„FASD ist eine Volkskrankheit, von der das Volk nicht weiß, dass es sie hat“
Alkohol in der Schwangerschaft schädigt die Kinder ein Leben lang
Interview mit Kathleen Kunath
A: Können Sie sich bitte einmal vorstellen?
Kathleen Kunath: Mein Name ist Kathleen Kuhnat. Ich bin jetzt seit 19 Jahren als Sozialpädagogin im evangelischen Verein Sonnenhof tätig. Ich habe angefangen in der Kinder- und Jugendhilfe und bin ziemlich schnell in den erwachsenen Bereich hineingewachsen, weil wir festgestellt haben, dass viele Kinder und Jugendliche mit 18 Jahren noch mehr Unterstützung bräuchten. Wir haben deshalb 2007 die erste Wohngruppe für junge Menschen mit der FASD gegründet. In dem Zusammenhang haben wir natürlich auch mit jungen Frauen zu tun gehabt, die Mutter geworden sind und haben dann festgestellt, welche Herausforderungen sie haben, wo wir als Hilfesystem an die Grenzen kommen und was für riesige Bedarfslücken es gibt.
A: Es gibt viele FASD-Betroffene, die auch Eltern werden. Welche Herausforderungen ergeben sich für die Eltern und die Kinder daraus?
Kathleen Kunath: Wir haben es hier vor allem mit einer transgenerationalen Problematik zu tun. Mütter, die FASD haben, hatten selber oft schon Mütter mit FASD. Das heißt, sie bringen mitunter gar kein Verhaltensrepertoire mit, wie man als Mutter mit einem Kind umgeht. Die haben selbst häufig Fremdunterbringungserfahrungen. Wenn sie Glück haben, dann sind sie im Hilfesystem und kommen in eine Mutter-Kind-Einrichtung. Dort funktioniert es wunderbar, weil „sauber, trocken, satt“- das kriegt auch eine Mutter mit FASD hin. Dann sitzen wir aber dem Trugschluss auf, dass die Mutter jetzt alleine wohnen kann. Die Struktur, die in einer Mutter-Kind-Einrichtung vorgehalten wird, kann eine Mutter mit FASD nicht selbst übernehmen. Dadurch, dass das Generalisieren nicht funktioniert - das ist eine exekutive Funktion im Frontalhirn - können die gemachten Erfahrungen nicht übertragen werden. Das heißt, sie sitzt dann in ihrer eigenen Wohnung und weiß nicht, wie sie den Tag strukturieren soll. Wenn die Planungs- und Handlungsfähigkeit beeinträchtigt ist, dann bekommt sie den Alltag nicht hin. Hinzu kommt, dass die Mutter schneller erschöpft ist. Also, wenn sie ihre Kind gefüttert und gewickelt hat, ist sie selber so müde, dass sie erstmal zwei Stunden schlafen muss. Wenn das Kind dann Bedürfnisse hat, dann kann sie sie nicht adäquat befriedigen. Wenn das Kind Forderungen stellt, sind die Mütter mit FASD häufig überfordert, weil sie selber Hilfe brauchen. Manche bekommen es auch hin, viele jedoch nicht.
A: Ein Großteil der Kinder von Müttern mit FASD wachsen in Fremdunterbringung auf. Unter welchen Umständen ist es möglich, dass die Kinder bei ihren Müttern bleiben können?
Kathleen Kunath: Da treffen sie mich ins Herz. Wir sind als Gesellschaft nicht in der Lage gewesen, zu verhindern, dass die Mutter während der Schwangerschaft Alkohol getrunken hat. Der Alkohol ist immer eine Armeslänger von uns entfernt. Aber am Ende, wenn die Mütter dann Kinder mit FASD bekommen haben, lassen wir sie alleine. Man sagt, wenn Du nicht mit deinem Kind zurechtkommst, nehmen wir dir das Kind eben weg. Anstatt zu sagen, wir brauchen Mutter-Kind-Einrichtungen bis zum 18. Lebensjahr und gemeinsame Betreuung von Mutter und Kind.
A: Es gibt auch Fälle, in denen Mütter mit FASD ihre Kinder behalten. Welche Unterstützung brauchen sie dafür?
Kathleen Kunath: Sie brauchen Eingliederungshilfe, das heißt, dass man die Mutter unterstützt und in ihrer Mutterschaft stärkt und entlastet. Wir haben es nicht nur mit pädagogischer Unterstützung zu tun, sondern vor allem mit pflegerischer Unterstützung. Das heißt, es muss für sie der Haushalt geführt werden, damit die Mutter sich um das Kind kümmern kann. Das gibt es aber nicht. Dann braucht es noch Familienhilfe, um das Kind adäquat zu fördern. Häufig reicht das noch nicht aus. Wir brauchen Einrichtungen, in denen Familien langfristig unterstützt werden.
A: Wie ergeht es denn den Kindern dieser Mütter?
Kathleen Kunath: Bei ihnen löst es erstmal diese Angst aus, wenn die Mutter hilflos und auf Hilfe angewiesen ist. Das überfordert das Kind. Wenn ein Kind sich um seine Mutter kümmert, ist seine Kindheit verloren. Das ist ein großes Problem. Und die Vorbildfunktion, wenn eine Mutter Alkohol oder Cannabis konsumiert, da gibt sie den Kindern Lösungsstrategien mit, die suboptimal sind. Die Kinder erleben auch Vernachlässigung, weil die Mutter überfordert ist.
A: Wenn die Kinder bei ihren Müttern bleiben, übernehmen die Kinder dann quasi die Betreuung der Mütter?
Kathleen Kunath: Das ist Parentifizierung, die häufig schon ganz früh einsetzt. Dass Kinder einkaufen und kochen mit sechs, sieben Jahren, dass sie die Mütter durch die Stadt lotsen, weil die Mütter keine Orientierung haben u.s.w. Das ist ein großes Problem.
A: Es kann ja nicht das Ziel sein, dass Kinder immer fremd untergebracht werden.
Kathleen Kunath: Am Ende sind zwei Menschen traumatisiert. Wir wissen, wenn's der Mutter nicht gutgeht, geht's dem Kind auch nicht gut. Einer Mutter, der man das Kind wegnimmt, geht es nicht gut. Hinzukommt, dass die Kinder, wenn sie auch FASD haben, oft ein ganz herausforderndes Verhalten haben, was zur Folge hat, dass sie häufig Einrichtungen wechseln. Damit kommen die Kinder nicht klar und dann kommen auch die Hilfen an ihre Grenzen. Das heißt, wir als Gesellschaft produzieren uns Kinder, die ein herausforderndes Verhalten haben, statt das Geld in die Hand zu nehmen und Mutter und Kind gemeinsam zu betreuen. Das kostet viel weniger, als wenn die Kinder irgendwann stationär untergebracht werden oder schließlich sogar im Maßregelvollzug oder in der Psychiatrie untergebracht werden müssen.
A: Gibt es Zahlen wieviele Menschen FASD haben?
Kathleen Kunath: Die Zahlen sind nicht belastbar. Wenn wir sagen, wir haben 10.000 bis 16.000 Kinder, die mit FASD geboren werden, dann ist das nur die Spitze des Eisbergs. Ich sage: FASD ist eine Volkskrankheit, von der das Volk nicht weiß, dass es sie hat. Wenn ein Glas Wein oder Schnaps schon ausreicht, um ein Kind zu schädigen, dann haben wir ganz viele Menschen, die nicht diagnostiziert sind und die sich selbst die Schuld geben für ihr Unvermögen und die Schwierigkeiten, die sie im Alltag haben.
A: Es gibt auch Mütter mit FASD, die darauf achten, selbst keinen Alkohol zu trinken, um ihre Kinder nicht zu schädigen?
Kathleen Kunath: Ja, aber es ist festgestellt worden, dass Mütter, die aus einer alkoholkranken Familie kommen, die schon seit mehreren Generationen trinkt, auch schon veränderte Eizellen haben. Das FASD schlägt sich auch epigenetisch (in den Genen) nieder.
A: Welche Symptome hat FASD? Was kennzeichnet Menschen mit FASD?
Kathleen Kunath: Womit die Betroffenen am meisten Probleme haben ist, dass sie ein Verhalten haben, dass sie sich selber nicht erklären können. Sie gehen mit einer Schuld durch die Welt, dafür dass sie z.B. Impulsdurchbrüche haben und sich selber nicht regulieren können. 60 Prozent der Kinder mit FASD haben auch ADHS. Das Gehirn braucht achtmal soviel Aktionspotential für eine Aufgabe. Das heißt, Kinder in der Schule sind nach einer Stunde so erledigt wie andere Kinder nach acht Stunden. Das Gehirn ist schnell überreizt und braucht mehr Pausen. Der Stoffwechsel ist verändert, so dass Medikamente oft nicht wirken. Ein Kind mit FASD verstoffwechselt ein Medikament gegen ADHS zum Beispiel in einer Dreiviertelstunde, was bei anderen Kindern den ganzen Tag reicht. Hinzu kommt, dass sie sich nicht regulieren können, keine Aufmerksamkeit haben, Aufgaben nicht zu Ende machen zu können, komplizierte Sachverhalte nicht verstehen, Konflikte nicht lösen können, nicht adäquat auf Ansprache reagieren können usw.
Die Myelinummantelungen, dieses Eiweiß, das die Nervenbahnen umgibt, ist so aufgelockert, dass es Kurzschlüsse im Gehirn gibt. Also eine junge Mutter, die sich um eine Wohnung und ein Kind kümmern soll, kann beides nicht. Druck bewirkt, dass sie in einen solchen Spannungszustand gerät, dass sie auf ihre Ressourcen (normale oder hohe Intelligenz) nicht mehr zugreifen kann. Diese Menschen brauchen Entlastung, Verständnis und Empathie, damit sie überhaupt funktionieren können. Die Sekundärstörungen von FASD, wenn man das nicht erkennt, sind dann Schulabbrüche, Ausbildungsabbrüche, Delinquenz, ein gefahrvolles Leben, weil Risiken nicht eingeschätzt werden können, Fremd- und Selbstgefährdung. Impulse können nicht kontrolliert werden, irgendwann landen sie in stationären Einrichtungen. Psychiatrie, Maßregelvollzug, Drogenkonsum - das sind alles Sekundärstörungen, die wir verhindern können, wenn wir mit einer frühen Diagnose die Menschen entlasten und früh genug im Hilfesystem haben.
A: Das fängt ja schon bei der Diagnose an, die oft nicht gestellt wird. Wo können Menschen mit FASD diagnostiziert werden?
Kathleen Kunath: Für Erwachsene gibt es nur wenige Diagnostikstellen in ganz Deutschland mit sehr langen Wartezeiten. So eine Diagnostik dauert für die Diagnostiker 15 bis 30 Stunden Zeitaufwand, das machen nicht viele.
A: Ist eine Diagnose die Voraussetzung um Hilfe zu bekommen?
Kathleen Kunath: Ja, genau. Man kann aber versuchen schon über mit dem Verdacht auf FASD Hilfe zu bekommen. Mit dem neuen Bundesteilhabegesetz kann man formulieren, wo die Barrieren sind, die die Teilhabe verhindern.
A: Ist es wirklich so, dass schon ein Glas Alkohol in der Schwangerschaft reicht, um solche Beeinträchtigungen zu bewirken?
Kathleen Kunath: Ja, das Problem ist, man kann nicht sagen, wenn viel Alkohol getrunken wurde, kommt es zu einer schweren Schädigung und wenn wenig Alkohol getrunken wurde, habe ich eine leichte Behinderung. Alkohol ist ein Zellgift. Ich weiß ja nicht, welche Zellen sich bei dem Embryo gerade teilen und dann beeinträchtig werden oder eben nicht. Sind die inneren Organe, das Skelettsystem oder die Gliedmaßen oder das Gehirn betroffen? Alkohol schädigt die Zellteilung. Die Zellen können entweder absterben oder geschädigt sein mit verschiedenen Folgen. Daher hat jeder Mensch mit FASD eine unterschiedliche Symptomatik.
A: Da kann nur Aufklärung weiterhelfen…
Kathleen Kunath: Wir müssen von der Schuldfrage wegkommen. Die Mutter hat nur ein kleines Stück an dem „Schuldkuchen“- den Rest hat die Familie und die Gesellschaft, die diese Frau motiviert haben, etwas zu trinken. Es heißt zu oft: Trink mal ein Glas Sekt, das ist gut für den Kreislauf. Nein, das ist falsch. Es ist ein Irrsinn, dass wir keinen verantwortungsbewussteren Umgang mit Alkohol haben!

Kathleen Kunath
Sozialpädagogin im ev. Verein Sonnenhof in Berlin. Sie arbeitet mit jungen Erwachsenen mit FASD.