„Wenn wir in den ersten drei Lebensjahren nichts tun, wird es ganz teuer für die Gesellschaft“
Wie kann die transgenerationale Weitergabe psychischer Erkrankungen auf Kinder unterbrochen werden?
Interview mit Prof. Dr. Michael Hipp
A: Was versteht man überhaupt unter transgenerationaler Weitergabe von psychischen Erkrankungen?
Hipp: Also die transgenerationale Weitergabe von psychischen Erkrankungen, ob Psychosen, Traumata oder Bindungsstörungen, das ist ein sehr komplexes Phänomen. Das hat eine psychische, eine biologische und eine soziale Dimension. Eine biologische Dimension sehen wir z.B. bei den Psychosen. Da haben wir eine genetische Disposition. Das heißt, bei einer Schizophrenie oder bipolaren Störungen gibt es immer ein Zusammenspiel zwischen genetischen und äußeren Umwelt- und Stressfaktoren. Bei einem an Schizophrenie erkrankten Elternteil ist die Wahrscheinlichkeit, dass die Kinder das auch bekommen um das Zehn- bis Fünfzehnfache erhöht, sind beide Eltern erkrankt, sogar um das Dreißig- bis Fünfunddreissigfache. Hier sehen wir, wie stark die genetische Belastung ist. Bei Bindungsstörungen und Traumata sehen wir, dass durch die Stresserfahrung der Eltern zwei Genorte verändert werden. Wir nennen das Epigenetik. Und zwar sind das die Genorte für die Stressregulation, einmal das Stresshormon Cortisol und das Bindungshormon Oxytocin. Das heißt schon die Neugeborenen haben eine Stressbelastung, sind irritierbarer, stressanfälliger, obwohl sie selbst kein Trauma erlitten haben. Das ist die biologische Komponente. Das andere sind die psychosozialen Einflüsse, beispielsweise in der wichtigsten, bindungssensible Phase zwischen Schwangerschaft und dem dritten Lebensjahr. Da kommt es auf die Fürsorgequalität der Eltern an, wie sich die Kinder entwickeln. Die Eltern sind quasi die Architekten der Gehirne ihrer Kinder.
Die Eltern sind quasi die Architekten der Gehirne ihrer Kinder
A: Was heißt das ganz konkret?
Hipp: Normalerweise sind Mutter und Kind bei der Geburt schon sehr gut vorbereitet auf die gegenseitige Interaktion, die Wehen werden bei einer regulären Geburt durch Oxytocin ausgelöst. Das heißt, wenn das Kind geboren wird, haben Mutter und Kind einen hohen Oxytocin-Spiegel. Wenn das Kind auf den Bauch der Mutter gelegt und gestillt wird, erhöht sich der Oxytocin-Spiegel nochmal. Das Oxytocin ist so wichtig, weil es die Wahrnehmung der Mutter für den Säuglings verbessert. Es ist so, dass die Mütter aus dem Tiefschlaf aufwachen, wenn die Babys sich nur ein bisschen regen. Bei den Vätern ist das häufig nicht so ausgeprägt. Die Mütter wissen oft intuitiv, was die Kinder benötigen. Sie sind feinfühlig und reagieren zeitnah auf die Bindungssignale der Kinder. Es kommt darauf an, dass die Eltern zeitnah auf die Signale reagieren. Wenn das gegeben ist, kann das Kind seine Energie in die eigene Entwicklung investieren und sich gut entwickeln.
A: Was passiert bei der Transgenerationalen Weitergabe?
Bei der Transgenerationalen Weitergabe haben wir häufig das Problem, dass die Eltern in ihrem Fürsorgesystem deaktiviert oder beeinträchtigt sind, auch aufgrund genetischer Vorgaben, wie bei der Psychose oder manisch-depressiven Erkrankung oder sie haben in ihrer eigenen Vorgeschichte Traumata erlitten. Das hat zur Folge, dass die Bindungssignale der Kinder die Eltern an ihre eigene schmerzhafte Bindungsgeschichte erinnern. Das führt dazu, dass Mütter und Väter auf Distanz gehen zum Kind, dass sie die Nähe vermeiden, dass sie das Kind gar nicht verstehen in seiner Bedürftigkeit. Das heißt, es wird wenig Blick-, Haut- und Sprachkontakt gesucht. Es dauert immer sehr lang bis die Eltern reagieren. Wir wissen aus den Mutter-Kind-Einrichtungen, dass die Mütter oft nachts geweckt werden müssen, wenn die Kinder weinen. Das heißt, diese Kinder werden nachts nicht versorgt. Sie sind dann unter dem Einfluss des Stresshormons Cortisol, einem Nervenzellgift, was die Verschaltung gewisser Strukturen im Gehirn negativ beeinflussen kann. In diesem Fall unterstimulieren die Eltern ihr Kind.
Stress statt Trost
Es gibt aber auch die Überstimulation, das heißt, die Kinder weinen und zeigen Bindungssignale wie Angst, Trostbedürfnis, Ärger oder Hunger. Dadurch werden die Eltern getriggert, also an ihr eigenes Trauma erinnert und reagieren nicht mit Beruhigung, Tröstung, Nährung und Schutz, wie es normal wäre, sondern auch mit Angst, Trostbedürfnis und Ärger. Das heißt, das Stresssystem des Kindes trifft auf das Stresssystem der Eltern. Die Kinder kriegen jetzt also nicht das Oxytocin, sondern ebenfalls Cortisol. Die Kinder werden noch stärker erregt. Das sind dann die Kinder, die als Schreibabys hervortreten, die übererregbar sind. Die unterstimulierten Babys sind häufig die apathischen, die nach Außen hin pflegeleichten Kinder. Aber beide Babys werden durch die gestörte Interaktion und Fürsorge unterversorgt.
A: Dann ist diese Transgenerationale Weitergabe eine Weitergabe von einer Mangelerscheinung der Eltern, die an die Kinder weitergegeben werden?
Hipp: Ganz genau. Das ist natürlich alles unbewusst. Da ist eine Blockade, eine Hemmung, nicht reagieren zu können oder ein Erregungszustand. Ich bin hilflos, ängstlich, ärgerlich, ich kann meine Impulse nicht steuern. Das kann soweit gehen, dass es zu gewalttätigen Übergriffen gegenüber kleinen Kindern kommt. Es gibt ja z.B. das Schütteltrauma, wenn Eltern ihre Kinder nicht beruhigen können und sie dann schütteln, später rutsch dann die Hand aus oder ähnliches. Weil die Eltern in ihre Traumawelt fallen und sie dann keinerlei Impulskontrolle haben und ihre Abwehrsystem gegen die Kinder mobilisieren. Das ist eigentlich ja absurd. Warum muss ich mich als Elternteil gegen mein Kleinkind verteidigen? Subjektiv, weil sie durch das Schreien des Kindes in ihre Kleinkindzeit zurück katapultiert werden, selbst wieder zum Kleinkind werden und ihrer Elternfunktion nicht gerecht werden können.
A: Es ist den Eltern nicht bewusst, was sie da tun?
Hipp: Nein, gar nicht.
A: Wie kann man denn als Eltern verhindern, dass man Dinge ungewollt weitergibt, die negativ waren? Die Erziehungsmethoden waren ja früher anders. Man ließ Babys ja auch mal schreien. Muss man sich das erst einmal vergegenwärtigen, dass man so etwas nicht auch macht?
Hipp: Ja, denn man merkt es nicht, man glaubt, es ist normal. Gerade bei Eltern, die eine Borderlinestörung haben, erleben wir häufig, dass sie ihre Kinder als Erwachsene anreden. Die sagen dann Sätze wie: „Die Einjährige tritt mich beim Wickeln mit Absicht“ oder „Der Zweijährige macht das doch extra.“ Die fühlen sich als Erwachsene bedroht und schikaniert und müssen sich gegen die Kinder verteidigen. Sie aktivieren ihr Verteidigungssystem statt ihres Fürsorge- und Schutzsystems. Das ist für die Kinder eine ganz gefährliche Situation. Sie werden zum Sündenbock. Wenn man diese Weitergabe verhindern will, sollte sie als allererstes eine Problem- oder Krankheitseinsicht haben.
A: Das haben diese Eltern oft nicht?
Hipp: Sie finden es absurd, wenn man ihr Erziehungsverhalten in Zweifel zieht. Sie können sich nicht selbst reflektieren, sich empathisch einfühlen oder die Perspektive wechseln. Wenn von außen Hilfe angeboten wird, verstehen sie das oft nicht. Wenn jemand Schwierigkeiten mit seinen Kindern hat, gibt er äußeren Faktoren die Schuld. Wenn es Schwierigkeiten in der Kita oder in der Schule gibt, ist die Kita oder die Schule Schuld. Wenn es Schwierigkeiten mit den Kindern Zuhause gibt, dann sind die Kinder oder der Partner Schuld. Diese Menschen sehen nicht ihren eigenen Anteil daran. Sie geben uns, dem Helfersystem auch keinen Veränderungsauftrag. Und wenn ein Mensch sich nicht ändern will, dann wird er sich auch nicht verändern. Die Eltern haben einen Entlastungsauftrag an die Helfer: Versorge mich und repariere die Kinder, damit sie für mich besser handhabbar sind. Dann sagen wir ihnen: Hilfe zur Selbsthilfe: Wir beraten Sie, wir klären Sie auf, wir trainieren Sie etc., damit Sie besser mit dem Kind umgehen können. Da aber entsteht eine Kommunikationsbarriere, die eine echte Zusammenarbeit im Sinne des Kindeswohls sehr stark belastet.
Wiederholung über viele Generationen hinweg
A: Was können wir mit diesen Eltern tun bzw. ihnen anbieten?
Hipp: Wir sollten die Eltern darauf aufmerksam machen, dass das, was sie machen eine ewige Wiederholung über viele Generationen ist. Wenn sie dazu bereit sind, kann man das Trauma auch bearbeiten. Ein Trauma muss eine sprachliche Gestalt, ein Narrativ bekommen. Das Trauma ist sprachlos im Amygdala (Mandelkern) gespeichert, es ist bildhaft, affektiv, es hat keine Sprache. Wir müssen es erst in Sprache übersetzten. Das Zweite ist, können die Eltern die Trauer zulassen über den Verlust von Liebe, Sicherheit und Integrität, die sie erfahren haben? Es sehr traurig, was sie erlebt haben. Das muss man erst einmal akzeptieren, auch dass man die ersten Lebensjahre mit den Eltern nicht mehr nachholen kann, die sind verloren. Das tut weh. Das muss betrauert werden. Wenn die Eltern eine Veränderungsmotivation haben, kann auch eine Therapie durchgeführt werden. Dazu ist es auch nötig, dass die Scham- und Schuldgefühle bearbeitet werden. Wenn wir an die Eltern herantreten, sie sollten ihre Kindererziehung verändern, dann hören die sofort: Aha, ich bin eine schlechte Mutter oder schlechter Vater. Das ist für sie kaum zu ertragen, darum wir das wieder verleugnet.
A: Welche Rolle spielen Familientraditionen?
Hipp: Wir beobachten immer wieder, dass es zu einer Reinszenierung der Familientradition kommt. Zum Beispiel: Eine Frau, die von ihrem Vater misshandelt worden ist, hat sehr häufig die Tendenz wieder einen Mann zu heiraten, der sie wieder misshandelt. Oder ein Mann, der von seinem Vater misshandelt worden ist, hat die Tendenz sich eine Frau zu suchen, die er zum Opfer machen kann. Diese Täter-Opfer-Reinszenierungen werden immer wieder aufgeführt. Dieses Drehbuch wird immer wiederholt. Manchmal mit wechselnden Statisten. Die Kinder sehen das dann als Modell und es wird in die nächste Generation übertragen. Das sind die Punkte, die wichtig sind, um diesen Teufelskreis zu durchbrechen.
Den Teufelskreis durchbrechen
A: Was muss geschehen, um diesen Teufelskreis zu durchbrechen? Welche Angebote kann man Betroffenen machen?
Hipp: Alles geht nur über den direkten Kontakt. Broschüren helfen nicht. Das Schamgefühl blockiert alles. Das Schamgefühl sagt: Mit mir stimmt was nicht, ich bin nicht liebenswert. Kinder die geschlagen oder missbraucht werden glauben, dass sie Schuld sind und schämen sich. Wir haben da eine Täter-Opfer-Umkehrung. Die Täter sagen ja: Ich schlage dich, weil Du es verdient hast. Ich missbrauche dich, weil Du mich verführt hast. So schrecklich das auch ist, diese Kinder glauben das auch häufig. Darüber zu sprechen ist blockiert wegen der Schambarriere. Es ist so, dass Kinder immer ihre Eltern lieben, auch ihre misshandelnden Eltern. Sie sind immer loyal zu ihnen. Das Familiengeheimnis muss gewahrt werden.
A: Ich sehe schon, es ist ein sehr komplexes Thema. Den Teufelskreis zu durchbrechen ist sehr schwierig. Aber was könnten sie Pädagogen raten, wenn sie sehen, dass Kinder psychisch kranke Eltern haben?
Hipp: Wichtig ist, dass das gesamte Hilfe-System schon sehr früh reagiert. Das heißt, schon in der Geburtsklinik kann man das Wesentliche sehen. Schon in den ersten Tagen. Ich sehe, die Frau will nicht stillen. Stillen ist ein Kontrollverlust. Bei sexuell missbrauchten Frauen ist die Brust ein Sexualorgan, an das niemand ran soll. Dann sieht man, wie die Frauen die Kinder wickeln. Da sehen sie manchmal, dass die Frauen rausgehen und die Kinder alleine lassen. Dass die Bedürftigkeit der Eltern Priorität hat vor der Bedürftigkeit der Kinder, kann man sofort sehen, aber auch ihre absolute Hilfslosigkeit und Ängstlichkeit. Wichtig ist, dass das ernst genommen wird und nicht gesagt wird, das wird sich schon geben. Sehr früh sollten auch die Hebammen und Kinderkrankenschwestern ausgebildet werden, die das beobachten können. Das sind die Kontaktpersonen, die eine Vertrauensbasis haben, die können vielleicht die Überleitung in die Hilfen schaffen.
Das Zweite: Die Methoden richtig wählen. Wir sind ja sehr kopflastig als Gesellschaft. Wir wollen alles rational über Sprache kommunizieren. Das klappt hier sehr schlecht, denn es sind unbewusste Prozesse. Das rationale Gehirn ist schlecht mit dem emotionalen Gehirn verbunden. Non-Verbale Verfahren sind gut, das beste Beispiel ist Babymassage. Ich spüre mein Kind, es ist nicht gefährlich. Oder videogestützte Verfahren wie Marte Meo, Steep etc. Seeing is believing – was ich sehe, das glaube ich. Psychisch kranke Menschen glauben, dass sie nur Defizite haben, sie haben quasi eine Unwirksamkeitserwartung. Lernen an sich selbst, anhand von Bildern ist wirksamer als Lernen am Modell. Das ist ein anderes auf die Eltern zugehen, dass sehr ressourcenorientiert ist. Das ist eine Grundhaltung. Sie wissen ja Haltung ist mein Lieblingsbegriff: Halt haben, Halt sagen, Halt geben. Das heißt, dass ich immer aus dem Begriff der Fürsorglichkeit agieren muss. Dass ich nicht streng verurteile, strafend, sondern wie eine gute Elternperson beruhigend, tröstend, schützend, immer wieder sage: Ich bin an ihrer Seite, ich sehe ihre Kompetenzen. Wir knüpfen immer daran an. Sobald wir sie verurteilen, brechen diese Menschen den Kontakt ab. Das ist ein ganz großes Problem, was Überforderung angeht. Wenn wir ein zu schnelles Tempo der Entwicklung anschlagen, kommen sie nicht mit. Wir müssen langsam und kleinschrittig vorgehen.
Nun komme ich zu einem Dilemma, auf dass ich keine Antwort habe: Die Entwicklung von psychisch kranken Menschen, auch wenn wir alles optimal machen, ist langsamer als das, was die Kinder benötigen. Säuglinge entwickeln sich ja stürmisch. Sie brauchen schon im ersten Lebensjahr eine funktionierende Fürsorge. Wenn wir nun die Mutter mit einer Therapie in zwei, drei Jahren dahinbringen, dass sie sich ausreichend um ihr Kind kümmern kann, dann hat sich das Zeitfenster bei dem Kind schon geschlossen.
Erzieher*- und Lehrer* innen haben eine große Verantwortung
A: Ist es möglich, dass andere Personen die Aufgaben der Mutter übernehmen?
Hipp: Wenn es einen gesunden Elternteil oder Großeltern, Tante, Onkel etc. gibt, ja. Das Problem ist, dass wir in solchen gestörten Bindungssystemen kaum jemand haben, der tatsächlich eine gesunde Fürsorge anbieten kann. Häufig sind in diesem Familiensystem alle Mitglieder bindungsbelastet. Wenn die Mutter schwer traumatisiert ist, ist es sehr unwahrscheinlich, dass ihre Schwester gesund ist. Auch die Partner sind entsprechend passend und bringen auch ihr Trauma in die Familie mit ein. Ein Kind braucht aber mindestens eine Bindungsperson.
A: Die sollte dann aber auch funktionieren.
Hipp: An dieser Bindungsperson kann sich das Kind orientieren und eine gesunde Entwicklung nehmen. Wenn es gar keine gibt, wird es schwierig.
Wenn wir jetzt mal auf die Schulen und die Kitas blicken: Die Kitas werden immer wichtiger, weil die Kinder immer früher in die Kita gehen, in der bindungssensiblen Zeit. Da haben wir eine große Verantwortung der Erzieher*innen, dass die genau das machen, was ich gesagt habe. In der Kita kann man einiges kompensieren, kann man den Kindern Geborgenheit, Sicherheit und Selbstwirksamkeitserfahrungen geben. Wenn wir eine Gruppe haben, die viel zu groß ist, ist das aber wieder Stress für die Kinder. Dann gehen die Kinder gestresst von ihrer Familie in die Kita und erleben dort zusätzlichen Stress. Wenn nur fünf Kinder in der Gruppe sind und die Erzieherin sehr einfühlsam ist, dann ist das alles machbar. Es muss aber immer die gleiche Person sein. Bei häufigem Wechsel funktioniert das auch nicht.
A: Wie ist das in der Schule für diese Kinder?
Hipp: Schule ist eine ganz schwierige Konstellation für diese Kinder. Diese Kinder haben oft den Meilenstein in der Entwicklung von drei auf vier Jahre nicht machen können. Sie können sich im Vergleich zu Gleichaltrigen, die sicher gebunden sind, sich nicht reflektieren, sie können die Perspektive nicht wechseln, sie können sich nicht gut abgrenzen zu anderen Menschen. Sie sind noch sehr bedürftig und können ihre Impulse nicht steuern. Wenn die in die Schule kommen in einem Entwicklungsstadium von Dreijährigen, dann passen sie nicht in die Schule, der Kontext passt nicht zum Kind. Aber die Lehrpersonen sind das nicht gewöhnt, die sagen, dass Kind ist sechs Jahre alt, es muss das können.
A: Das heißt, die sind noch gar nicht schulreif?
Hipp: Ja. Eine Lehrperson sagte mal zu mir: „Ich muss doch alle Kinder gleich behandeln!“ Ich sagte ihr: „Nein, Sie müssen die Kinder entwicklungsangepasst behandeln, gemäß ihrem Entwicklungsstand.“ Es sind immer mehr Kinder darunter, die in ihrem Entwicklungsstand erst drei Jahre alt sind. Das heißt, dass diese Kinder in der Schule unter großen Stress gesetzt werden, vor allem, wenn die Lehrpersonen das nicht verstehen. Dann stört das Kind, wenn es außerhalb seines Stresstoleranzfensters ist. Was macht die Lehrperson dann oft? Sie straft das Kind. Strafe setzte aber voraus, bewusst etwas Böses gemacht zu haben, das hat das Kind aber gar nicht. Es stört, nicht weil es den Unterricht sabotieren möchte, sondern es kann einfach nicht mehr. Wenn die Lehrperson mit Diziplinarmaßnahmen reagiert, macht es dem Kind noch mehr Stress. Das bedeutet, das Kind wird noch auffälliger. Wir haben Eskalationsschleifen.
Den Kindern Sicherheit vermitteln
A: Was sollte man denn mit den Kindern stattdessen machen, was würde ihnen helfen?
Hipp: In der Schule ist es üblich, die Kinder über Regeln kontaktsparend fernzusteuern. Es gibt Regeln und man erwartet, dass Kinder ab sechs Jahren sich daran halten können, was normalerweise auch schon so ist. So können Kinder, die sicher gebunden sind, ihr Explorationssystem anschalten. Das Lernsystem ist davon abhängig, ob Kinder sich sicher fühlen. Wenn sie aber in Angst und Stress sind, ist das Explorationssystem ausgeschaltet, das heißt, sie können gar nicht aufmerksam sein und sich auf Unterrichtsinhalte konzentrieren. Die Lehrperson kann die beste Didaktik präsentieren, das Kind kann sie gar nicht aufnehmen. Das heißt, das Erste, was wir machen müssen ist, erstmal Check-in-Zeiten einzurichten, in denen die Kinder ankommen können. Die erste große Leistung ist, es überhaupt in die Schule geschafft zu haben. Dann kommen Rituale, alles muss immer das Gleiche sein. Das gibt den Kindern Sicherheit. An manchen Schulen gibt man den Kindern Frühstück, weil die Hälfte der Kinder hungrig ist und hungrige Kinder sowieso nicht aufpassen können. Fürsorge heißt auch Nährung. Ein ganz großes Problem ist ja, dass psychisch kranke Eltern nicht aus dem Bett kommen und morgens den Kindern auch kein Frühstück machen. Das Zweite ist: Die Kinder durch Kontakt zu regulieren, nicht durch Regeln. Wenn eine Regel angewendet werden soll, dann direkt zum Kind gehen und es darauf ansprechen.
A: Aber das können doch die Lehrer gar nicht immer leisten zu jedem Kind einzeln zu gehen.
Hipp: Dann haben wir eben das: Das Kind hält sich nicht an die Regel, also ist es böse. – „Muss ich dir denn alles hundert Mal sagen?“ Die Antwort ist: Ja. Traumatisierten Kindern muss man alles hundertmal sagen. Das muss man den Lehrpersonen klar machen. Bin ich genervt von dem Kind, weil es auf mein eigenes Bindungssystem trifft? Bin ich selbst dysreguliert oder bin ich in meinem Fürsorgesystem, weil ich weiß, dass das Kind schlimme Bedingungen Zuhause hat und ich quasi ein Ersatzelternteil bin. Das muss ich auch annehmen. Nicht, ich bin doch kein Sozialarbeiter. Doch, Sie sind auch eine Bindungsfigur, Sie müssen auch mit den Inklusionskindern in Kontakt kommen. Wenn Sie nicht in Kontakt kommen, sind sie exkludierend. Dann ist das eine Fake-Inklusion. Die Kinder werden dann entweder suspendiert oder sie schwänzen selbst die Schule. Sie fühlen sich gemobbt. Mobbing ist das Lieblingswort der Traumatisierten. Zusammengefasst: Die Probleme, die die Kinder in den Familien haben, werden in den Institutionen oft nicht kompensiert, sondern verstärkt. Um den Kindern zu helfen, müssen wir verschiedene Bausteine zusammenlegen. Das kann Sport sein, um körperliche und soziale Erfahrungen zu vermitteln oder Musik, denn Rhythmisierung hat eine beruhigende Wirkung auf das Gehirn. Es gibt verschiedene Möglichkeiten Selbstwirksamkeit zu vermitteln.
Die ersten drei Lebensjahre sind entscheidend
A: Um die transgenerationale Weitergabe zu unterbrechen, muss also nicht nur bei den Eltern angesetzt werden, sondern auch in den Schulen und Kitas und anderen Institutionen?
Hipp: Absolut ja.
A: Und das muss ganz früh passieren, schon nach der Geburt?
Hipp: Ja, und zu sagen, das ist alles zu teuer, ist eine Milchmädchenrechnung. Was wir in den ersten drei Lebensjahren nicht tun, wird ganz teuer für die Gesellschaft. Die meisten dieser Kinder werden dann nie arbeiten als Erwachsene. Die meisten dieser erkrankten Eltern sind im Sozialsystem und werden als faul denunziert. Da sind wir bei unserer Leistungsgesellschaft: Druck, Stress und keine Empathie. Die Politik will gerade jetzt weniger Verständnis für diese Menschen. Sie werden sehen, es wird noch teurer werden. Das Problem jeder psychischen Erkrankung ist eine geringe Stress- und Frustrationstoleranz. Wenn wir in den ersten drei Lebensjahren versäumen die Kinder zu versorgen, haben wir Menschen mit einer geringen Stresstoleranz. Das wird das ganze Leben dieser Kinder bestimmen und die werden auch wenig zum Bruttosozialprodukt beitragen. Das Argument, wir haben in den ersten Lebensjahren kein Geld für Kinder, ist vollkommen absurd.

Prof. Dr. Michael Hipp
Arzt für Neurologie, Psychiatrie und Psychotherapie, Dozent u.a. an der Fachhochschule Münster und bei freien Trägern zum Thema Kinder psychisch erkrankte Eltern in verschiedenen Kontexten.
Internet: dr-michael-hipp.online