Psychosoziale Hilfen sind anspruchsvolle Konstrukte und fordern Systeme heraus
Psychosoziale Hilfen sind Aushandlungsprozesse und Verabredungen von komplexen Systemen. Sie sind eingebunden in biopsychosoziale, fachliche, administrative und rechtliche Kontexte. Im besten Falle gewollt, gut verabredet und entwicklungsfördernd stellen sie eine Etappe im Leben des Einzelnen dar, die dazu führt, mit Herausforderungen und Problemen im Leben anders umzugehen und sie aus eigener Kraft hinreichend gut zu meistern.
Doch was ist „eine Hilfe“? Und warum werden Menschen zu Klient*innen, Familienhelfer*innen, Fallzuständigen Fachkräften? Warum sind Biografien und Lebensgeschichten auf einmal Fälle, Diagnosen oder Aufträge? Und wer nimmt hier welche Rolle ein? Auch wenn Soziale Arbeit eine Beziehungs- und Kommunikationsprofession ist, so hilft ein technischer, theoretischer Blick darauf „Wie ein Fall zum Fall wird“ und welche Merkmale ein Einzelfall hat.
Auf Basis der Definition von Perlman (1973) und Smalley (1977) lassen sich folgende Merkmale für eine Einzelfallhilfe beschreiben:
- es geht um ein Anliegen und ein Bedarf liegt vor,
- die Hilfe hat einen Anfang und ein Ende,
- sie durchläuft verschiedene Phasen,
- mindestens eine öffentlich rechtliche oder freie Institutionen ist zuständig und befasst sich damit,
- ein Leistungsanspruch aus dem Sozialgesetzbuch liegt vor,
- Elemente der Hilfe sind Beantragung, Prüfung, Diagnostik, Zieldefinition, Bewilligung, Evaluation, Berichte und Beendigung
Es wird deutlich, dass psychosoziale Hilfen nicht einfach so „passieren“. Sie sind proaktive Geschehnisse mit mehreren Akteur*innen, einer Zeitleiste, rechtlichen und administrativen Rahmenbedingungen.
Ein Fall wird zum Fall
Zuallererst ist das Leben an sich, das Menschsein und die Biografie des Einzelnen eine Abfolge von Ereignissen, Geschichten, Erlebnissen oder Herausforderungen auf einer Zeitlinie, eingebunden in Beziehungskontexte und Gesellschaft. Erst wenn für eine große oder kleine Person eine Situation eintritt, die als schwierig zu gestalten empfunden wird, die nicht zu bewältigen scheint oder eine nicht abwendbare Not mit sich bringt, kann von einem Problem die Rede sein. Ob etwas ein Problem ist oder nicht, hängt vor allem von der Selbsteinschätzung ab, von der Bewertung eine Veränderung herbeiführen zu wollen oder zu müssen und dafür nicht die geeigneten Mittel oder Kompetenzen zu haben (Wendt 2018). Manchmal, wenn besondere Grenzen erreicht sind, wird auch von außen definiert, dass ein Verhalten, eine Lebenslage oder Situation Veränderung braucht, weil es so nicht bleiben kann.
Doch das Problem oder die Not führen noch nicht zu einer amtlichen Behandlung dessen oder einer Maßnahme. Erst mit der Thematisierung und Adressierung an eine Stelle, die dafür zuständig ist und die dafür auch Angebote bereithält, wird durch die Befassung mit diesem Anliegen ein Fall (Müller 2017).
Müller (2017) verweist hier auf drei Dimensionen eines Falls: Fall von, Fall mit und Fall für.
- Fall von - Worum geht es? Was sind die relevanten Aspekte? Was ist das Thema? In welchen Bereich gehört es?
- Fall für - Wer ist noch beteiligt? Welche relevanten Akteur*innen braucht es noch oder sind schon beteiligt? Wie können diese einbezogen werden und ihren Part übernehmen?
- Fall mit - bezieht sich auf die gemeinsame Gestaltung des Miteinanders des/der Betroffenen und der zuständigen Fachkraft / Institution.
Müller (2017) bietet mit diesem Modell neben der Frage, worum es geht, eine ganzheitliche systemische Herangehensweise an, die darauf aus ist, die Beziehung in der Hilfegestaltung als eine Handlungs- und Gelingensebene zu sehen. Er fordert auf, den Blick auf weitere Akteur*innen zu richten und ggf. weitere Ressourcen des Hilfesystems oder auch involvierter Stellen bewusst zu adressieren und die Fallbetrachtung einzubeziehen.
„Fall für“ – mögliche Akteur*innen im KipeE-Kontext
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Hilfe als Veränderungsmoment
Mit einer Geschichte und einer situativen Herausforderung zu einem Fall zu werden, heißt noch nicht, dass daraus eine Hilfe wird. Vielmehr führt die Entstehung des Falls dazu zu prüfen, worum es geht und was das Anliegen ist. Erst die Schritte von Anamnese und sozialer Diagnostik ermöglichen eine Einschätzung, was gebraucht werden könnte, was eine lohnenswerte Veränderung und damit Hilfestellung wäre (Pantoucek-Eisenbacher 2019). In diesem Prozess sind Partizipation und Augenhöhe wichtige Parameter, damit eine gemeinschaftliche Perspektive von der um Hilfe bittenden Person und hilfegewährender Fachkraft entstehen kann. Da psychosoziale Hilfen kein Selbstzweck und Naturgesetz sind, sondern eine Verabredung haben; sind sie auch Ziele (Müller 2017). Der Anlass ist der Auslöser. Wenn eine Weiterentwicklung oder Verbesserung der Situation eingetreten ist, dann ist eine Maßnahme auch nicht mehr erforderlich. Das muss regelmäßig überprüft werden. Somit muss Hilfe auch enden oder immer wieder neu begründet werden.
Was nun als geeignete Maßnahme verabredet wird, hängt von den rechtlichen Rahmenbedingungen und den fachlichen Möglichkeiten, den zur Verfügung stehenden Angeboten und der individuellen Passung zur einzelnen Person ab.
Die Grundidee der Hilfe ist, ein Entwicklungsmoment auszulösen, in dem die Notlage überwunden werden kann. Dazu bedient sich Soziale Arbeit unterschiedlichster Methoden und Interventionen, sorgt aber auch für die Veränderung von Rahmenbedingungen. Im besten Fall geschieht das durch Ermutigung, Begleitung, Anleitung und Modell sein. In anderen Konstellationen kann es auch um die zeitweise Übernahme von Verantwortung (z. B. gesetzliche Betreuung) und Erledigung gehen (z. B. Haushaltshilfe).
Das Hilfedreieck
Hilfen sind auch davon gekennzeichnet, dass sich mehrere Akteure*innen in bestimmten Beziehungen zueinander befinden und es eher selten um reine „Eins zu Eins Begegnungen“ geht, wie sie durch das „Helfen“ an sich geschehen können.
Das Hilfedreieck beschreibt diese Konstruktion, in der sich
- Klient*innen als Leistungsempfänger,
- Fachkräften und ihre Institutionen, die die Hilfe als Leistungsträger gewähren
- und Fachkräfte, die die Hilfe ausführen und konkret gestalten (sowie ihre Institutionen) als Leistungserbringer
wiederfinden (Merchel 2019). Mit dieser Formalisierung werden aus Menschen mit Nöten oder Bedarfen Hilfeempfänger*innen, aus Menschen mit sozialen Berufen in der Administration Fallmanager*innen, Mitarbeitende im Pädagogischen Dienst oder Fallzuständige und aus Menschen mit ähnlichen sozialen Berufen Familienhelfer*innen, Betreuer*innen, Einzelhelfer*innen, Wohngruppenleiter*innen usw. Je nachdem, wo man sich im Hilfedreieck befindet.
Ihre Beziehung ist durch Anträge, Verträge und Verwaltungsakte beschrieben und festgelegt. Sie regelt, wie ein individueller Rechtsanspruch bei einem bestimmten Bedarf von einer zuständigen Stelle mit einer Maßnahme beantwortet wird, die sich dann als eine konkrete Leistung zwischen der Person mit dem Anliegen und einer dafür kompetenten Fachperson eines Trägers entfaltet. Der Träger erfüllt Standards, wird entlohnt und hält ggf. auch eine weitere oder andere Fachkraft bereitet, die die Leistung erbringen kann. Zentrales Element ist der Hilfeplan, der im Dreieck verabredet ist und als Commitment den Auftrag und die Zielstellung formuliert (Merchel 2019).
Hilfe als temporäre Wegbegleitung
Psychosoziale Hilfen verstehen sich im Grunde als temporäre Wegbegleitungen und Entwicklungsbeförderer. Sie sollen sich im besten Fall selbst überflüssig machen und dem Einzelnen gestärkt seinen Weg gehen lassen. Deshalb ist es so wichtig, Hilfen mit Sorgfalt einzusetzen und sie regelmäßig zu hinterfragen.
Natürlich ist die Praxis weniger ideal und rein. Wenn Hilfen eingesetzt werden, ist oft schon viel passiert, ungünstige Bewältigungsmechanismen haben sich verfestigt, die Zuversicht auf Veränderung ist gering. Es braucht eine gewisse Problemschwere und Relevanz, damit eine Hilfe eingerichtet wird. Auch sind die Umstände der „Fallwerdung“ oft eher schwierig und belastet (z. B. durch Meldung der Polizei, Druck vom Amt oder Angst und Sorgen, die Kinder zu verlieren). Der Problemberg hat sich aufgetürmt oder es gibt nur zweit- oder drittbeste Hilfen, die ebenfalls eine Adaption benötigen.
Die Herausforderungen
Wenn es also darum geht, in komplexen und herausfordernden Lebenslagen für Kinder und ihre psychisch erkrankten Eltern Hilfen möglich zu machen, dann führen diese theoretischen Betrachtungen dazu, folgende Herausforderungen zu benennen:
- Systeme wollen und müssen verstanden und zusammengebracht werden.
- Die/der Einzelne muss im Mittelpunkt bleiben, nicht das Verfahren und die beteiligten Institutionen.
- Die Motivation ist zu erkunden und in Entwicklungsenergie zu wandeln.
- Rolle, Auftrag und Grenzen sollten klar sein.
- Respekt vor der Logik, dem Eigensinn, der Autonomie jeder einzelnen Biografie und Lebensgeschichte ist wichtig.
- Es braucht eine Würdigung der individuellen Möglichkeiten und Anstrengungen.
- Partizipation muss proaktiv gestaltet werden.
- Der Druck und die Handlungsnotwendigkeit in Gefahren- und Notsituationen braucht angemessene Regulation.
Das Fazit
- Hilfen im KipeE-Kontext sind keine Selbstgänger.
- Allein das Konstrukt Familie mit mehreren Personen hält reichlich Systemenergie und Subsysteme bereit. Sie zu erschließen und zu verstehen, ist Teil der Arbeit, wenn Hilfen gelingen sollen.
- Autonomie und Beteiligung müssen bestmöglich gestaltet und gewahrt werden, auch wenn Eltern große Mühe haben, Veränderungen anzugehen.
- Besonders in Kinderschutzfragen oder bei Selbst- und Fremdgefährdung greifen Mechanismen und Prozeduren, die viele Menschen (Betroffene wie Fachkräfte) nicht (genug) kennen und die transparent vermittelt sein müssen.
- Es lohnt immer wieder die Spielregeln des eigenen Handelns zu hinterfragen, damit Hilfen gelingen können.
- Die Herausforderung steigt mit der Anzahl der beteiligten Institutionen, also Trägern bzw. Anbietern und Ämtern, insbesondere wenn sie ihren Bezug in verschiedenen Sozialgesetzbüchern haben.
- Fachbereiche und Professionen haben ihre eigenen Systemlogiken, Sprachen, Regeln und Kulturen. Mit dieser Verschiedenheit sind Hilfesuchende Menschen konfrontiert – zum einen in der Frage für sich selbst: „Wo kriege ich, was ich brauche am besten?“, aber auch in der Frage: „Wie geht das alles zusammen und sind die Helfer*innen sich da einig?“
- Es ist nicht verwunderlich, wenn Hilfen immer wieder scheitern, Familien sich abwenden und sich skeptisch zeigen, Helfer*innen gefrustet sind oder der „Rahmen ausgeschöpft“ scheint. Zwischen Methoden, Verfahren und Regularien sind alle beteiligten Menschen. Sie nehmen Rollen ein, die sie bestmöglich zu gestalten versuchen. Oftmals gelingt mit Geduld und Einfühlungsvermögen auch viel Förderliches.
Juliane Tausch
M.A. Klinische Sozialarbeit, Kinderschutzfachkraft nach §8a SGB VIII, Supervisorin/Coach (DGSV)
Projektleitung von A: aufklaren
Quellenangaben
Quellenangaben:
Galuske (2013): Methoden der Sozialen Arbeit. Juventa. Weinheim.
Merchel (2019): Handbuch Allgemeiner Sozialer Dienst. Ernst Reinhardt Verlag. München.
Müller, B. (2017): Sozialpädagogisches Können. Lambertus. Freiburg.
Pantoucek-Eisenbacher, P. (2019): Soziale Diagnostik. Vanderhoeck & Ruprecht. Göttingen.
Wendt, P. U. (2018): Lehrbuch Soziale Arbeit. Beltz Juventa. Weinheim.
Verweise
Definition Einzelfall
Nach Perlman (1973):
Soziale Einzelhilfe ist ein Prozess, der von bestimmten Sozialdienststellen eingesetzt wird, um Menschen zu helfen, mit ihren Problemen im sozialen Bereich besser fertig zu werden.
Nach Smalley (1977):
Durch die Methode der Sozialen Einzelhilfe wird ein Klient veranlasst, sich über einen Beziehungsprozess im Wesentlichen mit einer Person zu seinem eigenen und dem allgemeinen sozialen Wohl einer sozialen Hilfe zu bedienen.
(Beide in Galuske 2013, S. 82)