen müssen. Irgendwann bekommt man Zugang und kann diesen Vater oder diese Mutter befähigen zumindest zu sagen: „Ja, ich gebe das Kind in die Obhut des Jugendamtes, damit es dem Kind gut geht.“ Dieses Hinterherlaufen, das kostet unglaublich viel Zeit und Ressourcen, aber in manchen Fällen ist das notwendig. Das ist Soziale Arbeit.

A: Sie sprechen von der Niedrigschwelligkeit der Straßensozialarbeit. Sicherlich gehört auch die Drogen- und Obdachlosenhilfe und auch die offene Kinder- und Jugendarbeit dazu. Es ist eine gesellschaftliche Frage, wie präventiv ohne Erfolgsdruck, mit genug Wo*manpower wir rausgehen und Leute (wieder) in Kontakt bringen.

Christof Radewagen: Wenn wir Kinderschutz gesellschaftlich so denken, wie ich ihn sehe, dann gäbe es viel mehr sozialräumliche Arbeit, viel mehr niedrigschwellige Angebote, Begegnungsmöglichkeiten. Die Schwangeren wissen, was sie tun, sie wollen das nicht, aber es ist eine Sucht. Wir haben festgestellt, es gibt ganz wenig Hilfsangebote für Drogen konsumierende Schwangere. Drogenkonsum ist in vielen Angeboten ein Ausschlusskriterium. An dieser Stelle frage ich mich: Will unser System diese Menschen überhaupt erreichen? Wenn wir das leisten wollen, brauchen wir Ressourcen. Wie können wir es schaffen und nicht: Wir schaffen es nicht! Da macht es sich unserer Profession zu einfach. Ich finde, dass ein Hilfesystem keine Triage organisieren darf. Es gibt Menschen, die nicht Hilfeempfänger sein können, weil es diese Angebote nicht gibt.

A: Es geht um Konzepte und es geht darum viel individualisierter vorzugehen, also wirklich zu schauen, was sind die Bedarfe und was können wir auch halten und aushalten.

Christof Radewagen: Und welche Angebote müssen wir auch vorhalten. Ich finde, dass im Helfersystem noch viel passieren könnte, was bedarfsgerechte Angebotsgestaltung angeht. Die Vernetzung ist entscheidend. Gleichzeitig ist es aber wichtig bei allen Gedanken, dass wir die Betroffenen nicht aus den Augen verlieren und nicht als entmündigte Objekte sehen, sondern dass wir den Unterstützungsprozess mit ihnen gemeinsam gestalten. Lasst uns doch ein bisschen mehr Partizipation wagen. Warum fragen wir die Betroffenen nicht und teilen ihnen unsere Ängste und Sorgen mit? Und vielleicht sehen sie das genauso und sind sogar dankbar, dass wir uns kümmern.

A: Ein Beispiel: Eine Schwangere, die durch ihr aktuelles Verhalten ihr Ungeborenes schädigt, und auch an der Lebenslage, in der sie sich befindet, so schnell nichts wird ändern können. Was ist der Weg, um herauszufinden, wie gefährdet das Ungeborene ist? Gilt das 8a-Verfahren?

Christof Radewagen: Das Kinderschutzverfahren gilt für das geborene Kind und trotzdem darf das Ungeborene nicht übersehen werden. Ich finde, es ist wichtig, dass die involvierten Fachkräfte die Risikofaktoren sehen. Dazu gehört als Helfersystem, z.B. die Vorgeschichte zu erkunden. Möglicherweise gab es schon einen Fall, wo ein Kind in Gefahr geraten ist. Dann finde ich die persönliche Situation der Erziehungsberechtigten, z.B. eine schwere psychische Erkrankung oder Alkohol- oder Drogenmissbrauch relevant, das sind Risikofaktoren. Es gibt verschiedene Risikofaktoren, sie wirken sich per se nicht auf das Kindeswohl gefährdend aus. Die mangelnde Erziehungsfähigkeit kann wiederum zu einer Gefahr für das Kind werden. Außerdem finde ich es schwierig, wenn wir in der Sozialen Arbeit die Moralpolizei spielen. Dadurch kann nur Widerstand entstehen. Ich kann nur sagen: Ich bin nicht dein Erziehungsberechtigter, aber ich gebe zu Bedenken, dass dein Kind durch diesen Drogenkonsum geschädigt wird, und das gilt es zu verhindern. Dass man das den Betroffenen deutlich macht und aufklärt, gehört meines Erachtens dazu.  Gefährdungshinweise sind für mich, wenn:

  • eine Schwangere schon vor der Geburt Verhaltensweisen zeigt, die das ungeborene Leben nicht schützen 
  • sie keine verlässliche Vertrauensperson ist
  • bestimmte Risikofaktoren daraufhin deuten, dass auch nach der Entbindung Erziehungsfähigkeit nicht ausreichend vorhanden ist

Ich muss außerdem fragen: Warum gibt es so ein Verhalten? Gibt es keine gute Beziehung zu dem Kind wegen Gewalterfahrungen, Missbrauch etc.? Oder vielleicht freut sich die Mutter auf das Kind und konnte wegen des Suchtmittelkonsums bestimmte Fähigkeiten noch nicht entfalten. Wir müssen aufhören zu stigmatisieren, sondern das Problem beschreiben und gucken, woran es eigentlich liegt. Liegt es daran, dass sie das Kind nicht liebt oder daran, dass diese Mutter bestimmte Erziehungskompetenzen nicht hat? Wenn wir schon im Vorfeld erreichen, dass diese Personen Hilfe zulassen – ich gehe nicht davon aus, dass sie uns sofort die Tür öffnen – dann können wir aufsuchend arbeiten und Eltern befähigen diese Kompetenzen wieder aufzubauen. Wenn wir es im Vorfeld schaffen, dass diese betroffenen Personen Hilfe zulassen, dann haben wir einen guten Weg. Der Wunsch von mir ist, dass die Sozialarbeit strukturierter und koordinierter vorgeht. Dass sie nicht sofort ins Handeln kommt, sondern erst mal eine Situationsanalyse macht.

A: Wen sehen Sie da als Hauptakteur?

Christof Radewagen: Die Kinder- und Jugendhilfe.

A: Das Jugendamt?

Christof Radewagen: Die öffentlichen und die freien Träger sind für mich in der Hauptverantwortung. Gleichzeitig bedeutet es, dass die Ressourcen dafür zur Verfügung gestellt werden müssen. Wenn wir uns das im Grundgesetz angucken, dort gibt es den Artikel 6: Das Recht der Eltern ihre Kinder zu pflegen und zu erziehen. Umgekehrt heißt das auch, der Staat hat alles daran zu tun, dass Eltern dem nachkommen können. Da muss der Staat auch diesen Institutionen die Ressourcen zur Verfügung stellen.

A: Wir sprechen über Ressourcen und Know-How. Was müssen Fachkräfte vielleicht noch mehr wissen und mehr tun? Aus meiner Erfahrung mit dem Thema Kinder psychisch kranker Eltern erlebe ich einen höheren Bedarf sich mit anderen Arbeitsfeldern zu beschäftigen. Informationen zu anderen Angeboten, eine erweiterte Familienperspektive – ein systemischer und systematischer, also ein multiperspektivischer Blick auf die Familiensituation.

Christof Radewagen: Sie sprechen mir aus dem Herzen. Auf der einen Seite gibt es Träger, die sich spezialisiert haben auf bestimmte Problemfelder, wie Eltern mit psychischen Erkrankungen oder mit Drogenproblemen. Das sage ich immer: Was soll denn das? Aus einer Datenschutzperspektive (Stichwort: informationelles Selbstbestimmungsrecht) ist das äußerst kritisch zu sehen. Wenn der Träger A sich auf das Thema Drogenkonsum spezialisiert hat, ist das ein Alleinstellungsmerkmal für ihn. Diese Mutter bekommt Unterstützung, sie ist schwanger und hat schon ein Kind im Kindergarten. Im Hilfeplangespräch ist verabredet, dass der Träger regelmäßig Kontakt zum Kindergarten aufnimmt und klärt, wo er die Mutter noch weiter unterstützten kann. Jetzt kommt der Spezial-Träger in den Kindergarten. In diesem Augenblick ist allen klar: Die Mutter konsumiert Drogen. Da kommt es also zu einer weiteren Stigmatisierung durch Spezialisierung der Träger. Das Gleiche auch bei Trägern, die sich nur um psychisch kranke Eltern kümmern. Durch eine Spezialisierung der Träger erfolgt eine Stigmatisierung der Betroffenen. Ich finde, dass das Helfersystem nicht alles kennen muss, aber ein breites Wissensspektrum haben sollte. Da sind vor allem die Hochschulen gefragt, die die Fachkräfte von morgen generalistischer ausbilden sollten. Und wer sich in der Kinder- und Jugendhilfe aufhält, der muss sich auch in bestimmten Krankheitsbildern auskennen.

A: Das heißt auch die eigene Haltung und die berufsbiografische Mobilität zu erweitern.

Christof Radewagen: Ja, und zu sagen, ich will mich weiterentwickeln, ich will neugierig sein, ich will hinterfragen. Das ist auch ein Zeichen von Fachlichkeit, dass man Fragen stellen und Fehler benennen darf und dass dies als Ausdruck von tiefer Loyalität zum Anliegen verstanden wird und nicht als Majestätsbeleidigung. Wir sollten auch in den Teams lernen, miteinander kritisch umzugehen und unsere Haltung zu hinterfragen. Es geht darum, gemeinsam als Fachkräfte eine Situationserfassung zu versuchen, verschiedene Expertisen hinzuziehen, uns vernetzen. Dafür müssen wir die Betroffenen auch um Zustimmung bitten. Das hat in meinem Verständnis ganz viel mit Haltung zu tun.

A: Ich möchte nochmal auf das Stichwort Partizipation kommen. Was haben Sie für Ideen? Wie kreativ müssen wir sein in der Partizipation in Bezug auf die Schwangere und den werdenden Vater, aber auch in Bezug auf das Ungeborene. Was haben wir für Optionen?

Christof Radewagen: Zunächst einmal ist wichtig, dass den Fachkräften klar ist, im Fokus steht das Ungeborene. Wenn wir über Kinderschutz nachdenken, muss ich alle Aspekte in Bezug zu der Frage stellen: Was bedeutet das für das ungeborene Kind? Partizipation im pränatalen Kinderschutz bedeutet für mich nicht das höchste Verständnis für Betroffene zu haben und ihnen in allem Recht zu geben, sondern immer mitzudenken, was heißt das für das Kind? Im Kinderschutz sind wir die Partei, die das Wohl des Kindes sicherstellen muss. Gleichzeitig finde ich es wichtig, dass Prozesse transparent sind, dass man eine klare Haltung hat, dass man möglichst immer die Zustimmung der Betroffenen erbittet, für das, was man tun möchte, auch wenn es dafür eine Rechtsgrundlage wie den rechtfertigenden Notstand gibt: Immer im Wissen der Eltern, aber ggf. auch gegen ihren Willen, weil wir das Kind schützen müssen.
Bei schwer konsumierenden oder psychisch Erkrankten bietet es sich an im Tandem-Modell zu arbeiten, dass wir jemanden haben, der für die Betroffenen da ist und parteilich sein kann und auf der anderen Seite muss jemand den Fokus auf das Kind haben. Das bedeutet auch wieder Ressourcen. Das ist dann eben auch kostenintensiver. Gleichzeitig, wie im Fall Kevin in Bremen, wenn wir uns nicht trauen, den Eltern entgegenzutreten, dann können Kinder sterben.

A: Was haben wir für Optionen bei der Parteilichkeit für das Ungeborene?

Christof Radewagen: Gute Frage, wie schaffen wir im Helfersystem die Parteilichkeit für das Ungeborene einzunehmen? Grundsätzlich: Wir haben keine Schutzmöglichkeit. Wenn ich mir das Spannungsfeld Soziale Arbeit vorstelle, da ist auf der einen Seite das ungeborene Leben, das zu Schaden kommt, auf der anderen Seite z.B. die Alkohol konsumierende Mutter, die sagt zwar, ich will das gar nicht mehr. Zwischen diesen Ebenen gibt es Konflikte. Nun geht es mir darum, dass das Helfersystem in der Lage ist, die Betroffenen in ihren eigenen Widersprüchen zu verwickeln und nicht locker zu lassen. Meiner Erfahrung nach wird dann der Gedanke an eine Lösung stärker.
Wenn ich jemanden habe, der psychisch krank ist oder Drogen konsumiert, dann kann ich auch als Sozialarbeiter nicht erwarten, dass das von heute auf morgen anders wird. Wir müssen akzeptieren, dass ein Weg länger ist, vielleicht bis zur Entbindung eines Kindes. Es kann auch sein, dass dieses Kind geschädigt auf die Welt kommt. Aber welche Optionen habe ich denn alternativ? Ich muss die Ressourcen haben, diesen Weg mitzugehen und um etwas zu erreichen. Wir müssen planvoll und zielgerichtet vorgehen. Das wird am Ende für den Schutz des Kindes sein, nur wann wir diesen Schutz ermöglichen können, das ist unterschiedlich.

A: Das heißt, als Fachkraft muss ich aushalten können, dass die eigene Selbstwirksamkeit nicht so schnell hergestellt wird und ich stresstolerant und geduldig sein muss.

Christof Radewagen: Genau. Und dass ich immer einen Plan habe: Ich gehe so vor, um das zu erreichen. Das Verzweifeln entsteht, wenn die Fachkräfte nicht wissen, was sie als nächstes tun, wenn sie keinen Plan B haben. Ich muss immer einen Schritt voraus denken, ohne die Adressaten zu übergehen. Dafür brauche ich den kollegialen Austausch.

A: Sie haben betont, dass die Jugendhilfe der Hauptakteur in diesem Feld ist. Aber wir haben auch die Medizin, die Suchthilfe, die Eingliederungshilfe, Schwangerschaftskonfliktberatung, die Frühe Hilfen und andere Institutionen.

Christof Radewagen: Natürlich sehe ich die auch in der Verantwortung. Ich meine, der Kinderschutz ist eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe. Wir brauchen sensible Netzwerkpartner, wir brauchen gemeinsame Verantwortung, wir müssen uns für dieses Thema gegenseitig sensibilisieren. Es muss verbindliche Netzwerkstrukturen geben, wo man zu bestimmten Themen verbindlich zusammenkommt. Es müsste in jedem Stadtbezirk eine Arbeitsgruppe geben, bestehend aus Gericht, Jugendhilfe, Medizin, Streetwork, Drogenhilfe etc., die zusammenkommt und überlegt, wie sie in welchem Fall agieren kann. Wir brauchen verbindliche Netzwerkstrukturen. Die gibt es aber zu dieser Frage nicht oder nur selten, denn sie kosten Ressourcen.

Christof Radewagen

Professor für Handlungsmethoden und Soziale Arbeit an der Hochschule Osnabrück

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