„Boderline-Mütter lieben ihre Kinder – sie können sie aber oft nicht lesen“
Das Projekt „ProChild“ versucht Mütter mit der Diagnose Borderline zu unterstützen
Maksim Hübenthal Henriette Katzenstein
A: Sie haben sich schon lange mit dem Thema Borderline-Mütter auseinandergesetzt. Warum ist ihnen dieses Thema so wichtig?
Hübenthal/Katzenstein: Die Borderline-Diagnose galt lange Zeit als Synonym fast für Unbehandelbarkeit. Und leider ist es auch heute noch so, dass Personen, auch Mütter mit einer Borderline-Störung, sehr häufig von Therapeut*innen abgelehnt werden, die sich nicht in der Lage sehen, diese Erkrankung zu behandeln. Dabei weiß man heute, dass es Behandlungsmöglichkeiten gibt, dass selbst eine Borderline-Diagnose nicht unbedingt ein Leben lang bestehen muss. Auch in der Kinder- und Jugendhilfe gelten Mütter mit dieser Erkrankung häufig als besonders herausforderungsvolle Klientinnen, für deren angemessene Unterstützung die zeitlichen Ressourcen fehlen. Das Wissen über diese Diagnose, ihre Bedeutung für die Betroffenen und ihre Familie, die therapeutischen Behandlungsmöglichkeiten sowie die Anforderungen an passgenaue erzieherische Hilfen sollte verbreitert werden – auch im Sinne der Familien und natürlich der Kinder von Eltern mit der Diagnose einer Borderline-Persönlichkeitsstörung.
A: Welche Auswirkungen hat speziell eine Borderlinestörung auf die Kinder?
Hübenthal/Katzenstein: Das lässt sich nicht pauschal sagen. Die Borderline-Diagnose ist eine symptomatische Diagnose, dabei müssen fünf aus neun Diagnosekriterien nach dem ICD 10 zutreffen – die Gruppe der Mütter und Väter mit Borderline-Diagnose ist also heterogen, auch in Bezug auf die Ausprägung, die Intensität der Erkrankung. Es ist durchaus möglich, dass zwei Mütter, die beide eine Borderline-Diagnose haben, nur ein einziges Diagnosekriterium miteinander gemeinsam haben.
Statistisch gibt es natürlich Zusammenhänge. Kinder psychisch kranker Eltern erleben sehr viel häufiger als andere ungünstige Entwicklungsbedingungen, zum Beispiel Vernachlässigung oder psychische, körperliche oder sexuelle Gewalt. Und sie haben im Vergleich zu Kindern, die bei psychisch gesunden Eltern aufwachsen, ein drei- bis siebenfach höheres Risiko, im Verlauf ihres Lebens auch eine psychische Krankheit zu entwickeln.
Solche Zahlen haben wir speziell für die Borderlinestörung nicht. Wir wissen aber, dass Menschen mit einer Borderline-Diagnose ähnlich häufig Eltern sind, wie andere psychisch erkrankte Menschen. Diese Eltern haben in der Regel erhebliche Probleme mit den Beziehungen zu ihren Mitmenschen – und das gilt auch für die Beziehungen zu ihren Kindern. Die Kinder haben daher erhöhte Risiken, schon sehr früh Probleme mit der Emotions- und Selbstregulation zu bekommen sowie Bindungsstörungen zu entwickeln. Im Alter von einem Jahr lässt sich ein erhöhtes Risiko für das Auftreten eines desorganisierten Bindungsstils beobachten. Das bedeutet, dass die Kinder sich in der Beziehung zu ihren Eltern widersprüchlich und desorientiert verhalten. Das spiegelt das hohe Gefühl von Unsicherheit dieser Kinder wider, die einerseits Zuwendung und Trost bei ihrer Bezugsperson suchen, diese andererseits auch als Bedrohung erleben.
A: Warum ist es so wichtig, dass Mütter mit einer Borderline Persönlichkeitsstörung in ihrer Mutterschaft Unterstützung bekommen?
Hübenthal/Katzenstein: Nun, das ergibt sich ein Stück weit aus unserer Antwort auf die vorangehende Frage. Mütter, aber auch Väter mit einer BPS-Diagnose haben oft große Schwierigkeiten, angemessen auf ihre Kinder zu reagieren, vermutlich schon dabei die Signale ihrer Kinder zu interpretieren. Zugleich lieben sie ihre Kinder und viele dieser Eltern wollen unbedingt das Beste für ihre Kinder, wissen aber nicht, wie sie dafür sorgen können. Daher brauchen diese Eltern nicht nur Psychotherapie für sich selbst, sondern auch gezielte Unterstützung in Erziehungsfragen. In unserem Projekt wird u.a. ein Elternkurs evaluiert, der speziell für Mütter mit Borderline-Diagnose konzipiert wurde, das „Trainingsmanual Borderline und Mutter sein“. Im Kurs bekommen Mütter in 12 Sitzungen gezielte Anleitung in der Erziehung. Der Kurs beinhaltet auch Hausaufgaben, die jeweils in der nächsten Sitzung besprochen werden.
Mütter und Väter mit einer BPS-Diagnose haben oft große Schwierigkeiten, angemessen auf ihre Kinder zu reagieren.
A: Was sind die Herausforderungen dabei?
Hübenthal/Katzenstein: Zunächst mal muss es überhaupt ein Angebot geben, das den Müttern bekannt ist, das lokal verfügbar ist und zu dem Mütter niederschwellig – also ohne große Anträge und Gebühren – Zugang haben. Das ist bisher nicht so. Das muss geschaffen und finanziert werden – und dann natürlich in der Fachwelt verankert werden, ein Stück weit zwischen Gesundheitswesen und Kinder- und Jugendhilfe. Außerdem reicht es natürlich nicht aus, Mütter beispielsweise über drei Monate mit einem Kurs zu unterstützen; die Erfahrungen dort müssten in der Kinder- und Jugendhilfe, z.B. im Rahmen der ambulanten Hilfen, aufgenommen werden und funktionierende Strategien gestärkt und weiterentwickelt werden.
Um eine solche Hilfelandschaft passgenau und bedarfsgerecht auch für Eltern mit Borderline-Diagnose fortentwickeln zu können, ist es wichtig, die Therapie- und Hilfeerfahrungen dieser Eltern bestmöglich zu verstehen. Dies gilt natürlich auch für die Erfahrungen der Fachkräfte.
A: Sie haben in ihrem Forschungsprojekt Mütter mit einer Borderline-Persönlichkeitsstörung befragt. Welche Erkenntnisse haben Sie dabei gewonnen?
Hübenthal/Katzenstein: Uns ist z.B. in mehreren Interviews berichtet worden, dass Sorgen um das Kind oder die Kinder für die Mutter eine sehr wichtige oder sogar die zentrale Motivation dafür waren, Hilfe zu suchen und anzunehmen. Nicht nur in der Kinder- und Jugendhilfe, auch in der Therapie suchen Mütter Unterstützung, damit ihre Kinder nicht erleben müssen, was sie selbst erleben. Interessant ist auch, dass mehrere der interviewten Mütter berichten, dass die Unterstützung, auch gerade die Unterstützung durch das Jugendamt, ihnen weitergeholfen hat. Das ist für uns ein wichtiger Befund: Hilfen können helfen! An diese Feststellung anknüpfend, können wir gezielt danach schauen, woran eine Mutter festmacht, dass sie eine therapeutische oder erzieherische Hilfe für sich selbst und für ihr Kind bzw. ihre Kinder als gewinnbringend erleben kann. Unser Anliegen ist es, eine Bandbreite solcher subjektiver Faktoren herauszuarbeiten. Dabei interessieren wir uns auch für die Gegenüberstellung mit den Erlebensweisen der Fachkräfte. Wo gibt es gemeinsame Sichtweisen, wo Unterschiede, vielleicht auch Spannungen, und wo lassen sich möglicherweise auch gegenseitige Missverständnisse ausmachen?
In diesen Teil unserer Auswertungsarbeit steigen wir gerade verstärkt ein. Das wird uns die nächsten Monate begleiten.
A: Wie sind Sie bei der Befragung vorgegangen?
Hübenthal/Katzenstein: Wir sind eines von fünf Teilprojekten. Die Mütter, die wir interviewt haben, wurden uns aus unseren Partner-Projekten vermittelt. Voraussetzung war, dass diese Mütter sowohl schon einmal eine Therapie durchlaufen hatten, als auch Hilfen der Kinder- und Jugendhilfe in Anspruch genommen hatten. Unsere Untersuchungsgruppe ist also durchaus eine besondere Gruppe, die tatsächlich schon Hilfen gefunden und in Anspruch genommen hat.
Wir haben mit allen Müttern und soweit möglich auch mit den jeweils beteiligten Fachkräften ein Interview geführt, online, denn das Projekt startete während der Coronazeit. Das war ein offenes Gespräch zu den Hilfeverläufen, aber wir haben zu verschiedenen Punkten auch gezielt nachgefragt.
Mütter oder Väter, die unsicher und ambivalent sind, unter Stimmungsschwankungen leiden, brauchen auch Leitplanken für die Kindererziehung
A: Was können wir von diesen befragten Frauen lernen? Was erfahren wir aus der Nutzerperspektive über das Hilfesystem?
Hübenthal/Katzenstein: Mit unserem Vorgehen fällen wir keine statistischen Aussagen. Uns geht es darum, das subjektive Erleben der Hilfeprozesse nachzuzeichnen. In den mehr als dreißig Interviews, die wir allein mit den Müttern geführt haben, konnten wir dafür auch sehr differenzierte Beschreibungen vom Erleben der Hilfen erhalten. Zunächst mal ist wichtig, dass die Mütter, mit denen wir gesprochen haben, die Hilfen insgesamt eher positiv bewertet haben und sich unterstützt fühlten: z.B. beschreibt eine Mutter, dass sie immer wieder gefragt wurde, was sie denn brauche und dabei nicht belehrt wurde. Erst dadurch habe sie sich eingestehen können, dass sie Therapiebedarf habe. Eine andere Mutter beschreibt, wie eine Fachkraft des Jugendamts sie kontinuierlich begleitet habe – in einem Wechselspiel von Bedürfnissen nach Unterstützung und Ablehnung von Hilfen. Da sieht die Mutter ihre eigenen Schwierigkeiten auch ganz klar und äußert sich dankbar dafür, dass ihr beispielsweise ein Aufenthalt in der Psychiatrie mehr oder weniger aufgezwungen wurde – sie dann aber immer wieder in den Prozess und die Entscheidungen einbezogen wurde.
Das ist für uns ein wichtiger Befund: Hilfen können helfen!
Mehrfach haben Mütter solche positiven Seiten beschrieben. Es wurden auch Schwierigkeiten genannt. Diese können individuell sehr unterschiedlich ausfallen. Beispielsweise ist uns erzählt worden, dass der Zugang zu den Hilfen, der ja meist in einer Krise gesucht wird, sehr belastend sein kann. Bei einer hohen psychischen Belastung zugleich offensiv nach passenden Hilfen zu suchen, kann zur Überforderung werden. Uns ist auch von langen Listen erzählt worden, die erfolglos abtelefoniert wurden, um eine Therapie zu finden. Auch Verzögerungen beim Jugendamt kamen vor, die dazu führen können, dass Unterstützung beispielsweise für den Vater ausbleibt, wenn die Mutter einen stationären Aufenthalt antritt. Sehr verletzend kann es auch sein, wenn eine Mutter sich bei bestimmten Überlegungen zu wichtigen Entscheidungen übergangen sieht und dann das Gefühl bekommt, einem für sie zu unzugänglichen System ausgeliefert zu sein. Außerdem sind wir auf Befürchtungen oder Erlebnisse damit gestoßen, dass individuelle Bedürfnisse und erkrankungsbedingte Herausforderungen nicht gesehen wurden, eine Mutter sich z.B. als Borderlinerin „in eine Schublade“ gesteckt fühlte oder aus ihrer Sicht nur unpassende Hilfeangebote erhielt.
A: Unterstützung und Beratung brauchen vertrauensvolle Arbeitsbeziehungen. Bei Borderline sind Beziehungsgestaltung und Kommunikation erhebliche Herausforderungen unterworfen. Wie kann das gelingen?
Hübenthal/Katzenstein: Dazu haben uns einige Fachkräfte Auskunft gegeben. Und auch manche Mütter haben etwas dazu gesagt. Wir können da noch keine abschließenden Aussagen machen. Es deutet sich aber an, dass personelle Kontinuität ein wichtiger Faktor sein kann. Eine Mutter hat uns beispielsweise erzählt, dass sie keine Sozialpädagogische Familienhilfe (SPFH) mehr wollte, nachdem die erste Fachkraft, die sie begleitet hatte, aus dem Job ausschied. Es braucht Zeit, bis eine Mutter, die selbst wahrscheinlich häufig erlebt hat, nicht ernst genommen zu werden, Vertrauen fasst.
Das Thema Vertrauensaufbau wird sowohl von Müttern als auch von Fachkräften erwähnt. Eine Psychiaterin, die wir interviewt haben, erklärte uns, es sei vor allem wichtig, unliebsame Äußerungen von Patient*innen nicht persönlich zu nehmen. Sie deutete an, es gebe in der ärztlichen Profession immer noch Kolleg*innen, die es nicht gut verkrafteten, wenn ihr Rat nicht gleich angenommen oder umgesetzt werde. Und man müsse auch verstehen, dass psychisch erkrankte Menschen auch das, was sie rational durchaus verstünden, nicht ohne Weiteres in die Praxis umsetzen könnten. Es braucht also auch Geduld für eine gelingende Beziehungsarbeit.
Neben Akzeptanz und Geduld ist aber auch Klarheit wichtig. Mütter oder Väter, die unsicher und ambivalent sind, unter Stimmungsschwankungen leiden, brauchen auch Leitplanken für die Kindererziehung und klare Aussagen dazu, was gut wäre einerseits und was nicht mehr akzeptabel ist und eine Gefährdung für die Kinder darstellt, andererseits. Die Professionellen sollten ihre Auffassung dabei immer transparent machen und die Eltern nicht mit einer Entscheidung überfallen, die ohne deren Wissen vorbereitet wurde.
A: Was lernen wir für die Hilfeanbahnung, für die Zielegestaltung und Kooperation?
Hübenthal/Katzenstein: Hierfür ist unsere Auswertung noch nicht weit genug fortgeschritten. Wir versuchen aktuell noch sorgfältig nachzuvollziehen, wie die unterschiedlichen Beteiligten die Prozesse erleben. Empfehlungen für die Gestaltung von Hilfeprozessen können seriös erst am Ende der Auswertung formuliert werden.
A: Wie erleben Nutzerinnen von Hilfe und Therapie das Zusammenspiel der Akteure aus Gesundheit und Jugendhilfe?
Hübenthal/Katzenstein: Nun, das ist eine sehr interessante Frage: Zu unserem Erstaunen waren es in mehreren Fällen, die wir angeschaut haben, die Mütter, die verstärkt an einer Kooperation der Hilfen miteinander interessiert waren – meist um das Beste für ihre Kinder zu erreichen. Einigen der Mütter war es dabei wichtig, dass bestimmte Themen aus dem Austausch ausgeklammert werden.
Es gibt auch einige Fachkräfte, die uns Auskunft gegeben haben, dass sie die Zusammenarbeit schätzen und anstreben. Manchmal wird die Meinung geäußert, Kooperation brauche es vor allem, wenn es besonders schwierig oder gefährlich für die Kinder wird. Und auch wenn Zusammenarbeit erwünscht ist, kommt es oft trotzdem nicht oder nur bei seltenen Gelegenheiten dazu. Das kann bereits – aber nicht nur – an einfachen alltagspraktischen Hürden liegen, wie dem zeitlich eng getakteten Praxisbetrieb niedergelassener Therapeut*innen oder der hohen Fallbelastung im Jugendamt.
Interessant fanden wir auch, wie ein Elternteil auf unterschiedliche Rückmeldungen reagiert. Da haben wir verschiedene Sichtweisen gehört. Es gibt Fälle, in denen eine Mutter berichtet, dass sie es gut findet, sich mit verschiedenen Sichtweisen auseinandersetzen zu können. Es gibt aber auch die Reaktion, dass das eher verwirrend ist.
Insgesamt – aber das ist nur eine ganz vorläufige Aussage – ist unser Eindruck, dass ein inhaltlicher Austausch zwischen Kinder- und Jugendhilfe und Erwachsenentherapeut*innen eher selten und voraussetzungsvoll ist. Gegenseitige Überweisungen oder Vermittlung finden wohl häufiger statt. Aber auch in Hilfeplangesprächen scheint meist nur gefragt zu werden, ob eine Therapie stattfindet, weniger, ob die Mutter diese als hilfreich auch für die Erziehung erlebt, ob die Kinder dort ein Thema sind usw. Unter welchen Bedingungen es zu Austausch und Zusammenarbeit kommt und was davon von den Fachkräften als gewinnbringend erlebt wird – auch das wird uns im kommenden Jahr beschäftigen.
Dieses Interview führte Christiane Rose
Maksim Hübenthal
Diplompädagoge und Dr. phil., wissenschaftlicher Mitarbeiter am Arbeitsbereich Sozialpädagogik der Freien Universität Berlin, ProChild-Projekt
Henriette Katzenstein
Diplompädagoge und Dr. phil., wissenschaftlicher Mitarbeiter am Arbeitsbereich Sozialpädagogik der Freien Universität Berlin, ProChild-Projekt