Wenn Zuhause die Welt untergeht

In dieser Situation brauchst Du Personen, mit denen Du lachen kannst

von Kristina

Kristina ist mit einer schizophrenen Mutter aufgewachsen. Sie schildert, wie es bei ihr Zuhause war und was ihr in schwierigen Situationen geholfen hat.

Mir und meiner Schwester ist aufgefallen, dass unsere Mutter anders ist, als wir die ersten Male bei anderen Kindern übernachtet haben. Da haben wir gemerkt: Die Eltern sind anders drauf, viel entspannter, viel lockerer und machen nicht so ein großes Tamtam um alles Mögliche. Dann kam das so nach und nach, dass Freunde sich früher abholen lassen haben, wenn sie bei uns übernachtet haben. Oder gleich gesagt haben: Ne, ich möchte lieber Zuhause übernachten, ich habe Heimweh. Ich wusste, dass das nicht stimmt. Das waren die ersten Momente an denen ich dachte: Das muss irgendwie an meiner Mutter
liegen. Das hatte eine Freundin auch gesagt als wir mal eine Pyjama-Party gemacht hatten. Sie meinte, dass die Freundin XY sich früher abholen lassen hat, weil sie sich nicht wohl gefühlt hat bei uns. Meine Mutter hat mit meinen Freunden auch komische Gespräche geführt. Wir hatten sowieso selten Freunde bei uns. Dann sind weitere Sachen aufgefallen: wir sind zum Beispiel komplett ohne Konsolen aufgewachsen, weil wir zum einen das Geld nicht hatten, zum anderen wollte meine Mutter das nicht. Meine Mutter war deutlich strenger, was vieles anging. Es gab nie so richtige Snacks wie bei anderen Freunden. Das ist aber nicht alles. Man hat einfach gemerkt, dass bei uns Zuhause etwas nicht stimmt. Meine Mutter hatte so manche Diskussion mit meinem Vater – sowas haben Freunde mitbekommen. Es war komisch.

Ich habe das Anderssein meiner Mutter zuerst nicht so gemerkt, weil ich daran gewöhnt war. Die Angespanntheit meiner Mutter, ihre Probleme – die anderen haben das eher wahrgenommen als ich. Ich hatte auch kein gutes Verhältnis zu meiner Mutter. Ich habe sie teilweise abgelehnt – eben wegen solchen Geschichten, dass prinzipiell viele Freunde nicht bei uns übernachten durften, weil meine Mutter einfach keine Lust darauf hatte. Weil sie lieber alleine im Bett liegen wollte. Das war regelmäßig so. Wir durften oft auch nur bei Freunden übernachten, weil mein Vater das ausgemacht hat. Weil mein Vater Kontakte zu den Eltern hatte. Mit meiner Mutter sind wir nicht so richtig rausgekommen.
Die Diagnose Schizophrenie bekam meine Mutter als ich fünf Jahre alt war, erfahren habe ich ihre Diagnose erst mit zehn Jahren. Ich habe nur gemerkt, dass sie anders ist. Sie hat meinen Vater runtergemacht, willkürlich sich über Sachen aufgeregt. Meine Mutter und ihre Schwiegermutter – die haben richtig Probleme. Meine Mutter hat sich lautstark darüber aufgeregt, dass mein Vater doch das Problem sei, er sich nur um seine Familie kümmere. Dabei hatten wir schon lange keinen Kontakt mehr. 

Wir hatten noch Kontakt zu unseren beiden Tanten und zu unserer Urgroßmutter, aber wir hatten gar keinen Kontakt mehr zu unserer Oma. Ich habe sie nie persönlich getroffen – zumindest nicht, dass ich mich daran erinnern könnte. Die Ursache war meine Mutter. 

„Sie hat angefangen, mit Tellern zu schmeißen, weil mein Vater nicht mit ihr Spazierengehen wollte“
 

Meine Mutter hat sich grundlos und aus dem Nichts raus aufgeregt. Sie hat zum Beispiel angefangen, mit Tellern um sich zu schmeißen, weil mein Vater mit ihr nicht Spazierengehen wollte. Das war auch so ein Punkt. Die Polizei kam und mein Vater hat gesagt: Bei ihr wurde Schizophrenie diagnostiziert. Ich habe das gehört, aber ich konnte das Wort nicht mal aussprechen. Dann hat unser Vater versucht, uns das zu erklären. Einmal ging es um einen Urlaub. Es ist komplett eskaliert, meine Mutter hat um sich geschlagen und meinen Vater am Hals gekratzt, ein Bügeleisen nach ihm geschmissen. Weil mein Vater sie nicht dabei haben wollte und meine Schwester und ich auch gesagt haben: Mama, wir wollen eigentlich nicht, dass du in den Urlaub mitkommst, wir haben dich lieb, aber wir wollen das nicht, weil du dich immer grundlos aufregst und wir wollen uns entspannen und einen schönen Urlaub haben. Zumal unsere Mutter sehr bettlägerig geworden ist. Das heißt, wir hatten nicht unbedingt immer eine schöne Zeit im Urlaub, wir waren auch ganz oft mit unserem Vater alleine im Urlaub unterwegs.

Meine Schwester hat mit 13 schon geraucht und sich später geritzt. Ich habe unserem Vater nichts verraten. Ich war als Jugendliche auch kurz davor, mich zu Ritzen. Als ich kurz davor war, mir eine Rasierklinge zu nehmen, habe ich einen Kumpel angerufen. Er hat gesagt: Gut, dass du mich angerufen hast, wir reden jetzt. Mit den Eltern meiner Freunde habe ich mich immer sehr gut verstanden. Eine Freundin sagte mal: Ich habe das Gefühl, meine Familie mag dich lieber als mich. Aber in der pubertären Zeit war es schwierig. Mein Vater hat uns auf die Nachbarin verwiesen, aber ich war nicht so gut  mit ihr. Meine Schwester war gut mit ihr und ist es immer noch, weil es die Mutter ihrer besten Freundin ist, sie kennt sie, seit sie drei Jahre alt ist. Aber ich hatte nicht so den großen Bezug zu unserer Nachbarin und wollte das auch gar nicht. Um so richtig über Frauenprobleme zu sprechen, hatte ich eigentlich niemanden. Meine Oma hatte mir mal ein Buch geschenkt kurz nach der Trennung meiner Eltern. Dieses Buch hat mich praktisch durch die Anfänge meiner Pubertät begleitet. Diese Entwicklung, wo eine Mutter mal was zu Frauenproblemen gesagt hat, die hatte ich nicht.


Meine Eltern leben getrennt. Anfangs war mein Vater für meine Mutter da, hat geguckt, dass er eine Unterkunft findet, hat ihr dann die Wohnung hier auf der Ecke rausgesucht, weil er gesagt hat: Meine Kinder sollen möglichst noch nah an der Mutter dran sein, vor allem, weil wir eine Zeit lang nach Ochsenzoll gefahren sind, um unsere Mutter zu sehen – jedes zweite Wochenende. Mein Vater hatte ihr eine Bedingung gestellt: Wenn Du dich behandeln lässt, könnten wir es noch einmal versuchen. Anfangs hat sie die Therapie tatsächlich begonnen, aber sie hat, glaube ich, nicht wirklich verstanden warum sie das tun sollte, weil sie nicht krankheitseinsichtig ist. Das ist sie bis heute nicht. Wenn irgendwas nicht stimmt, sind immer alle anderen krank und Schuld. Mein Vater hat ihr bei Papierkram geholfen. Am Anfang wollte meine Mutter noch einen Abschiedskuss, den hat er ihr auch gegeben. Weil er gesagt hat: Das ist ja meine Frau und ich liebe sie ja und habe sie lange geliebt. Zwölf Jahre Ehe lässt man nicht einfach hinter sich. 

Das Verhältnis zwischen mir und meinem Vater ist ziemlich gut. Ich kann auf einer freundschaftlichen Ebene über vieles reden. Mittlerweile leben wir wie in einer WG, meine Schwester, mein Vater und ich. Wir unterhalten uns zwar am Tisch, aber ich habe vieles mit mir selbst ausgemacht. Ich wusste immer, wenn etwas schief gelaufen ist, ich Schwachsinn gebaut habe, war klar: Ich werde mir eine Standpauke anhören müssen. Aber ich wusste, es wird nur schlimmer, wenn ich meinem Vater nicht Bescheid gebe. Dieses Wissen ist schön: Wenn wirklich irgendwas ist, ist mein Vater für mich da. Aber er wusste vieles nicht und meine zwei Jahre jüngere Schwester und ich sind wirklich dankbar, uns gegenseitig zu haben. Mittlerweile sagen wir uns das auch häufiger. Wir können über alles reden, einander vertrauen.

Meinem Vater vertraue ich auch. Er hat immer gesagt: Schreib mir einfach, wo du bist, ich schreibe dir eine Uhrzeit auf, Hauptsache deine Noten stimmen und deine Schulaufgaben sind gemacht, aber du sollst auch unter Leute kommen, mit Freunden klarkommen. Er hat mir erlaubt, bei anderen zu übernachten. Ich war oft bei meiner besten Freundin, mit ihrer Mutter habe ich mich gut verstanden. Ich konnte dann mal in eine heile Welt eintauchen. Da bin ich meinem Vater auch dankbar, dass wir so auch mal eine Auszeit hatten. Er hat uns aber auch früh gezeigt: Hier ist die Waschmaschine, so geht sie an. Mein Vater hat unsere Selbstständigkeit früh gefördert.

„Wir sind unserem Vater dankbar, dass er gesagt hat, ihr braucht kein schlechtes Gewissen zu haben, wenn ihr Mama nicht besuchen kommt“

Wir sind unserem Vater auch sehr dankbar, dass er gesagt hat, ihr braucht kein schlechtes Gewissen zu haben, wenn ihr Mama nicht mehr besuchen kommt, denn ich habe jetzt das Sorgerecht und ihr müsst nichts mehr machen, wenn es nach mir geht. Da war er wirklich eine Vertrauensperson. Das hat uns sehr geholfen. Er hat sich drum gekümmert, dass wir zumindest darüber reden können, was bei uns nicht normal ist. Er hat sich darum gekümmert, dass wir zu „Aladin e.V.“ in diese Selbsthilfegruppen kommen können, wo Kinder hinkommen, die ähnliche Probleme haben. Wo man einfach sieht: Wir sind alle nicht normal und das ist okay. Es ist nichts Schlimmes, dazu zu stehen, dass die Mutter krank ist. Dafür braucht man sich nicht zu schämen. 

Als Kind war ich noch sehr aggressiv. Als ich zehn Jahre alt war, ist meine Mutter ausgezogen. Mein Vater sagte uns: Wir reden mal über die Krankheit von Mama. Meine Schwester und ich haben das auch verstanden, aber einfach wurde es dadurch nicht. Ich habe irgendwann angefangen, meine Mutter mit ihrer Diagnose zu konfrontieren. Aber das ging in ein Ohr rein und aus dem anderen wieder raus. Sie hat nicht richtig zugehört und dann kam noch dazu: Ich wollte zur Jugendfeuerwehr, aber sie wollte das nicht. Weil sie dachte, wir fahren dann Einsätze. Wir haben über ein halbes Jahr eine Diskussion geführt, bis mein Vater das alleinige Sorgerecht hatte. Dann war das zwar ein befreiendes Gefühl, aber zu diesem Zeitpunkt habe ich mich mit meiner Mutter verkracht. Ich war sehr impulsiv, hab sie viel angeschrien. Aber es gab von ihr keine Reaktion darauf, was mich richtig aggressiv gemacht hat. Ich war einfach sauer, dass sie ihre Krankheit nicht anerkannt hat. Das hat so vieles für mich schwerer gemacht. 

“ Ich war einfach sauer, dass sie ihre Krankheit nicht anerkannt hat.”

Es gab aber auch gute Phasen, wenn es einfach keine Streitpunkte gab, zumindest keine die uns wirklich zu schaffen gemacht haben: Mama, ich will mal bei dir übernachten. Da war ich 16 und stand kurz vor den Prüfungen. Sie sagte: Das ist doch egal, was für eine Note du schreibst, Du bist toll als Mensch und ein Paar Noten machen dich nicht aus. Das sind so die Momente, wo man sagen kann, sie ist wirklich eine Mutter. Wir sollten sie weiter besuchen kommen, weil sie uns lieb hat. Aber auf Dauer ist das schädlich für uns, deshalb haben wir mittlerweile gelernt, auf Abstand zu gehen, wenn wir wollen. Aber wir haben immer noch diesen inneren Konflikt: Wir haben keine Lust zu Mama zu gehen, aber wir wollen sie auch nicht alleine lassen, weil sie uns doch leid tut. Wir wollen sie ja nicht traurig machen und es tut uns auch weh, wenn sie traurig ist. Aber ich habe mittlerweile auch gelernt, dass wenn sie zu viele Sachen sagt, die mich aufregen oder Sachen, mit denen ich nicht einverstanden bin, dann fahre ich auch nach Hause. Sie hat uns eine Zeit lang unter Druck gesetzt und zu uns gesagt: Wenn Du nicht kommst, dann bin ich traurig und dann hast du mich nicht lieb. Da war ich 15 und das ist schon ordentlich psychischer Druck für eine 15-Jährige. Als wir älter wurden, hat das nicht mehr gezogen. 

Ich habe gelernt, zu differenzieren. Ich habe viel auf die Krankheit meiner Mutter geschoben. Meine Schwester sagt: Das macht die Frau nicht aus, sie kann auch anders, es ist nicht immer nur die Krankheit, es ist auch sie als Mensch. Ich kann differenzieren: Wenn meine Mutter Blödsinn labert und meine Familie beschimpft, weiß ich, das ist die Krankheit. Wenn sie zum Beispiel behauptet, man darf keinen Fisch essen, weil davon der Kopf schrumpft oder der Zahnarzt feilt dir die Zähne ab und davon wird dein Kopf auch kleiner. Aber manche Meinungsbildungen sehe ich losgelöst von ihrer Krankheit. Sie baut sich in ihrem Kopf etwas zusammen – das hat auch mit ihrer fehlenden Empathie zu tun. Sie lässt dann auch nicht mit sich reden. Wenn mit ihr logisches Reden nicht möglich ist, dann gehe ich eben. 

„Sprecht mit euren Kindern, sucht euch Hilfe“

Ich möchte meine Geschichte erzählen, ich möchte zeigen: Wir Kinder verstehen mehr als man glaubt. Ich wusste nicht, was Schizophrenie ist, ich wusste nicht, dass meine Mutter krank ist. Mittlerweile habe ich mehr Verständnis für sie, habe auch öfter Lust sie zu besuchen. Ich möchte aufzeigen: So habe ich das überstanden. Ich möchte sagen: Sprecht mit euren Kinder darüber, sucht euch Hilfe. Das ist der Auftrag, den ich mir auferlegt habe. Aufzuklären, dass zum Beispiel Psychologen, die mit solchen Familien arbeiten, sich auch fragen, wie kann ich den Kindern auch helfen. Was ich jedem nur raten kann: Du brauchst nicht immer ein Umfeld, wo du mit jedem reden kannst, in dieser Situation brauchst du auf jeden Fall Personen, mit denen du über alles lachen kannst – auch wenn Zuhause die Welt untergeht.
Ein Gastbeitrag von Kristina 

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