Wir helfen Worte dafür zu finden, was mit Mama oder Papa los ist
Erziehungsberatung: SeelenHalt berät psychisch kranke Eltern und ihre Kinder
Christina Habenicht
A: Frau Habenicht, Sie arbeiten in der Erziehungsberatungsstelle der Diakonie Hamburg und beraten bei „SeelenHalt“ vor allem Familien, in denen es psychische Erkrankungen gibt. Wir haben gehört, dass es dort Veränderungen gibt. Wie sehen diese aus?
Christina Habenicht: Unter dem Titel „SeelenHalt“ finden sich verschiedene Angebote, die von mehreren Kolleginnen gearbeitet werden. Das Projekt in seiner ursprünglichen Form sah auch niedrigschwellige Beratung vor, die aus Kirchenmitteln finanziert wurden. Diese haben wir jetzt nicht mehr zur Verfügung. Wir wollen aber weiter mit unserer fachlichen Expertise arbeiten und versuchen, für diesen niedrigschwelligen Teil, der ja für die betroffenen Familien so wichtig ist, Spendengelder zu akquirieren. Die Arbeit mit Familien mit psychisch erkrankten Eltern bleibt für unsere Erziehungsberatungsstelle ein Herzensthema und ist weiterhin ein Schwerpunktangebot. Was die genaue Um- und Ausgestaltung anbetrifft, befinden wir uns in einer Übergangsphase.
A: Was ändert sich denn in der Beratung für Sie und die Familien?
Christina Habenicht: Wir beraten die Familien auch weiterhin. Jedoch bedarf es einer schnelleren Klärung, was an Hilfe nötig ist. Wenn Erziehungsberatung Sinn macht, und die Eltern sich das bei uns wünschen, begleiten wir sie, beim Jugendamt einen Antrag auf Hilfen zur Erziehung zu stellen. Über eine solche Einzelfallhilfe wird die Beratung bei uns refinanziert. Wenn das nicht passt oder aus anderen Gründen nicht möglich ist, helfen wir den Eltern, andere Orte für die Unterstützung zu finden. Der Name „SeelenHalt“ und die entsprechenden Kontaktdaten bleiben unverändert bestehen. In einem Bezirk, nämlich in Altona, können wir einen niedrigschwelligen Zugang auch weiterhin sicher anbieten. Dies ist möglich im Rahmen von zwei sozialräumlichen Projekten „Offene Sprechstunde“ und „ZeitRaum“ (ein Kooperationsprojekt mit dem Sozialdienst katholischer Frauen „Johanna“ ambulant)
A: Was steht bei der Beratung von psychisch kranken Familien im Vordergrund?
Christina Habenicht: Wir möchten vermitteln, dass unsere Beratungsstelle mit „SeelenHalt“ ein guter und sicherer Ort ist, an dem wir gerade Eltern mit einer psychischen Erkrankung mit viel Verständnis und Wissen begegnen können. Wir wollen vertrauensvolle Arbeitsbeziehungen aufbauen. Das ist für diese Familien in besonderem Maße wichtig, denn der Schritt nach Außen ist für sie oft schwer und manchmal auch mit Gefühlen von Scham und Angst verbunden. Mir hat einmal eine Mutter erzählt, es sei leichter zu sagen, dass man Darmkrebs habe, als eine Depression. Zentrale Aspekte der Beratung sind: Das gemeinsame Finden und Einüben einer kind- und elterngerechten Sprache für die Situation in der Familie und die psychische Belastung/ Erkrankung der Eltern, das Sprechen über die Gefühle und das Erleben, das Weitergeben von Informationen und Wissen und das Ansprechen und Abbauen von Ängsten sowie die Arbeit mit den Ressourcen der Familie.
A: Sind denn die Eltern dazu bereit, die Kinder in den Blick zu nehmen? Wie erleben Sie das?
Christina Habenicht: Alle Eltern wollen „gute Eltern“ sein und auf ihre Kinder und deren Bedürfnisse schauen. Doch je nach Erkrankung und deren Schwere oder Phase ist das nicht immer möglich. Wenn wir den Eindruck bekommen, dass die Kinder nicht mehr ausreichend im Blick sind, sprechen wir das an. Oftmals versuchen die gesunden Elternteile vieles auszugleichen. Hier besteht die Gefahr der Überlastung, die vermieden werden soll. Gemeinsam schauen wir dann, was genau an Einschränkungen und Belastungen da ist, welche Hilfen zusätzlich benötigt werden und wo man diese bekommen bzw. beantragen kann.
A: Sprechen Sie auch mit den Kindern selber?
Christina Habenicht: Das kommt natürlich auf das Alter der Kinder an. Ab ca. fünf Jahren geht das gut. Die Einbeziehung von Kindern ist uns sehr wichtig. Sie kann sehr unterschiedlich aussehen und von einzelnen Gesprächen bis zu einer kindertherapeutischen Begleitung reichen. Im Kern geht es darum, dass über die psychische Belastung bzw. Erkrankung gesprochen wird. Wir finden Worte dafür, was in der Familie bzw. mit Mama oder Papa los ist. Was bedeutet ihre Erkrankung? Wenn die Kinder älter sind, kann man sie direkt fragen, was weißt du denn schon und was möchtest du wissen? Psychoedukation hat in unserer Beratungsstelle einen wichtigen Stellenwert. Worte dafür zu finden, was in der Familie los ist, was die Erkrankung ausmacht, das ist ein ganz wichtiger Bereich auch für die Erwachsenen. Es ist wichtig Dinge einzuordnen, um sie besser zu verstehen. Manchmal hilft es schon, wenn man Dynamiken erklärt und Muster beschreibt. Das macht die Situation verständlicher, zu wissen, weshalb man manchmal so empfindlich reagiert. Das entlastet schon.
A: Wie sprechen Sie mit den Eltern in der Beratungsstelle? Wie läuft eine Beratung ab?
Christina Habenicht: In den ersten Kontakten verschaffen wir uns einen Überblick über die familiäre Situation. Gemeinsam mit den Eltern erarbeiten wir die Bedarfe, wer was braucht. Manchmal ist es auch nötig, darüber zu sprechen, ob eine psychiatrische Diagnose angezeigt ist. Gleichfalls geht es um die Aufklärung, wie Abläufe in den verschiedenen Hilfesträngen sind und darauf hinzuarbeiten, dass die Familien diese Unterstützungen auch annehmen. Denn oftmals kann niemand von uns alleine eine Familie mit einer psychischen Erkrankung begleiten. Da braucht es die unterschiedlichsten Hilfen und vernetztes Arbeiten. Grundsätzlichen orientieren wir uns flexibel an den Themen, die die Eltern bzw. die Familien mitbringen. Wir sind für alles da, was die Eltern beschäftigt, sorgt und belastet.
A: Welche Erkrankungen sehen Sie am häufigsten?
Christina Habenicht: Wir sehen hier viele Eltern mit Depressionen. Ich erinnere mich an einen Vater, der war so schwer erkrankt, dass tatsächlich keine Mimik mehr in seinem Gesicht zu sehen war. Er hatte ein kleines Kind und das muss sich ja im Blick der Eltern spiegeln - und dieser Vater war wie eingefroren. Wir haben es auch viel mit instabilen Persönlichkeitserkrankungen zu tun. Eine ganze Reihe von Eltern haben traumatische Erfahrungen in ihrer Kindheit und Jugend gemacht. Einige Elternkommen auch mit der Diagnose Borderline oder mit Angst oder Zwangserkrankungen.
„Mit Kindern dann darüber zu sprechen, was sie fühlen und denken, ist wirklich sehr bedeutsam.“
A: Gibt es Grenzen bei der Beratung?
Christina Habenicht: Eine Grenze gibt es bei akuten Psychosen und Schizophrenie, hier sind das Denken und die Wahrnehmung stark verändert. Die Kommunikation und das gemeinsame Verständnis sind beeinträchtig bis unmöglich. Ich begleite gerade ein Kind, das in einer stationären Einrichtung lebt, weil die Mutter eine Psychose hatte. Da gucken wir jetzt, ob und wie eine Rückführung möglich sein könnte. Kann das Kind wieder nach Hause kommen und will es das überhaupt?
A: Können die Kinder auch ohne Eltern zu Ihnen kommen und sagen, ich habe ein Problem mit meinen Eltern?
Christina Habenicht: Seit dem Bundeskinderschutzgesetz (2012) haben Kinder ein Recht auf Beratung für sich allein. Die Frage ist jedoch, ob beispielsweise ein zehnjähriges Kind den Weg in eine Erziehungsberatungsstelle findet, das ist schon sehr hochschwelliger Weg. Für Jugendliche ist das vielleicht schon eher eine Möglichkeit. Im Grunde brauchen die Kinder einen Erwachsenen, z.B. eine Beratungslehrer*in an der Schule, der/die ihnen den Weg weist und sie vielleicht auch in eine Beratungsstelle begleitet. Für alle Fachkräfte erachte ich es für wichtig, dass sie von dieser Möglichkeit und auch von den konkreten Orten wissen. Wenn Kinder zunächst allein beraten werden, geht es aber letztendlich auch darum, wie die Eltern miteinbezogen werden können, um dann mit allen Beteiligten Lösungswege zu entwickeln.
A: Die Kinder kommen meistens also in Begleitung Erwachsener zu Ihnen. Führen Sie mit Ihnen dann ein extra Gespräch oder immer mit den Eltern zusammen?
Christina Habenicht: Das kommt darauf an, was der Bedarf des einzelnen Kindes ist. Wir haben Familientherapeutinnen im Team und wir alle haben im Blick, dass wir mit Kindern und Eltern gemeinsam sprechen. Das versuchen wir, wo es geht, auch zu initiieren. Wir überlegen, was möglich ist, immer mit dem Ziel, eine Sprache dafür zu finden, was in der Familie los ist und was die Erkrankung bedeutet. Manche Kinder benötigen aufgrund ihrer eigenen Problematik eine therapeutische Begleitung. Das schließt die Beratung der Eltern immer mit ein. Da ist es manchmal gut, dass wir das aufteilen können und wir mit zwei Kolleginnen mit einer Familie arbeiten. Für die Kinder ist das übrigens ein gutes Gefühl, dass Mama und Papa auch in die Beratung gehen und zwar am gleichen Ort.
A: Vermitteln Sie die Kinder auch an andere Einrichtungen oder Kindergruppen weiter?
Christina Habenicht: Unbedingt. Wenn wir die Familie kennenlernen, schauen wir gemeinsam, was Eltern und Kinder benötigen. Wir haben eine Vorstellung von allem, was es braucht, um Familien mit einer psychischen Erkrankung zu unterstützen. Die Möglichkeiten sind vielfältig und es ist wichtig, mit den Familien darüber zu reden. Manchmal braucht es auch zusätzliche Unterstützung, um diese Wege dann auch zu gehen. Das ist nicht immer leicht und kostet viel Kraft. Was uns Sorge bereite, ist die zum Teil schlechte Versorgungslage, vor allem in Folge von Corona. So sind beispielsweise Plätze bei niedergelassenen Psychotherapeuten*innen und Psychiater*innen rar und es gibt lange Wartezeiten.
A: Wie sprechen Sie mit den Kindern? Wie gehen Sie da vor?
Christina Habenicht: Psychoedukation ist der Schlüssel dafür. Worte zu finden für das, was ist, zu erklären und einzuordnen. Wenn man mit Kindern in Kontakt ist, ist es spannend zu erfahren, was sie sowieso schon alles mitgekriegt haben. Wenn sie das ausgesprochen haben, ist das für die Kinder sehr entlastend. Das erleben wir immer wieder. Ob es nun ein abwesender Elternteil ist oder eine andere schwerwiegende Situation. Für die Kinder entsteht oft ein Dilemma: Sie fühlen, dass etwas nicht in Ordnung ist. Doch die Erwachsenen versuchen zu beschwichtigen und sagen ihnen, dass sie sich keine Sorgen machen müssen. Das kann die Kinder sehr verunsichern, weil es sie an den eigenen Gefühlen zweifeln lässt, obwohl sie ja stimmen. Mit Kindern dann darüber zu sprechen, was sie fühlen und denken, ist wirklich sehr hilfreich.
„Es ist leichter zu sagen, dass man Darmkrebs hat, als eine Depression.“
A: Begleiten Sie Familien auch über eine längere Zeit hinweg?
Christina Habenicht: Ja, durchaus. Ich denke da an eine Familie, mit der ich über sieben Jahre gearbeitet habe. Der Vater hatte nach einer organischen Erkrankung eine Psychose entwickelt. Es war eine schwierige Situation, da er keine Krankheitseinsicht hatte. Um ihren Sohn und ihre Tochter zu schützen, hat sich die Mutter letztendlich getrennt. Die Hilfebedarf hat sich im Verlauf immer wieder verändert und es ergaben sich daraus wechselnde Settings. Zunächst war es eine Hilfe zur Erziehung über das Jugendamt. Als dort die Bewilligung eingestellt wurde, bestand immer noch ein Unterstützungsbedarf. Da wir zu diesem Zeitpunkt einen stiftungsfinanzierten Kindertherapieplatz frei hatten, konnte der Junge weiter von mir begleitet und auch die Mutter beraten werden. Als Mutter und Kinder ihren Weg dann ohne Hilfe weiter gehen konnten, brachte die Mutter ihre Dankbarkeit zum Ausdruck. Für sie sei es so wichtig gewesen, dass sie die ganze Zeit von einer Person beraten und unterstützt werden konnte, die über den Verlauf viel Wissen über Geschichte, Dynamik und Entwicklung des Familiensystem gesammelt hatte. Die Vorstellung, es mit wechselnden Helfer*innen zu tun zu haben und immer wieder alles vorn vorne erzählen zu müssen, hätte sie überfordert. Ähnliches hören wir immer wieder. So steht dieses Bedürfnis der betroffenen Familien oftmals im Gegensatz zu der Praxis, Hilfen zeitlich zu befristen und wechselnde Projekte anzubieten.
A: Sprechen Sie auch über Diagnosen?
Christina Habenicht: Ja, denn jede Erkrankung zeigt sich auf der Verhaltensebene und in der Beziehungsgestaltung sehr unterschiedlich. Über die Diagnose lassen sich auch die Bedarfe des erkrankten Elternteils und der Familie ableiten. Wir benutzen gerne entsprechende Kinderfachbücher, die es zu den verschiedensten Diagnosen gibt, um mit der Familie darüber zu sprechen, was sie jeweils bedeuten. Wenn es im Kontext der Erkrankung des Elternteils einen Unterstützungsbedarf des Kindes in Form einer therapeutischen Begleitung bedarf, brauchen die Kinder bei uns in der Beratungsstelle keine eigene Diagnose. Im Gesundheitssystem ist diese notwendig. Wir verstehen die Problematik der Kinder als Ausdruck bzw. Reaktion auf die familiäre Belastung. Das macht es für die Eltern oftmals viel leichter, dem zuzustimmen. Ein zusätzlicher „diagnostischer Stempel für das Kind“ (so sagte es einmal ein Vater) erlebt gerade der erkrankte Elternteil als weiteren Aspekt von Belastung und Stigmatisierung.
A: Welche Bedeutung hat die Diagnose bei der Beratung?
Christina Habenicht: Eine schwerwiegende Diagnose, eine stark ausgeprägte Erkrankung und ein wechselnder Verlauf mit schlechten Phasen können die Erziehungsfähigkeit einschränken und beeinträchtigen. Eine psychische Erkrankung gehört zu dem Bereich, wo wir das Wohl des Kindes im Blick behalten müssen. Sie kann ein gewichtiger Anhaltspunkt für eine Kindeswohlgefährdung sein. Wenn wir im Verlauf einer Beratung die Sorge bzw. den Verdacht bekommen, dass sich die Eltern nicht mehr ausreichend kümmern können, erfolgt die gesetzlich vorgeschriebene Risikoeinschätzung nach §8a (SGB VIII). In diesem Verfahren sind die Eltern und auch die Kinder zu beteiligen. Das Schwere ins Wort zu bringen, die Dinge an- und auszusprechen, die den Kindern schaden, den Eltern dabei einfühlsam zu begegnen, ist eine anspruchsvolle Aufgabe. Ziel dabei ist, dass Hilfen installiert werden, um die Gefährdung von Kindern abzuwenden.7
„Eine psychische Erkrankung gehört zu dem Bereich, wo wir das Wohl des Kindes im Blick behalten müssen.“
A: Kommt es auch vor, dass Kinder in Obhut genommen werden müssen wegen einer psychischen Erkrankung der Eltern?
Christina Habenicht: Die Inobhutnahme eines Kindes ist immer der allerletzte Schritt, über den das Jugendamt, als Wächteramt des Staates, entscheidet. Mit Kindeswohlgefährdungen haben wir es aber immer wieder zu tun. In den 14 Jahren, in denen ich hier in der Beratungsstelle tätig bin, kam es jedoch nur ein einziges Mal zu einer Meldung an das Jugendamt.Eine junge, alleinerziehende Mutter, deren Erkrankung (Borderline und Angst) sich so sehr verschlechtert hatte, dass sie ihren fünfjährigen Sohn nicht mehr gut versorgen konnte, verweigerte eine Sozialpädagogische Familienhilfe. Mittwoch, 4 . April 2024 Diese war von den Fachleuten als notwendig eingeschätzt worden. Nach mehrmaligen Versuchen, sie zum Jugendamt zu begleiten, lehnte sie dann auch die Beratung bei uns ab. Nun gab es keine andere Möglichkeit mehr, als das Jugendamt über die prekäre Lage des Kindes zu informieren. Solche Situationen gehören zu den schwersten, mit denen man im Beratungsalltag zu tun hat.
A: Das ist schon eine verantwortungsvolle Aufgabe …
Christina Habenicht: Ja, dieser Verantwortung sind wir uns alle im Team sehr bewusst. Wir wissen aber auch, dass sich die Mühe lohnt. Wir tun hier etwas sehr Gutes und helfen den Kindern und den Eltern in diesen Krisen, die psychische Erkrankungen bedeuten, Halt zu bekommen. Wir sehen auch das, was wir bewirken können, und das ist eine gute und große Motivation für unsere Arbeit.
Das Interview führte Christiane Rose
Christina Habenicht
Erziehungsberaterin bei der Diakonie Hamburg, Diplom - Pädagogin, Kinder - und Jugendlichenpsychotherapeutin, ressourcenfokussierte Elternberaterin, Psycho - Traumatologin, Kinderschutzfachkraft