Viele Eltern sprechen nicht über ihre seelische Erkrankung, um ihre Kinder zu schützen
Sprache als Türöffner: Wie die Kommunikation über die seelische Erkrankung eines Elternteils in der Familie gelingt und was sie auslöst
Interview mit Dr. Joana Taczkowski
A: Frau Dr. Taczkowski, schön, dass Sie sich Zeit für das Interview nehmen. Erzählen Sie zu Beginn gern einmal, was CHIMPS macht.
Dr. Joana Taczkowski: CHIMPS ist die Abkürzung für „Children of mentally ill parents“, also Kinder psychisch kranker Eltern. Es ist ein familienorientiertes Angebot für Familien, in denen ein oder beide Elternteile an einer seelischen Erkrankung leiden. CHIMPS ist niederfrequent, das bedeutet, dass die Familien alle zwei bis drei Wochen ambulante Unterstützung erhalten. Der gesamte Beratungsverlauf erstreckt sich über ein halbes Jahr.
A: Wie erhalten Familien Zugang zum Projekt?
Dr. Joana Taczkowski: Um an dem Forschungsprojekt teilzunehmen, erfolgt der Zugang über die kooperierende Klinik. Wir sind ganz froh, dass wir mittlerweile in 15 Bundesländern Kooperationskliniken haben. Über www.chimpsnet.org kann man erfahren, welche Klinik in der Nähe des eigenen Wohnorts ist. In Hamburg können sich interessierte Familien an das UKE wenden. Wenn sie an einer Studie teilnehmen möchten oder Fragen haben, wenden sie sich gerne an unsere Mitarbeiterin Frau Sell: m.sell@uke.de, Telefon: (040) 7410 -24151.
A: Was sind die Elemente von CHIMPS?
Dr. Joana Taczkowski: In der Regel lernen wir erst einmal die ganze Familie kennen, um zu hören, in welchen Bereichen es gut läuft und wo vielleicht auch schwierig. Wir bieten den Eltern – ausdrücklich auch den Vätern – Elterngespräche an, sowie jedem Kind ein Einzelgespräch. Es ist uns wichtig, dass jedes Kind seinen Raum bekommt. In den Gesprächen erfahren wir, wie die psychische Erkrankung des Elternteils in der Familie wahrgenommen wird; ist die psychische Erkrankung bekannt? Gibt es Sorgen oder Wünsche des Kindes oder des Partners? Im Einzelgespräch thematisieren wir mit den Familienmitgliedern, welche Sorgen auch im Familiengespräch thematisiert werden können. Nach den Einzel- und Elterngesprächen wird in den Familiengesprächen zusammen-getragen, was sich die einzelnen Mitglieder wünschen und welche Lösungen gefunden werden können. Dabei schauen wir auch, ob die Familie weitergehenden Hilfebedarf benötigt. Wenn es nach Beendigung eines Behandlungszeitraums Bedarf gibt, können die Familien immer auf uns zukommen. Dieser Beratungsprozess ist je nach Familie länger oder kürzer. Das Angebot umfasst in der Regel acht Gespräche, wobei es auch weniger Termine sein können.
„Es ist uns wichtig, dass jedes Kind seinen Raum bekommt.“
A: Was versprechen und erhoffen sich die Betroffenen davon, an CHIMPS teilzunehmen?
Dr. Joana Taczkowski: Wenn bei einem Elternteil eine psychische Erkrankung auftritt, erleben wir oft Verunsicherung. Im Gespräch mit den Therapeut*innen kommt dann häufig die Frage „Bin ich noch ein guter Vater? „Bin ich noch eine gute Mutter?“ oder „Werden meine Kinder nun auch krank oder sind sie in ihrer Entwicklung beeinträchtigt?“. Die Kinder, oft schon die 4- bis 5-Jährigen, merken auch, dass mit ihren Eltern etwas nicht stimmt. Sei es, dass ein Elternteil durch einen Klinikaufenthalt nicht da ist oder Kinder die Energielosigkeit ihrer Eltern spüren. Durch unsere Beratung erhoffen sich die Eltern, dass sie für sich und ihre Familie wieder mehr Boden unter den Füßen kriegen und sicherer werden.
A: Was bedeutet es für die Familien zusammen zu kommen und zu sprechen?
Dr. Joana Taczkowski: Die Familien unterscheiden sich sehr. Einige Familien sprechen bei uns das erste Mal über die psychische Erkrankung. Das ist dann für die Eltern sehr aufregend. Dabei erleben wir die Kinder als sehr aufmerksam. Auch das unruhigste Kind hört dann ganz sorgsam zu. Nach den Gesprächen wirken die Eltern oft sehr entlastet. Manchmal ergibt sich schon nach dem Therapeutengespräch innerhalb der Familie ein erster Austausch. Und dann gibt es Kinder, die erst nach drei Tagen auf dem Weg zum Klavierunterricht sagen „Mama, wie ist denn das? Und warum warst du in der Klinik?“ Unser angeleitetes Gespräch dient für die Familien oft als Türöffner, um über die psychische Erkrankung ins Gespräch zu kommen. Wenn ein Gespräch über die Krankheit in der Familie nicht direkt entsteht, beruhige ich die Eltern, denn einige Kinder müssen das Ganze auch erst einmal sacken lassen. Es gibt andere Familien, die sehr offen über die seelische Erkrankung sprechen. Hier wissen die Kinder: „Mama hat eine Depression“ oder „Papa hat eine Angststörung und kann nicht immer zur Arbeit gehen.“
“Unser angeleitetes Gespräch dient für die Familien oft als Türöffner, um über die psychische Erkrankung ins Gespräch zu kommen.“
Bei den Gesprächen kann es auch um Wünsche gehen, die die Familienmitglieder haben. Ein Mädchen sagte mal „Ich weiß, Papa geht es manchmal nicht so gut und deshalb kann er mir nicht bei den Physikhausaufgaben helfen, aber dann soll er sagen, dass es ihm nicht gut geht. Er soll nicht sagen, dass er keine Zeit hat, denn ich merke ja, dass es ihm nicht gut geht.“ Das klingt zunächst vielleicht banal, aber für das Mädchen und ihre Familie war das sehr wichtig. Der Vater weiß jetzt „Ich darf das sagen!“ und das Mädchen weiß, dass ihr Gefühl richtig war. So bekommt das Ganze einen Namen, Worte, es wird besprechbar und vor allem kann man Lösungen finden.
A: Kinder bekommen ja oft viel mehr mit als Eltern annehmen. Wenn die seelische Erkrankung des Elternteils kindgerecht verpackt und dann kommuniziert wird, kann Kindern diese Information auch zugetraut werden.
Dr. Joana Taczkowski: Ja, genau.
A: Gibt es Methoden, die Sie bewusst bei der Gesprächsführung nutzen? Vielleicht eine Methode, von der Sie sagen, dass diese erfolgversprechend ist, da sie als Türöffner dient?
Dr. Joana Taczkowski: Gerade in den Einzelgesprächen kommt es mir darauf an, den Erwartungen und Gefühlen Raum zu geben. Dabei ermutige ich auch mein Gegenüber, einen Wunsch zu formulieren. Da in den Familien vieles nicht ausgesprochen wird, gibt es oft ein Unverständnis. Hier wende ich dann die Methode des zirkulären Fragens an: „Frau Meyer, wie fühlen Sie sich, wenn Ihr Mann Ihrer Tochter sagt, dass er keine Zeit für die Physikhausaufgaben hat?“ Das ist eine Technik aus der systemischen Therapie, bei der man erfährt, wie der oder die andere die Situation wahrnimmt. Dies ist nicht „die eine Methode“, das wäre zu einfach, aber ich nutze sie relativ oft.
A: Hier wird dann bestimmt deutlich, wie empathisch die einzelnen Familienmitglieder sind.
Dr. Joana Taczkowski: Ja, richtig. Viele Eltern thematisieren ihre seelische Erkrankung zunächst nicht, um ihre Kinder zu schützen. Beim zirkulären Fragen zeigt sich, dass es vielleicht gar nicht als Schutz ankommt und die Tochter das Verhalten ihres Vaters „total blöd“ findet und verärgert ist. Es ist gut, wenn diese Themen auf den Tisch kommen und dann ausgeräumt werden können.
A: Können Sie neben den Beispielen, die Sie genannt haben, noch genauer von Inhalten der Gespräche berichten? Was sagen Eltern zu ihren Kindern und was übernimmt der*die Therapeut*in?
Dr. Joana Taczkowski: Neben der Gesprächsöffnung geht es auch um soziale Unterstützung. Wenn ein Elternteil aufgrund der Krankheit nicht alles leisten kann, dann prüfen wir, durch wen die Familie Unterstützung erhalten kann. Das kann die Oma sein, die dem Kind bei den Hausaufgaben hilft oder ein Sportverein, in dem sich das Kind austoben kann. Wir schauen auch, ob weitergehende Beratungs- und Behandlungsangebote nötig sind. Manchmal benötigt auch ein anderes Familienmitglied eine Psychotherapie. Zusätzlich klären wir über die verschiedenen Erkrankungen auf. Wir nennen das Psychoedukation. Ältere Kinder stellen sich z. B. oft die Frage „Erbe ich das?“ oder „Was sind Symptome einer Krankheit?“ Uns ist die Krankheitsbewältigung der ganzen Familie wichtig, nicht nur der erkrankten Person.
„Uns ist die Krankheitsbewältigung der ganzen Familie wichtig, nicht nur der erkrankten Person.“
A: Um den Fokus noch mehr auf das Kind zu richten, interessiert mich, welcher Gesprächsraum dem Kind eingeräumt wird.
Dr. Joana Taczkowski: Uns ist sehr wichtig, dass die Kinder den gleichen Raum wie die Eltern bekommen. Dazu dient das Einzelgespräch. Neben der Frage „Bekomme ich das auch?“, fragen ältere Kinder und Jugendliche oft, was sie machen können, damit Mama und Papa wieder gesund werden. Hier muss man gut aufpassen, dass sich die Kinder nicht überfordern. Wir machen den Kindern dann deutlich, dass durch „braves Verhalten“ eine Krankheit nicht verschwindet. Sie sollen die Chance bekommen, sich in ihrer Entwicklung weiter auszuleben und nicht aus einer vermeintlichen Vorsicht in eine Überforderung laufen. Unsere Aufgabe ist es, wachsam zu sein, dass sich die Kinder nicht überfordern. Einige jüngere Kinder verhalten sich meist intuitiv besonders angepasst, andere Kinder verhalten sich besonders aufgedreht. Konkrete Fragen haben sie noch nicht, da ihnen einfach noch die Sprache fehlt. Um Worte und Sprache für die Kleinen zu finden, nutzen wir gern Bilderbücher. Das ist eine gute Möglichkeit, um ein erstes Verständnis bei den Kindern zu erzeugen.
“Um Worte und Sprache für die Kleinen zu finden, nutzen wir gern Bilderbücher.”
A: Haben Sie hier einen Tipp für ein gutes Kinderbuch?
Dr. Joana Taczkowski: Bei einer elterlichen Depression setze ich gerne das Buch „Sonnige Traurigtage“ ein. Bei Kindern, deren Eltern eine Borderline-Persönlichkeits-Störung haben, lese ich jüngeren Kindern gern aus „Mama, Mia und das Schleuderprogramm“ vor. Das Buch ist sehr bildlastig, mit kurzen Sätzen und zeigt die Symptome einer Borderline-Störung sehr einfach auf. „Flaschenpost nach irgendwo“ ist ein geeignetes Bilderbuch für Kinder von suchterkrankten Eltern.
A: Vielen Dank, das reiht sich gut in die Literaturliste ein, die wir zu dem Thema erstellt haben.
A: Können Sie sagen, was das „Darüber sprechen“ in den Familien bewirkt?
Dr. Joana Taczkowski: Ich erlebe oft, dass das Thema schambesetzt ist. Den Gedanken „Ich bin nicht gut genug für meine Kinder da“ höre ich häufig. Das ‚Darüber sprechen‘ bewirkt aber auch eine enorme Entlastung. Es gibt Eltern, die wahnsinnig viel Energie darauf verwenden, die Krankheit geheim zu halten. Das ist sehr anstrengend und die Kinder bekommen eh mit, dass es nicht stimmt.
„Das ‚Darüber sprechen‘ bewirkt aber auch eine enorme Entlastung.“
A: Können Sie schon etwas über bisherige Studienergebnisse von CHIMPS sagen?
Dr. Joana Taczkowski: Bezogen auf die psychischen Auffälligkeiten bei Kindern haben Studien gezeigt, dass diese aus Sicht der Eltern und der Kinder zurückgehen. Nach unseren Messungen sind die Kinder weniger auffällig. In den Fokus unserer Untersuchungen haben wir ebenso die gesundheitsbezogene Lebensqualität sowie die soziale Unterstützung genommen. Heraus kam, dass beide Bereiche nach der Beratung bei den Kindern steigen. In Teilen wird sogar die elterliche Krankheitsverarbeitung besser. Wir stellen fest, dass in diesen wichtigen Bereichen, die zur Widerstandsfähigkeit der Kinder beitragen, Kinder gestärkt werden und eine Besserung erfolgt.
A: Mit welchen Methoden gelangen Sie zu Ihren Ergebnissen?
Dr. Joana Taczkowski: Es gibt Fragebögen, die z. B. psychische Auffälligkeiten bei Kindern messen. Hier gibt es Symptomlisten, die wir Eltern und Kindern zum Ankreuzen geben. Dabei geht es u. a. um die Häufigkeit des Auftretens des Symptoms. Danach findet das Beratungsgespräch statt. Anschließend wird der gleiche Fragebogen noch einmal eingesetzt. Anhand dessen sehen wir, ob die Intervalle des Auftretens weniger werden. Es gibt auch einen Fragebogen zur Lebensqualität, der vor und nach einer Behandlung ausgefüllt wird.
A: Sehr spannend! Nun komme ich schon zur letzten Frage: Was glauben Sie, was es für Kinder von psychisch erkrankten Eltern in Zukunft in Hamburg braucht?
Dr. Joana Taczkowski: Kinder brauchen den Raum und die Möglichkeit, mit ihren Wünschen, Fragen und Sorgen ernst genommen und gehört zu werden. Es klingt eigentlich so einfach. Wenn eine psychisch erkrankte Mutter oder ein Vater in psychiatrischer Behandlung ist, ist es unser Wunsch, dass direkt gefragt wird „Haben Sie denn Kinder?“ Die Familie als Ganzes sollte berücksichtig werden, nicht nur die behandelnde Person. Denn das Gesundheitssystem ist gut aufgestellt, wenn es um den Einzelnen geht, doch es ist ja nicht nur der oder die Einzelne.
A: Vielen Dank für Ihre Zeit sowie den Einblick in Ihr Arbeitsfeld.
Das Gespräch führte Hanna Berster
Joana Taczkowski
Dipl.-Psychologin, Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeutin und Wissenschaftliche Mitarbeiterin in der Forschungssektion Familienforschung und Psychotherapie/ Familienambulanz im Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf. Sie arbeitet seit 2020 im CHIMPS-Projekt.
Verweise
CHIMPS-Gruppen am UKE- Familienforschung und Psychotherapie:
Wenn Sie an einer Studie teilnehmen möchten oder Fragen haben wenden Sie sich bitte an chimpsnet@uke.de oder Frau Sell: m.sell@uke.de, Telefon: (040) 7410 -24151.