Psychiatrie, Psychosomatik, Neurologie – Viele Perspektiven auf psychische Symptome
Psychiatrie, Psychosomatik, Neurologie – Viele Perspektiven auf psychische Symptome.
Interview mit Dr. Carmen Cramer
A: Frau Dr. Cramer. Schön, dass Sie zu unserem Interview bei A: aufklaren gekommen sind. Stellen Sie sich bitte einmal vor. Was ist Ihre Profession?
Dr. Carmen Cramer: Ich bin Fachärztin für Neurologie und Fachärztin für Psychiatrie und Psychotherapie. Ich habe beide Fach-arztausbildungen absolviert und arbeite in beiden Fachbereichen unabhängig voneinander aber auch ineinander übergehend, mit unterschiedlichen Zeitanteilen. Das ist mir tatsächlich auch wichtig. Ich bin sehr froh, in beiden Fachgebieten ausgebildet zu sein. In der Neurologie und auch in der Psychiatrie geht es um die Erkrankungen des Nervensystems. Bis vor kurzem gab es noch den Facharzt für Nervenheilkunde. Leider ist der Begriff Nervenheilkunde oft negativ konnotiert, mit Assoziationen wie z. B. Nervenheilanstalt, jedoch bringt es den Zusammenhang auf den Punkt. Die Funktionsstörungen des Nerven-systems kann man nicht nur nach somatischen oder psychischen Aspekten betrachten. Die Auswirkungen einer Erkrankung sind in diesem Bereich sehr vielfältig, wie wir alle wissen.
A: Kommen die Patienten auch zu Ihnen, weil Sie wissen, dass Sie beide Fachgebiete anbieten und einen ganzheitlichen Blick einnehmen?
Dr. Carmen Cramer: Wahrscheinlich einige schon. Die meisten jedoch kommen sehr zielorientiert wegen eines konkreten Anliegens. Aber häufig werde ich gebeten, noch andere Beschwerden mit anzuschauen. Manchmal ist das dann zeitlich ein bisschen kompliziert in unserem System. Mein Ziel und Anspruch ist es schon, das Anliegen ganzheitlich zu sehen. Es ist eben nicht alles nur neurologisch oder nur psychiatrisch. Beides braucht eine gewisse therapeutische Kompetenz.
A: Sie haben lange stationär gearbeitet und nun seit Januar 2022 ambulant. Wie betrachten Sie diese beiden Behandlungssettings?
Dr. Carmen Cramer: In der Klinik habe ich auch schon die Ambulanz geleitet. Ich stelle mir heutzutage immer wieder die Frage: Wann helfen stationäre Behandlungen? Ich habe früher immer gedacht, im Krankenhaus erfolgt die Basisversorgung. Gesellschaftspolitisch wird das scheinbar auch so gesehen. Ich denke jedoch auch - und das war auch in der Klinik schon meine Haltung - die ambulante Versorgung ist im Rahmen der Grundversorgung enorm wichtig.
„Das ist eine andere Verantwortlichkeit, ein ganz anderes Arbeiten als in der Klinik und zudem genauso sinnhaft.“
Im vergangenen Jahr habe ich noch einmal sehr viel Respekt für die niedergelassene Tätigkeit bekommen. Das ist eine andere Verantwortlichkeit und Verbindlichkeit, ein ganz anderes Arbeiten als in der Klinik und zudem genauso sinnhaft. Man ist eben doch im Alltäglichen, an den Lebenswelten der Patient*innen, noch einmal viel enger dran als in der stationären Versorgung. Ich sehe die ambulante Behandlung in der Niederlassung als eine nicht zu vernachlässigende versorgende Tätigkeit und würde mir wünschen, dass das politisch unterstützt noch besser nutzbar gemacht würde.
A: Wie sieht Ihr Praxisalltag aus?
Dr. Carmen Cramer: Ich habe eine neuropsychiatrische Sprechstunde. Da kann jeder terminbasiert kommen, der Beschwerden im neurologischen bzw. psychiatrischen Bereich hat. Hier konzentriere ich mich auf neurologische Erkrankungen des Zentralnervensystems und die psychiatrischen Erkrankungen. Zusätzlich behandle ich im Schnitt fünf bis sechs Psychotherapiepatienten. Mein Schwerpunkt, der sich über die Jahre schon in der Neurologie und dann in der Psychiatrie weiter ausgebildet hat, ist die Behandlung von Frauen. Sie werden in der Studienlage, wenn es um Medikamente geht, immer ein bisschen vernachlässigt.
Während meiner Tätigkeit in der Epilepsie-Ambulanz vor Jahren war dies auch schon immer ein Thema: Was, wenn die Frau schwanger ist? Oder die Jüngeren könnten mal schwanger werden? Und welche Medikamente stehen dann zur Verfügung, welche anderen Aspekte gilt es besonders dann zu berücksichtigen? Das fand ich schon immer interessant und wichtig, geschlechstspezifische Besonderheiten im Fokus zu behalten.
Im psychiatrischen Bereich bin ich dann dabeigeblieben: Frauenspezifische Behandlung in den verschiedenen lebenskritischen Situationen: also unerfüllter Kinderwunsch, Schwangerschaftsabbrüche, Behandlung in der Schwangerschaft, postpartal und in der Menopause und Behandlung des Prämenstruellen dysphorischen Syndroms. Diesen Schwerpunkt habe ich vertieft und ausgebaut. In Hamburg gibt es ein bekanntes muliprofessionelles Netzwerk (Fine e.V., Anm. d.R.) mit Gynäkologen und Psychologen, Hebammen und psychozialen Hilfen. Der Bedarf an fachärztlicher psychiatrischer und psychotherapeutischer Behandlung ist riesengroß, wie alle wissen.
Auch mit Patienten mit neurologischen Erkrankungen vereinbare ich gelegentlich ergänzend psychotherapeutische Sitzungen, meist Kurzzeit-Therapien, z.B. mit dem Fokus auf Krankheitsakzeptanz und Krankheitsbewältigung. Das sind Prozesse, die sehr wichtig sind für das Gesundwerden und in der Behandlung.
„Der Bedarf an fachärztlicher psychiatrischer und psychotherapeutischer Behandlung ist riesengroß, wie alle wissen.“
A: Können Sie für unseren Lesern erklären worin sich die Fachgebiete Neurologie, Psychiatrie und Psychosomatik unterscheiden. Die Unterscheidung in der Facharztausbildung oder die Beschilderung in einer Klinik legen nahe, dass es verschiedene Bereiche sind. Was macht den Unterschied?
Dr. Carmen Cramer: Im Fachgebiet der Neurologie geht es um die Erkrankungen des zentralen und peripheren Nervensystems, also um Befunde, die sich im Gehirn, dem Rückenmark oder den peripheren Nerven widerspiegeln und entsprechende Funktionsausfälle verursachen. Ich kann ein paar Diagnosen nennen.
Da ist die große Gruppe der neuro-degenerativen Erkrankungen. Dazu gehören die Demenzen, die kognitiven Funktions-einschränkungen, die eher im höheren Alter auftreten, aber auch komplexere Syndrome, die mit Sprachstörungen, kognitiven Veränderungen und Bewegungsstörungen einhergehen. Dann natürlich alles, was die vaskuläre Versorgung betrifft, also Schlaganfälle, Durchblutungs-störungen oder Blutungen im Gehirn oder Rückenmark, die dann entsprechende funktionelle resultierende Einschränkungen mit sich bringen. Hinzu kommen die entzündlichen Nervenerkrankungen, die autoimmun vermittelt (Multiple Sklerose) oder aber auch infektassoziiert (Hirnhautentzündungen) sind. Neurologische Erkrankungen sind auch die peripheren Nervenfunktionsstörungen, wie Polyneuropathien mit toxischer, mangel bedingter, infektiöser oder auch ungeklärter Ursache. Epilepsien stellen einen großen neurologischen Bereich dar.
Bei den strukturellen Hirnveränderungen sind immer auch die Hirntumore (gutartige, bösartige) zu erwähnen. Weiterhin gehört das weite Feld der Kopfschmerzen und Migräne dazu. Das ist ein großes Feld, wo man oftmals gut behandeln kann. Gleichzeitig gibt es dabei große Überschneidungen zum psychiatrischen Fachgebiet.
Grob zusammengefasst ist dies das neurologische Arbeitsfeld, letztlich alles sehr funktionell ausgerichtet, mit der Frage ob es einen körperlichen Funktionsverlust gibt und dieser sich auf eine Schädigung des Nervensystems zurückführen lässt.
Auch das Fachgebiet der Psychiatrie befasst sich mit dem zentralen Nervensystem. Z.B. sind bei verschiedenen psychiatrischen Erkrankungen auch strukturelle Veränderungen im Gehirn zu entdecken. Im Wesentlichen befasst sich die Psychiatrie mit den affektiven Erkrankungen von Depressionen, Angststörungen, bipolaren Erkrankungen, Psychosen, Zwangsstörungen bis zu Begleitreaktionen nach lebenskritischen Ereignissen. Das kann eben eine körperliche Erkrankung sein, ein schwerer Verlust, auch eine Gewalterfahrung oder auch eine schwere Trauerreaktion.
Bei der Psychosomatik steht es schon im Namen. Es geht in der Psychosomatik auch um die psychischen Erkrankungen, die auch einen körperlichen Ausdruck bekommen. Dazu gehören chronische Schmerzen, funktionelle Magen-Darm-Beschwerden, kardiale Beschwer-den, also des Herzens, aber auch der Lunge. Also Beschwerden, die ohne körperlichen Befund doch erklärbar sind oder auch manifeste körperliche Erkrankungen mit psychischen Begleitreaktionen.
„Also zum Psychiater will man eigentlich nicht gehen.“
A: Wir sind Menschen im Ganzen, mit all unseren Teilen: Innen und Außen, Herz und Hand und Kopf. Dass wir als System reagieren ist klar. Nochmal zur Psychosomatik: Warum ist das nicht in der Psychiatrie verortet? Das wird in manchen Ländern auch anders gehandhabt, was die Behandlung angeht.
Dr. Carmen Cramer: Das ist eine gute Frage. Ehrlich gesagt, kann ich Ihnen das nicht genau beantworten. Ich glaube, das hat sich berufspolitisch herausgebildet. Es gibt viele kleine Kliniken. Wenn man da zum Beispiel die Leitung übernimmt, leitet man eine psychiatrische und psychosomatische Abteilung. Und das beweißt, dass sich in der Praxis die Dinge verbinden. Die Facharztausbildungen sind etwas unterschiedlich. Die Psychosomatiker müssen während der Ausbildung ein Jahr in einem somatischen Fachbereich lernen. Die Neurologen in der Psychiatrie und die Psychiater in der Neurologie. Die Psychiatrie hat mit der Forensik noch den Fokus auf die Behandlung von Straftätern.
A: … und bei der Unterbringung nach Beschluss. Selbst- und Fremdgefährdungen gehören eindeutig in die Psychiatrie und nicht in die Psychosomatik und nicht in die Neurologie.
Dr. Carmen Cramer: … Sie sprechen das Thema der Zwangsbehandlungen an.
Ich möchte hierbei erwähnen, dass die Patienten genau deshalb allgemein leider oft Angst haben vor dem Psychiater. Das begegnet mir immer wieder. Also zum Psychiater will man eigentlich nicht gehen. Das ist negativ konnotiert. Es ist schade, weil es nicht so ist, dass „man weggesperrt wird“ oder nur die ganz schwer Erkrankten vom Psychiater behandelt werden müssen. Wir haben Patienten aus allen Teilen der Gesellschaft. Und da die Erkenntnisse der letzten zwanzig Jahre, aufgenommen in den Behandlungsleitlinien, zeigen, dass eine psychotherapeutische Behandlung oft in Kombination mit medikamentöser Behandlung am besten wirkt und die Ausbildung der Fachärzte für Psychiatrie einen viel umfangreicheren psychotherapeutischen Anteil hat als zuvor, heisst psychiatrische Behandlung auch nicht gleich Behandlung mit Psychopharmaka. Psychiater lassen zunehmend psycho-therapeutische Behandlungsinterventionen in die Therapie einfließen oder arbeiten auch ausschließlich psychotherapeutisch.
A: Das möchte ich ergänzen. Es gibt viele Menschen, die mit einer psychischen Erkrankung einen Alltag leben und auch arbeiten gehen, die gut behandelt sind. Diese Erfolgsgeschichten, werden viel zu wenig erzählt. Das kennen wir auch aus der Jugendhilfe. Das Jugendamt hat ein ähnliches Ticket: „Da geht man besser nicht hin, weil dann die Kinder weg sind.“ Das ist der Ort für die große Krisenintervention und eine große Fremdbestimmung der Menschen. Diese Zuschreibung teilen die beiden Fachgebiete etwas. Eltern suchen sich eben keine Hilfe, weil sie zum einen Angst haben vor der Stigmatisierung: „Ich habe einen Knall, ich bin irre und dann bin ich in der Psychiatrie und gleichzeitig bin ich unfähig meine Kinder zu erziehen. Sie sind dann auch gleich noch mit weg“. Da treffen sich zwei Bereiche, die keinen guten Leumund haben und wo wir trotz Aufklärungsarbeit noch nicht so weit sind, dass auch die Chancen von Behandlung und Hilfe gesehen werden.
Ich würde jetzt weiter gehen. Wenn Menschen zu Ihnen kommen, die in erster Linie über eher psychiatrische Symptome sprechen, z.B. depressive Verstimmung, Grübel-Gedanken, Schlafstörungen haben, also alles, was bei der Depression verortet ist, oder motorische Unruhe, Antriebssteigerung. Wie gehen Sie vor, wenn Sie das diagnostische Verfahren eröffnen?
„Ich exploriere erstmal Jeden.“
Dr. Carmen Cramer: Ich exploriere erstmal Jeden. Ich lasse frei reden und und frage unterschiedliche Beschwerden ab. Dafür braucht es auch einen klinischen Blick und Erfahrungswerte. Man sieht und merkt Dinge im Sprechen - ob jemand langsam spricht oder Wortfindungsstörungen hat. Und das kann man durchaus auch merken bei Patienten, die vielleicht gar nicht vordergründig eine Depression haben. Das Explorationsgespräch steht immer am Anfang und wenn ich den Verdacht habe z. B. auf eine depressive Erkrankung, dann gehört dazu auch immer eine diagnostische Blutentnahme. Das heißt, wir gucken immer, ob in den Laborwerten kenntlich werdende Befunde zu finden sind, die auch ursächlich psychische Auffälligkeiten nach sich ziehen können, z.B. eine Schilddrüsenunterfunktion, Eisenmangel oder Vitamin-mangel, auch Leber- und Nierenfunktionsstörungen oder endokrinologische Besonderheiten. Wenn ich klinisch den Verdacht auf eine Depression habe, dann nutze ich natürlich auch Diagnostikinstrumente. Das heißt, die Auswertung von Fragebögen und diagnos-tischen Interviews, um meine Beobachtung in einer gewissen Form zu quantifizieren. Und jeder Patient, wird auch zielgerichtet neurologisch und allgemeinkörperlich untersucht. Dabei schaue ich, ob neurologische oder andere Auffälligkeiten bestehen, welche diagnostisch weiterführen. Wenn bei der körperlichen Untersuchung und im Blutbild nichts erkennbar ist, dann schaue ich auf den Zeitkontext: wie lang was besteht, was vorher bestanden hat. Die Anamnese ist sehr relevant: Welche Auffälligkeiten gab es schon früher im Leben? Wenn mir jemand erzählt mit 18 auch schon einmal so eine Phase gehabt zu haben, wo es so ähnlich war – das ist relevant. Ebenso Angaben zur Familienanamnese. Wenn Mutter oder Vater ebenfalls vorerkrankt waren oder sind, dann beziehe ich das mit ein.
Viele Patient*innen kommen erst spät in meine Praxis. Hausärzte sehen 40 % aller psychiatrischen Erkrankungen zum ersten Mal. Das heißt, viele bleiben auch (lange) da, bevor sie bei uns ankommen, was auch an den Terminverfügbarkeiten bei Fachärzten liegt und damit der ungenügenden Versorgungslage. Sie haben sich dann oft schon mit dem Thema und den möglichen Diagnosen beschäftigt und sind womöglich auch schon anbehandelt.
Bei auffälligen Befunden gehört auch eine Bildgebung dazu. Nach den Leitlinien gehört bei jeder Erstdiagnose einer psychiatrischen Erkrankung eine zerebrale Bildgebung dazu, also ein MRT des Kopfes. Hierbei gilt es auch vorsichtig mit den Patienten umzugehen, wenn sie zum Beispiel Krankheitsängste und eine starke Verunsicherung haben. Bei eindeutig körperlichen Hinweisen, die einen Verdacht nahelegen, steht die Bildgebung natürlich sofort an.
„Wenn Mutter oder Vater ebenfalls vorerkrankt waren dann beziehe ich das mit ein.“
A: Wie viele Termine braucht es für die Diagnostik, inkl. Blutentnahme?
Dr. Carmen Cramer: Bei uns ist es in der Praxis so, dass wir die Blutentnahmen immer morgens machen. Wenn jemand morgens da ist und ich sehe ihn das erste Mal, dann erfolgt auch direkt die Blutentnahme. Ansonsten kann das am nächsten Tag morgens erledigt werden. Manche Patienten gehen auch zum Hausarzt, weil es für sie praktischer ist. Das wäre dann ein zweiter Termin. Im Erstkontakt versuche ich schon, die Arbeitsdiagnose zu fassen, entsprechend zu beraten, die weitere Diagnostik vorzubereiten und auch schon die Handlungsoptionen aufzuzeigen.
A: Wie viel Zeit haben Sie in diesem ersten Termin?
Dr. Carmen Cramer: Also für jemand, den ich noch nicht kenne, der neu kommt, habe ich eine halbe Stunde.
A: Das ist knackig.
Dr. Carmen Cramer: Das ist nicht so schlecht, muss man mal sagen. Mehr Zeit wäre aber oft besser.
A: Ich versuche mir gerade vorzustellen, dass die Tatsache, dass jemand zu Ihnen als Neurologin bzw. Psychiaterin kommt bzw. vom Hausarzt überwiesen wurde, Menschen wirklich verunsichert. Wir arbeiten in unserem Feld viel mit Personen, die oft keine Hilfe ersuchen oder die klärenden Gespräche meiden. Sie haben auch oft nicht genügend Gesundheits- und Krankheitswissen, um zu formulieren, was sie bewegt, wie sie leben und was ihr Leid ausmacht oder was sie verändern möchten. Sie sind dann bei ihnen eventuell nicht auskunftsfreudig, sehr verängstigt, vermeiden vielleicht auch das eine oder andere und sind mit der Situation in einer Praxis auch überfordert. Es kann sich bedrohlich anfühlen, mit Ihnen als fremde Person ins Gespräch zu kommen - auch wenn sie nett sind – oder sich in die Praxissituation einzufügen.
Dr. Carmen Cramer: Die Frage, die man sich natürlich immer stellen muss: Ist das repräsentativ, was man jetzt hier gerade im gemeinsamen Erstkontakt erlebt? Deswegen muss man viele, viele Fragen stellen und versuchen, Vertrauen herzustellen. Es geht auch darum, Dinge zu normalisieren und zu validieren und ein Gefühl zu entwickeln, was an Fragen zumutbar ist. Ein Termin reicht nicht aus, um dann zu sagen: „Ich habe alles mitgekriegt.“ Ich denke schon, dass viele, die kommen, einen großen Leidensdruck haben und dann entsprechend vorbereitet sind, um alles genau zu erklären und deutlich zu machen. Die ambulante Situation ist auch noch einmal anders als in der Klinik. Dort geht es um akute Situationen. Die Patienten sind dort oft schwerer in den Kontakt zu bekommen. Aber ich mache eigentlich wenig die Erfahrung, dass diese Zeit im Erstgespräch nicht nutzbar ist und die Patient nicht doch irgendwie deutlich werden.
„Ist das repräsentativ, was man jetzt hier gerade erlebt?“
Als Behandler stehen wir in der Verantwortung, für eine vertrauensvolle Gesprächsatmosphäre zu sorgen und Hürden oder Ängste im Kontakt zu nehmen. Wir sitzen zu zweit in einem Zimmer. Das ist auch noch mal etwas anderes als im Krankenhaus. Ich finde, das Umfeld ist wichtig. Es braucht eine gewisse Wohlfühlatmosphäre. Und ich glaube, dass die meisten merken: „Die meint es gut mit mir“. Wenn sich jemand nicht abgeholt fühlt oder denkt: „mit der Art kann ich nicht umgehen“, dann braucht es länger, das ist klar. Aber Sie haben vollkommen recht, ein Besuch reicht natürlich nicht, dass man da mit einer Diagnose und einem Rezept rausgeht und alles ist fine. Es braucht oft häufigere Vorstellungen. In der Regel sehe ich die Erstpatient*innen in wenigen Wochen zum zweiten Mal.
A: Wann verweisen Sie an spezialisierte Ärzte? Sie sprachen von Demenz. Es gibt die Demenz-Sprechstunden, das Epilepsie-Zentrum oder den Kardiologen. Wann geben Sie ab?
Dr. Carmen Cramer: Ich bin keine Kardiologin. Ich bin jetzt auch nicht in der Epilepsie-Ambulanz oder kann kein 24 Stunden EEG machen. Ich finde gewisse Dinge müssen von Spezialisten betrachtet werden. Ich frage mich dann, und das sage ich auch immer dem Patienten: „Was würde ich mir denn wünschen?“ Das heißt, wir schauen breit, aber wir können uns nicht anmaßen, dass wir Alles können. Bei einigen Erkrankungen ist die Aktivität des Krankheitsgeschehens ein Punkt für die Weiterverweisung. Wenn jemand seinen ersten Anfall hatte oder seinen zweiten - das wäre relevant. Dann würde ich sehr schnell ans Epilepsie-Zentrum verweisen. Wenn ich eine Migräne-Patientin habe, die ich jetzt schon eine Weile behandle und wo wir merken, dass wir an Grenzen kommen, die schicke ich gerne nach Kiel in die Kopfschmerz-Ambulanz. Natürlich schicke ich zum Radiologen, viel zu Kardiologen oder Internisten, mit kardiologischem Schwerpunkt. Bei einer Psychopharmaka-behandlung braucht es regelmäßige EKG`s zur Kontrolle oder auch bei Patienten mit sogenannter „Herz-Angst“. Dann braucht es Differentialdiagnostik, um alles Somatische auszuschließen. Das ist tatsächlich ein kleiner Balanceakt, weil man Ängste verstärkt, je mehr man untersucht. Aber es muss differenziert und diagnostisch alles ausgeschlossen werden.
„Ich finde, das Umfeld ist wichtig. Es braucht eine Wohlfühlatmosphäre.“
Wenn es einen Facharzt gibt, der täglich Autismus-Spektrum-Störungen diagnostiziert und behandelt, dann haben die Patienten Anspruch auf eine spezialisierte Sprechstunde. Genauso spezialisiert sind MS-Ambulanzen und so könnte man ewig fortführen Jeder hat verdient, spezifisch behandelt zu werden, wenn es denn die Verfügbarkeit hergibt. Es gibt natürlich auch viele Erkrankungen, von denen ich sagen kann: „Das können wir hier gut behandeln.“ Und gleichzeitig kläre ich die Patienten über ihre Möglichkeiten auf.
A: Werden Sie auch von Anderen hinzugezogen? Bekommen Sie auch Anfragen von anderen Fachkollegen?
Dr. Carmen Cramer: Ich arbeite relativ viel mit Gynäkologen zusammen. Sie schicken z.B. Frauen in und nach der Schwangerschaft, Menopause, Frauen mit einem PMDS (Prämenstruellen Dysphorischen Syndrom). Diese sehe ich vielleicht später noch einmal. Es kommen auch Patienten mit onkologischen Vorerkrankungen. Einige Psychotherapeuten, schicken ihre Patienten für eine spezifische Diagnostik oder zur Beratung bezüglich Medikation auch mal zum Psychiater. In manchen somatischen Behandlungssituationen geht es um die Erhebung eines psychopathologischen Befundes, mit speziellen Fragestellungen, z. B., ob jemand entscheidungs- und einsichtsfähig ist oder es andere Gründe oder diagnostische beweise für eine Operation gibt.
A: Gehen wir noch einmal auf die systemische Perspektive ein. Der Mensch funktioniert und reagiert als Ganzes…
Dr. Carmen Cramer: …Genau. Die Verbindung zwischen Neurologie und Psychiatrie ist eng. Also ich denke da spontan an eine Patientin mit MS (Multipler Sklerose), die die Diagnose vor kurzem bekommen hat und sich total aus dem Leben gerissen fühlt. Da ist es hilfreich, dass ich das Krankheitsbild kenne, und parallel sehe ich auch, welche Anpassungsreaktion sie auf der psychischen Seite zeigt. Das kann ich ansprechen und schauen, ob es eine Bereitschaft gibt, sich auch psychotherapeutisch unterstützen zu lassen. Zudem ist es wichtig aufzuklären, dass Fatigue und depressive Verstimmungen zum Krankheitsbild der MS gehören können. Wenn sie dann nicht mehr schläft oder wegen ganz vieler realer Ängste grübelt, dann kann ich gemeinsam mit ihr versuchen, eine Behand-ungsoption zu finden, die das lindern könnte.
Oder ich habe eine Patientin, die hatte eine Hirnblutung, eine ähnliche Herausforderung im Leben. Ich begleite sie im Rahmen der neurologischen Kontrolluntersuchungen und parallel bei der Krankheitsakzeptanz und -bewältigung. Es geht um das Validieren der Trauer des Verlustes von Funktionen und darum, einen neuen Weg zu finden.
„Es geht auch um das Validieren der Trauer, des Verlustes von Funktionen und einen neuen Weg zu finden.“
Dann gibt es noch das Thema der Erschöpfung. Es kann ein depressives Symptom sein, kann zu einer Depression oder einem Burnout gehören. Aber natürlich kann es auch ein Hinweis für eine körperliche Erkrankung sein. Dann bin ich wirklich froh, aus beiden Ecken schauen zu können. Möglicherweise ist es primär gar keine Depression, sondern ein Krankheitszeichen einer somatischen Erkrankung.
Die Schilderung, dass jemand weniger Antrieb, weniger Freudefähigkeit hat ist ein Symptomkomplex, ein Baustein. Mit einem ganzheitlichen Blick kann man oft auch sehen, ob jemand ein bisschen hypomimetisch ist, also das Gesicht ein bisschen weniger lebhaft reagiert. Hinzu käme Vergesslichkeit oder die Person kann auch seit Jahren schlecht riechen und hat eine reduzierte Bewegungsflüssigkeit. Das wird dann der entsprechenden Diagnostik zugeführt. Es ist alles relevant und braucht Behandlung, die Primärerkrankung und die Erkenntnis um den Befund, der oft eine erhebliche Erschütterung auslöst.
A: Weil wir so viel über Systeme sprechen, möchte ich auch das Familiensystem ansprechen. Gerade wenn Sie auch Frauen rund um lebenswichtige Ereignisse begleiten, dann sind Kinder ein Thema. Welche Rolle spielen Familien- und Angehörigengespräche in ihrer Arbeit?
Dr. Carmen Cramer: Ich biete das sehr häufig an. Es wird nicht so oft wahrgenommen, ehrlich gesagt. Ich sage den Patienten auch immer: „Letztlich ist bei einer Krankheit eines Familienmitglieds das ganze System betroffen.“ Deswegen macht es immer Sinn, egal ob bei einer körperlichen oder einer psychiatrischen Erkrankung. Ich finde es aus verschiedenen Aspekten immer gut. Ich bin aber auch ehrlich: es ist natürlich ein Zeitfaktor. Bei Demenzpatienten ist es unabdingbar, bei manchen psychiatrischen Patienten auch, die Partner einzubeziehen. Es kommt nicht so oft dazu, das muss ich sagen.
Tatsächlich bringen eher länger psychiatrisch kranke Patient ihre Bezugsbetreuer aus der ambulanten sozialpsychiatrischen Hilfe mit. Das ist immer ganz schön, weil man dann auch etwas aus dem Kontext mitkriegt. In dieser Praxis habe ich eben nur diese Momentaufnahme im eins zu eins, wo sich natürlich vieles nicht sofort zeigt.
Bei den jungen Müttern kommen die Partner eher mal mit, aber auch nicht häufig. Für die Betroffenen sind Angehörigengespräche oft sehr gut. Es geht alle in der Familie an und ist nicht ein abgekoppeltes Problem. Die Frauen haben natürlich oft ihre Babys dabei. Das ist wichtig, um auf die Interaktion zu schauen.
Ich habe ein paar Jugendliche, die ich ab 17 Jahren behandeln kann, wenn sie entsprechend „reif“ sind. Hier kommen die Eltern dann schon auch mal mit, wenn es um spezielle diagnostische Fragen und Entscheidungen geht. Und ich habe auch Jugendliche, die eben ein krankes Elternteil haben. Sie kommen dann alleine als eigene Patienten. Es geht z.B. um den Student, der belastet ist und seinen Alltag schwer auf die Reihe kriegt, weil es alles zu viel ist. Er kümmert sich auch um seine schwer kranke Mutter und sucht nach Strategien, um das besser hinzubekommen.
„Es geht alle in der Familie an und ist nicht ein abgekoppeltes Problem.“
A: Dann komme ich zu unserer Abschlussfrage: Was denken Sie, was braucht es in Hamburg für Kinder von psychisch erkrankten Eltern in den nächsten Jahren?
Dr. Carmen Cramer: Ich glaube, es fängt ganz früh an, nämlich dass an den Kitas und Schulen eigentlich mehr Aufmerksamkeit auf psychische Besonderheiten und den familiären Kontext gerichtet werden muss. Ja, ich würde mir mehr Sensibilität und Mut, Fragen zu stellen an den Schulen wünschen.
Außerdem braucht es die Umsicht der Behandler der Eltern. Sie gucken wahrscheinlich nicht immer auch auf die Kinder, es sei denn, es gibt Gefährdungssituationen.
Dazu kommen Gruppen für Kinder psychisch erkrankter Eltern. Ich denke, so etwas bräuchte es viel, viel mehr. Ich wünschte mir manchmal noch mehr Angebote im Bereich Erziehungsberatung oder Familienhilfe. Es ist schwer für die Betroffenen, dort Fuß zu fassen. Man muss sich ganz schön durchackern, also immer wieder anrufen. Es braucht mehr niedrigschwellige Familientherapeutische Angebote und Informationen dazu.
Und es ist gar nicht so einfach, zu wissen, was es überhaupt alles gibt. Als ich im Hamburger Westen gearbeitet habe, da hatte ich so ein paar Adressen. Jetzt bin ich eher in der Innenstadt und da muss ich mich auch wieder neu orientieren. Es gibt so viele gute Institutionen. Es gibt auch viele engagierte Ergotherapiepraxen, die eben auch soziotherapeutisch arbeiten. Leider sind sie meist alle voll.
Es sollte viel mehr direkte Verbindungen zu den Helfern geben, die sich um die Familien kümmern und sie gut kennen. Der Hauptafktor hierfür ist sicherlich Zeit und eine entsprechende Vergütung, um diese Hilfesysteme weiter aufzubauen und aufrechtzuerhalten und auch die Vernetzung besser zu ermöglichen.
Auch die Möglichkeiten, bestimmte Leistungen zu verordnen, könnte einfacher sein. Es geht wohl viel um Niedrigschwelligkeit.
A: Frau Dr. Cramer, haben Sie vielen Dank für das Interview und ihre umfassenden Erläuterungen.
Carmen Cramer
Fachärztin für Psychiatrie und Psychotherapie (Verhaltenstherapie, Schematherapie und ACT),
Fachärztin für Neurologie