Psychoedukation für Kinder muss im Familienkontext stattfinden

Kinder werden durch altersgerechte Aufklärung in der Familie gestärkt

Prof Dr. Albert Lenz

Seit 20 Jahren beschäftigt sich Prof. Dr. Albert Lenz wissenschaftlich mit dem Thema Kinder psychisch erkrankter Eltern. Die Psychoedukation von Kindern nimmt dabei einen großen Stellenwert ein. Denn die Befunde der Resilienzforschung haben gezeigt, dass die Aufklärung in der Familie über die Erkrankung der Eltern und deren Auswirkungen für Kinder einen zentralen Schutzfaktor darstellt. Es stärkt Kinder, wenn sie verstehen, was los ist, meint Albert Lenz und plädiert dafür, familienzentrierte Gespräche zu führen.

A: Sie beschäftigen sich schon sehr lange mit Thema Psychoedukation. Warum ist das Thema Psychoedukation für Kinder psychisch erkrankter Eltern so wichtig?


Albert Lenz: Allgemein wird unter Psychoedukation eine Intervention verstanden, die Patient*innen und ihre Angehörigen über die Krankheit und ihre Behandlung informiert. Sie wird beispielsweise in der Erwachsenenpsychiatrie systematisch eingesetzt. Es hat sich nämlich gezeigt, dass Informationen das Krankheitsverständnis fördern, den selbstverantwortlichen Umgang mit der Krankheit und den Prozess der Krankheitsbewältigung zu unterstützen. Psychoedukation sollte sich dabei nicht auf die Vermittlung von Expertenwissen über Krankheitssymptome, Krankheitsursachen, Krankheitsverlauf und Behandlung beschränken. Wissen geht nicht automatisch mit Verstehen der Erkrankung einher. Um Verstehensprozesse anzustoßen, ist es notwendig, vom Erleben der Betroffenen, ihren Erfahrungen, ihren Überzeugungen und Vermutungen über Ursachen der Erkrankung – also von ihren subjektiven Krankheitstheorien – auszugehen. Auf diese Art und Weise wird die Gesundheitskompetenz der Betroffenen gestärkt. Kernelemente der Psychoedukation sind also: Vermittlung von Krankheitsinformation mit dem Ziel Verstehensprozesse anzustoßen.

A:  Warum ist das im Kindesalter schon wichtig und wie kann das geschehen?


Albert Lenz: Befunde aus der Resilienzforschung zeigen, dass resiliente Kinder psychisch erkrankter Eltern – d.h. Kinder, die trotz der vielschichtigen Belastungen im familiären Zusammenleben nicht oder weniger auffällig sind – Informationen über die Erkrankung der Eltern besitzen und das elterliche Handeln besser einordnen können als Kinder, die Störungen entwickelt haben. Sie verfügen über ein gewisses Krankheitsverständnis. Die Kinder können zudem ihren Eltern Fragen stellen und die Eltern sprechen auch mit ihren Kindern über ihre Erkrankung und über Auswirkungen auf die Familie. Es herrscht also eine offene Kommunikation innerhalb der Familie.

Diese Befunde aus der Resilienzforschung machen deutlich, dass wirksame Psychoedukation für Kinder neben der Vermittlung von Krankheitswissen und der Förderung von Krankheitsverstehen auch die gezielte Förderung der familiären Kommunikation beinhalten sollte. Psychoedukation sollte daher im Familiensetting stattfinden.

A: Kinder haben doch sicher andere Informationsbedürfnisse als Erwachsene. Wie kann man diesen gerecht werden?

Albert Lenz: Die Informationsbedürfnisse können sich im Verlauf der Zeit ändern. Kinder beschäftigen sich zu Beginn der elterlichen Erkrankung und der Behandlung mit anderen Fragen als nach der Behandlung, wenn sich der Gesundheitszustand des Elternteils wieder stabilisiert hat. Ein Kind, das die Erkrankung seiner Eltern zum ersten Mal erlebt, hat andere Informationsbedürfnisse als ein Kind, das bereits einmal erlebt hat, dass es seiner Mutter oder seinem Vater schlecht geht und er oder sie in die Klinik muss. Entscheidend ist, dass in der Familie möglichst eine Atmosphäre herrscht, in der Dinge angesprochen werden und Fragen gestellt werden können und Kinder ihre Sorgen und Ängste zum Ausdruck bringen können. Wir haben in einer Interviewstudie untersucht, in welche Richtung die Informationsbedürfnisse der Kinder gehen. Es zeigte, dass sich die Fragen der Kinder gar nicht so sehr auf die Krankheit der Eltern bezogen, sondern in erster Linie auf die Auswirkungen auf den familiären Alltag und ihren Umgang mit den erkrankten Eltern. Erst mit zunehmendem Alter der Kinder drehen sich die Informationsbedürfnisse stärker um die Erkrankung der Eltern. In der Pubertät tauchen meist Fragen nach der Vererbung auf. 

Wissen geht nicht automatisch mit Verstehen der Erkrankung einher.

A: Es ist ja oftmals ein Tabuthema in den Familien. Wer kann es initiieren, darüber zu sprechen?


Albert Lenz: Zunächst mal muss es überhaupt ein Angebot geben. Sprachlosigkeit und Tabuisierung bilden ein tiefgreifendes Kommunikationsmuster in vielen Familien mit psychisch erkrankten Eltern. Gemeinsame Familiengespräche könnten daher Familien zunächst überfordern und zu innerem Rückzug und Widerstand führen. Wir empfehlen daher bei der Psychoedukation ein Vorgehen, in dem getrennte Gespräche mit den Eltern und den Kindern den Familiengesprächen vorgeschaltet sind. 

In den Elterngespräche soll den Eltern Raum gegeben werden, über ihre Bedenken, Ängste und Unsicherheiten nachzudenken, mit ihren Kindern über ihre Erkrankungen zu sprechen. Gleichzeitig sollte den Eltern die hilfreiche Wirkung von Wissen und Verstehen bei ihren Kindern aufgezeigt werden. In den Einzelgesprächen mit den Kindern soll ein geschützter Raum geschaffen werden, in dem sie ihre Gefühle, Sorgen, Vorstellungen und Informationsbedürfnisse zum Ausdruck bringen können. Durch die vorgeschalteten Gespräche wird ein Fundament für die Familiengespräche gelegt. Durch die professionelle Begleitung soll eine Atmosphäre der Offenheit und des Sich-Trauens, Fragen zu stellen, gefördert werden.

„Entscheidend ist, dass in der Familie möglichst eine Atmosphäre herrscht, in der Dinge angesprochen werden und Fragen gestellt werden können“

A: Ist es nicht sinnvoll, dass die Ärzt*innen oder die Sozialpädag*innen die Aufklärung machen und den Kindern erklären, was mit den Eltern los ist?


Albert Lenz: Ärzt*innen oder die Sozialpädag*in kommt eine wichtige Funktion bei der Vermittlung von Faktenwissen zu. Außerdem sollen sie die Familie unterstützen, eine offene Beziehungsatmosphäre zu schaffen, die ein Sprechen über die Erkrankung und deren Auswirkungen auf das Zusammenleben erleichtert. Eine Aufklärung ohne Wissen der Eltern empfände ich als problematisch. Ganz abgesehen davon, dass sie nicht die Wirkung wie eine familienorientierte Psychoeduktion hat. Wenn man die Befunde der Resilienzforschung betrachtet, würde dadurch unter Umständen die Tabuisierung und Sprachlosigkeit in der Familie noch verstärkt werden. Es würde eher Misstrauen auf Seiten der Eltern geschürt werden und die Kinder würden unter Umständen in Loyalitätskonflikte stürzen. In vielen Kindergruppen ist Aufklärung über psychische Erkrankung in Abwesenheit der Eltern eine Arbeitseinheit. Diese Form der Aufklärung erfüllt aber eine andere Funktion. Sie vermittelt die Botschaft an die Kinder: Ich stehe nicht allein da, es gibt auch andere Kinder mit diesen oder ähnlichen Problemen. Diese Erfahrungen wirken erleichternd und geben Hoffnung. Dies ist ein zentraler Gruppeneffekt, vermitteln aber keine Antwort auf die individuellen Fragen und Sorgen der Kinder in Bezug auf Erkrankung der Eltern.

A: Könnte so ein Gespräch zwischen Eltern und Kindern initiiert werden? Ich könnte mir vorstellen, dass das von allein nicht funktioniert?


Albert Lenz: Wie in der Behandlung psychisch erkrankter Erwachsener üblich, müsste Psychoedukation für Kinder im Familiensetting als Angebot fest etabliert werden.

 Wer könnte das Gespräch initiieren? Die Therapeut*innen? Die Pädgog*innen?


Albert Lenz: Es könnte eine Vertrauensperson aus dem professionellen Hilfesystem sein, die einen guten Zugang zu den Eltern und zur Familie hat. Vorstellbar wären beispielsweise die behandelnden Ärzt*innen oder Therapeut*innen der Eltern, die Erziehungs- und Familienberatungsstelle, der Sozial-psychiatrische Dienst oder die Suchtberatung.

A: Die Kinder werden ja bei der Behandlung der Erwachsenen oft nicht mitgedacht. Sollten Familiengespräche verpflichtend sein?


Albert Lenz: Ja, das ist ein ganz wichtiger Punkt. Es sollte bei der psychiatrischen bzw. psychotherapeutischen Behandlung oder bei der Klinikaufnahme ganz selbstverständlich nach den Kindern gefragt werden. „Haben Sie Kinder?“, „Wo sind die Kinder und wer versorgt sie?“, „Wie geht es den Kindern?“ sollten zum Standard in Anamnesegesprächen mit den erkrankten Erwachsenen werden. Durch solche Fragen weitet sich der Blick auf die Kinder und die Patient*innen werden als Eltern wahrgenommen. In manchen Kliniken hat sich in dieser Richtung schon vieles zum Positiven verändert. Durch Fragen nach den Kindern kann der Weg zur frühzeitigen Inanspruchnahme von Hilfen für die Kinder und die Familie geebnet werden.   

A: Dürfen Erzieher*innen in Kitas, die sehen, dass die Eltern psychisch krank sind, mit den Kindern darüber reden?


Albert Lenz: Ich denke, dass Erzieher*innen in Kitas zum einem damit überfordert wären und zum anderen wäre es auch kein passender Rahmen mit Kindern über die Erkrankung der Eltern zu sprechen. Erzieher*innen sollten Eltern ansprechen, wenn sie Veränderungen im Verhalten des Kindes oder in der Versorgung des Kindes wahrnehmen oder wenn sie Veränderungen im elterlichen Verhalten gegenüber ihrem Kind beobachten. Beispiele hierfür sind: Erzieher*innen bemerken, eine Mutter geht ihnen aus dem Weg oder fühlt sich sofort angegriffen oder reagiert aggressiv. Wichtig ist dabei, dass Erzieher*innen den Eltern nicht vorwurfsvoll begegnen, sondern ihnen ihre Wahrnehmungen und Einschätzungen mitteilen und ihnen Hilfsmöglichkeiten anbieten bzw. aufzeigen.

A: Kinder verschiedenen Alters müssen ja unterschiedlich aufgeklärt werden. Wie kann man kleine Kinder aufklären? 


Albert Lenz: Die amerikanische Kindertherapeutin Phylis Rolfe Silverman betont in ihrem Buch: „Never too young to know.” (dt: Niemals zu früh, um Bescheid zu wissen). Auch Kleinkinder müssen aufgeklärt werden. Kinder in diesem Alter brauchen natürlich keine Erklärungen, weil sie diese kognitiv nicht aufnehmen und verstehen können. Gefühlsmäßig kommen aber Botschaften, wie z.B. „Mama oder Papa geht es heute nicht gut. Ich bin müde und traurig, wenn es mir wieder besser geht, spiele ich mit dir. Oma wird heute mit dir spielen“, auch bei Kleinkindern an, obwohl sie die Worte nicht verstehen. Bereits Säuglinge reagieren mit Mitgefühl z.B. auf einen traurigen Ausdruck der Mutter. Sie entwickeln bereits in diesem Alter Schuldgefühle, die sie noch nicht ausdrücken können. Das Kind braucht daher die Rückmeldung, dass es nicht seine Schuld ist, dass es der Mutter oder dem Vater zurzeit schlecht geht.

Sprachlosigkeit und Tabuisierung bilden ein tiefgreifendes Kommunikationsmuster in vielen Familien mit psychisch erkrankten Eltern.

A: Wie kann man das den Kindern vermitteln? Dass sie mit den Eltern mitfühlen und sie trösten wollen, ist doch ganz normal.


Albert Lenz: Für die Entwicklung eines Kindes ist es generell wichtig, dass von Geburt an mit ihm gesprochen wird, obwohl ein Säugling die Bedeutung der Worte kognitiv noch nicht versteht. Die verbalen Äußerungen der Eltern, die sich mit dem Wahrnehmen, Empfinden und dem Fühlen des Kindes oder mit Handlungen und Gefühlen der Eltern auseinandersetzen, vermitteln dem Kind Sicherheit und Verlässlichkeit. Es kommt auf die gefühlsmäßige Atmosphäre an, in der die Worte ausgesprochen werden. Kleinkinder und Säuglinge reagieren auf die emotionale Atmosphäre, die mit den Worten mitschwingt.

A: Eltern versuchen auch ihre Kinder zu schonen und sich zusammenzureißen und fröhlich zu sein, obwohl sie traurig sind?

Albert Lenz: In dem Bestreben nach gegenseitiger, vermeintlicher Schonung und Rücksichtnahme vermeiden die Eltern eine offene Auseinandersetzung mit der psychischen Erkrankung. Schuld- und Schamgefühle, den Kindern und der Familie nicht mehr gerecht zu werden und die Aufgaben im Haushalt nicht mehr erfüllen zu können, machen ein offenes Sprechen häufig unmöglich und führen häufig zur Tabuisierung der Erkrankung. Auch der gesunde Elternteil trägt dazu bei, die Erkrankung zu verheimlichen. Er sucht eher nach Umschreibungen und Umdeutungen, indem er sich bemüht, die Probleme beispielsweise als vorübergehend und zeitlich begrenzt, als Reaktionen auf besondere Belastungen oder als somatische Erkrankung zu deuten. Solche Reaktionsweisen sind vielschichtig motiviert. 

Kinder sollen mit Hilfe bestimmter Sprachregelungen vor möglichen Vorurteilen und Ablehnung im sozialen Umfeld geschützt werden. Stigmatisierungsängste und -erfahrungen tragen häufig zur Tabuisierung psychischer Erkrankungen bei. Möglicherweise steckt aber auch die Furcht dahinter, dass die Kinder den erkrankten Elternteil verachten oder sich von ihm vielleicht sogar zurückziehen könnten, wenn sie von der Erkrankung erfahren. 

A: Welche Rolle spielen dabei die Krankheitsbilder in den Familien?

Albert Lenz: Krankheitsbilder oder subjektive Krankheitstheorien spielen in der Familie eine wichtige Rolle. Die Eltern und die Kinder haben bestimmte Vorstellungen und Vermutungen über das Wesen der Krankheit und deren Ursachen entwickelt. Damit gelingt es, Beobachtungen und Erfahrungen im alltäglichen Zusammenleben besser einzuordnen und Erklärungen für Irritationen zu finden. Sie spielen eine wichtige Rolle, um im Alltag mit der Situation besser umgehen zu können. Am häufigsten wird in der Familie Stress als Ursache für die Erkrankung angenommen: „Ich bin krank geworden, weil ich zu viel Stress hatte oder Mama oder Papa geht es schlecht, weil sie so viel Stress haben.“ Diese subjektive Theorie bestimmt unter Umständen die gesamte Kommunikation über die Erkrankung in der Familie. Der Stress stellt auch fachlich betrachtet eine Komponente dar, die zur Entwicklung einer psychischen Störung beitragen kann. Insofern findet die Familie vielfach Bestätigung im Umfeld für diese „Theorie“, was entlastend wirken kann.

A: Sollte man diese Theorien verändern?

Albert Lenz: Die subjektiven Krankheitstheorien haben für die Familie eine wichtige stabilisierende Funktion im Alltag. Sie sollten daher von den Fachkräften ernst genommen werden. Es sollte explizit wertgeschätzt werden, dass sich die Familienmitglieder Gedanken machen. Die Vorstellungen und Vermutungen über die Erkrankung bilden einen wertvollen Ansatzpunkt für Aufklärung und Vermittlung von Expertenwissen. Sie bilden zudem das Fundament für die Fragen und Informationsbedürfnisse der Kinder. 

A: Oft weiß man ja nicht, woher die Erkrankung kommt.

Albert Lenz: Die Ursachen für die Entstehung von psychischer Erkrankung sind komplex. Genetische, soziale und familiär-biografische Faktoren beeinflussen sich wechselseitig. Für die Kinder und die Eltern spielt dieses „Faktenwissen“ keine entscheidende Rolle. Entscheidend ist vielmehr das Erleben der Erkrankung und die Umstände, die mit der sie einhergeht. Das Erleben ist meist geprägt von Schuldgefühlen und Ängsten. Eltern fühlen sich oft schuldig, weil sie psychisch erkrankt sind und das Gefühl haben, ihre Kinder nicht ausreichend versorgen und fördern zu können. Hier spielen Stigmatisierungserfahrungen eine bedeutende Rolle. Kinder zeigen Verlustängste und Hoffnungslosigkeit. Diese Gefühle werden oftmals überlagert von Schuldgefühlen für die Erkrankung der Eltern verantwortlich zu sein. Diese Themen sollten in der Psychoedukation behandelt und besprechbar gemacht werden.

A: Welche Probleme tauchen bei der Aufklärung auf? Worauf sollte man achten?

Albert Lenz: Besonders zu beachten ist der kognitive Entwicklungsstand des Kindes. Informationsvermittlung und Aufklärung sind sinnlos, wenn die Inhalte nicht verstanden werden, weil das Kind noch nicht über die erforderlichen kognitiven Fähigkeiten verfügt. Etwa mit dem Schulalter sind Kinder in der Lage, Zusammenhänge zwischen dem Verhalten ihres erkrankten Elternteils und ihren eigenen Reaktionen herzustellen bzw. den psychischen Zustand mit bestimmten Belastungsfaktoren in Verbindung zu bringen. Es gibt mittlerweile eine Reihe ansprechend gestalteter Materialien, die in psychoedukativen Familiengesprächen mit den Kindern eingesetzt werden können. Bei jüngeren Kindern helfen Bilderbücher, die die Aufmerksamkeit für die vermittelten Informationen stärken. Auf diese Weise kommt man mit den Kindern ins Gespräch und kann auf ihre Gedanken und Vorstellungen über die Erkrankung besser eingehen. 

A: Was macht man, wenn Kinder aber nicht sprechen wollen? 

Albert Lenz: Es ist wichtig, zu verstehen, was der Hintergrund dafür sein könnte? Ich würde mit den Eltern darüber sprechen, was möglichweise dahinterstecken könnte. Kinder spüren, dass den Eltern das Gespräch unangenehm ist und möchte sie quasi schonen, indem sie scheinbar nicht sprechen wollen. Kinder haben eventuell Angst, etwas Schlimmes zu erfahren oder fühlen sich schuldig an der Erkrankung des Elternteils und verweigern deshalb ein Gespräch. Dem Kind sollte kein Gespräch aufgezwungen werden. Der Verweigerung sollte auf einem Gesprächsangebot unter Einbeziehung der vermuteten Gefühle des Kindes begegnet werden.

A: Gibt es generell Aspekte, über die man nicht mit Kindern sprechen sollte?

Albert Lenz: Den Kindern sollten Informationen über die Erkrankung vermittelt werden, die das Verständnis fördern. Sie brauchen Informationen darüber, welche Veränderungen im Alltag für sie z.B. durch den Klinikaufenthalt der Mutter eintreten, etwa wer sie morgens in die Kita bringen und mittags wieder abholen wird. Man sollte mit den Kindern nicht über die Dinge sprechen, die die Eltern und die Elternbeziehung betreffen. 

A: Wird auch darüber gesprochen, wie sie sich gegenüber den Eltern verhalten sollen?

Albert Lenz: Zur Förderung der Gesprächsatmosphäre in der Familie, kann es hilfreich sein, den Kindern Tipps für Gespräche mit den Eltern zu geben,. z.B.: Such Dir den Zeitpunkt für ein Gespräch sorgfältig aus. Versuche nicht ein Gespräch zu beginnen, wenn deine Eltern schlecht gelaunt, gestresst oder beschäftigt sind.

A: Wie bekommt man die Psychoedukation umgesetzt? Gibt es Ansätze dafür sie in der Behandlung zu etablieren?

Albert Lenz: Es gibt sicherlich Ansätze z.B. im Rahmen der stationären Behandlung der Eltern oder in der Erziehungs- und Familienberatung. Psychoedukation wird aber noch nicht systematisch eingesetzt. Es fehlt meines Erachtens noch ausreichend an Bewusstsein dafür, welche Bedeutung Krankheitswissen und Krankheitsverstehen für die Stärkung Kinder psychisch erkrankter Eltern hat. Vielleicht sind die entsprechenden Befunde der Resilienzforschung auch nicht ausreichend bekannt. Psychoedukation muss zu einem festen Bestandteil in der Versorgung Kinder psychisch erkrankter Eltern und deren Familie werden.

A: Wie könnte das konkret aussehen?

Albert Lenz: Psychoedukation sollte in enger Abstimmung zwischen dem Helfer*innensystem der erkrankten Eltern, also Psychotherapeut*in, Psychiater*in, Klinik, Sozialpsychiatrischer Dienst oder Suchtberatung und der Jugendhilfe erfolgen. 


Das Interview führte Christiane Rose

Albert Lenz

Diplom - Psychologe, Familientherapeut, Experte, Forscher und Fachautor zum Thema „Kinder psychisch erkrankter Eltern“, Mitbegründer des Institutes für Gesundheitsforschung und Soziale Psychologie, langjähriges Mitglied im wissenschaftlichen Beirat des NZFH

Zurück zur Übersicht Beitrag als PDF