Patenschaften stärken Kinder von psychisch kranken Eltern

So können Kinder bei in ihren leiblichen Familien bleiben

Interview mit Klaus Schuller

Klaus Schuller ist langjähriger Mitarbeiter bei PFIFF und begleitet Patenschaften für Kinder psychisch kranker Eltern - ein Modell, das sich sehr bewährt hat. Dabei geht es darum, den Kindern zu ermöglichen, in ihrer Familie zu bleiben und ihre erkrankten Eltern zu entlasten.

A: Herr Schuller, Sie begleiten die Patenschaften für Kinder psychisch kranker Eltern bei PFIFF?

Klaus Schuller: Ja, ich bin Mitarbeiter bei PFIFF, einer von drei Mitarbeiter*innen beim Team Patenschaften für Kinder psychisch kranker Eltern, dass es seit dem Jahr 2000 gibt. Vorher gab es bei PFIFF schon die Arbeitsbereiche, Vollzeit- und Bereitschaftspflege. Im Jahr 2000 ist dann das Projekt Patenschaften an den Start gegangen. Das ist aus den Erfahrungen in der Bereitschaftspflege entstanden.

A: Was sind die Unterschiede zwischen den Bereichen Vollzeit- und Bereitschaftspflege und den Patenschaften?

Klaus Schuller: Die Vollzeitpflege ist ja ein Modell zur Unterbringung von Kindern im Rahmen der Jugendhilfe, dass dann eingesetzt wird, wenn die leibliche Familie des Kindes nicht mehr tragfähig und stabil genug ist, um Lebensmittelpunkt des Kindes zu sein. Das heißt dann, das Kind lebt dauerhaft in einer anderen Familie, in einer Vollzeitpflegefamilie. Die Bereitschaftspflege ist eine Pflegeform, die wird dann eingesetzt, wenn es eine Klärung geben muss, z.B. eine Krisensituation in der leiblichen Familie besteht. Dann wird das Kind erst einmal an einen sicheren Ort gebracht. Das machen Bereitschaftspflegefamilien. Das ist  ein familiäres Setting ist, bei dem der Kontakt zu den leiblichen Eltern erhalten bleibt.

Der Zeitraum in der Bereitschaftspflege ist begrenzt, bis eine Klärung stattgefunden hat. Die zeitliche  Begrenzung ist davon abhängig, wie schnell die Klärung erfolgt, ob das Kind zurück in seine Familie kann oder ob eine andere Unterbringung gesucht werden muss. Das sind die beiden Formen von Pflegefamilien, die wir als Träger begleiten. 

A: Die Patenschaften ergänzen diese Angebote der Pflegefamilien? 

Klaus Schuller: Zur Entstehungsgeschichte der Patenschaften: Es gab wiederholt Anfragen für eine Unterbringung derselben Kinder in Abständen von ein paar Monaten. Der Hintergrund war, dass es psychische Belastungen oder Erkrankung in der Familie gab und immer wieder Krisen, so dass das Kind immer wieder untergebracht werden musste. Die Bereitschaftsfamilien sind aber so konzipiert, dass sie nicht dauerhaft für ein Kind bereitstehen, sondern immer nur, wenn angefragt wird. Für ein Kind in unserem Beispiel heißt das: Bei der ersten Anfrage zur Unterbringung kam es in Familie A, bei der zweiten Anfrage musste es zu Bereitschaftsfamilie B und bei der dritten zu Familie C. Das ist natürlich für ein Kind eine unerträgliche Situation. Es ist schon Belastung genug, herauszumüssen aus der eigenen Familie, und dann immer noch in ein komplett neues Umfeld. 

Daraus ist die Idee der Patenschaften entstanden. Das Konzept dabei ist, es wird in guten Zeiten eine stabile Beziehung von einer Familie zu einem Kind aufgebaut. In Krisenzeiten ist diese Patenfamilie bereit, das Kind aufzunehmen. Dann kommt das Kind bei einer Unterbringung in ein vertrautes Umfeld, es kennt die Erwachsenen und das Umfeld. Wenn die Krise überwunden ist, kann das Kind zurück in seine leibliche Familie. Um das nochmal zu kontrastieren: Das Modell Pflegefamilie heißt, der Lebensmittelpunkt des Kindes wird ersetzt. Die Patenfamilie ersetzt nicht den Lebensmittelpunkt, sondern hat das Ziel, dass das Kind in seiner Familie weiterleben kann.

Der Lebensmittelpunkt bleibt bei seinen Eltern. Um zu entlasten und zu stabilisieren, treten die Pat*innen ein. Entlastung, das heißt regelmäßige Betreuung und Versorgung des Kindes durch die Pat*innen. Dass die Eltern sich darauf verlassen können, dass die Kinder z.B. immer Mittwochnachmittag bei den Pat*innen sind. Da können die Eltern mal Luftholen und wissen, mein Kind hat es gut.

Wenn die Krise überwunden ist, kann das Kind zurück in seine leibliche Familie, in seinen Lebensmittelpunkt.

A: Das heißt, die Pat*innen sind quasi im Standbybetrieb?

Klaus Schuller: Genau, die Patenschaft läuft in guten Zeiten, wenn es keine Krisen gibt, als regelmäßiger Kontakt. Es gibt wöchentlich Termine des Kindes in der Patenfamilie, so dass die Beziehung erstmal gut aufgebaut wird und einfach zum Leben des Kindes dazugehört.
Das ist für die Kinder die bestmögliche Unterbringung, wenn es zur Krise kommt. Sie sind dann da, wo es ihnen gut geht. Zu wissen, dass Mama oder Papa im Krankenhaus sind, ist ja für Kinder schon Belastung genug. Sie brauchen ein tröstendes, fürsorgliches Umfeld, um das auszuhalten.

A: Ich kann mir auch vorstellen, dass viele Eltern es nicht so gut finden, dass ihre Kinder bei anderen sind. Kommt es nicht zu Eifersucht und Konkurrenzsituationen?

Klaus Schuller: Am Anfang, wenn wir so eine Patenschaft starten, sagen wir ausdrücklich, dass das Kind zusätzliche Bezugspersonen bekommt, die mit dem Kind Dinge unternehmen, die die Eltern selbst vielleicht nicht können oder mögen. Es soll eine Ergänzung sein. Aber das Thema Konkurrenz ist ein wichtiges Thema. Wir sprechen diese Gefühle an, wenn die Eltern es z.B. kaum aushalten können, dass die Kinder es so toll finden bei den Pat*innen. Es ist eine Aufgabe, die die Eltern sowieso bewältigen müssen, nämlich Bindungstoleranz. Sie müssen eine Haltung entwickeln: Mein Kind darf es auch woanders guthaben. Es ist wichtig für die Entwicklung meines Kindes, dass es auch andere Erwachsene mag und eigenständige Beziehungen zu anderen aufbaut. Wir thematisieren das zu Beginn einer Patenschaft, um das bewusst zu machen. Wenn man das so theoretisch anspricht, sagen alle immer, stimmt. Wenn dann aber Gefühle hinzukommen, ist das nochmal was anderes.

A: Dann können die Eltern die Patenschaft auch als Entlastung sehen?

Klaus Schuller: Das ist die Idee und das gelingt auch in den meisten Fällen. Die Pat*innen wollen den Eltern ja nicht die Kinder abspenstig machen, sondern sehen sich als Ergänzung. Ein zusätzlicher guter Ort für das Kind. Die Eltern wenden sich freiwillig an PFIFF. Es ist nichts, was Ihnen auferlegt wird. Wenn man das kontrastiert zu Eltern, deren Kind nicht mehr bei Ihnen leben darf, wird deutlich, wie fundamental das ist. Es ist keine vom Jugendamt bestimmte Maßnahme, wie die Unterbringung in einer Pflegefamilie, die oftmals gegen den Willen der Eltern ist. Dann entsteht eine gewisse Konkurrenz und Missgunst. Die Patenschaften hingegen sind sehr niedrigschwellig. Die Eltern wenden sich telefonisch oder per Mail an uns und stellen einen Antrag. Sie müssen nicht über das Jugendamt oder den Allgemeinen Sozialen Dienst gehen. Das ist uns wichtig, dass wir niedrigschwellig erreichbar sind und nicht automatisch aus den Kindern ein Fall beim Jugendamt wird.

A: Sie haben eine Liste von potenziellen Pat*innen, die sich vorstellen können, eine Patenschaft zu übernehmen?

Klaus Schuller: Das wäre schön. Es ist so, die Kinder stehen in der Warteschlange. Wir haben Mühe, ausreichend Pat*innen zu gewinnen. Wir haben eine Anfrageliste und wir qualifizieren auch regelmäßig Pat*innen. Dann schauen wir, was passt, wo können wir ein gutes Match herstellen und vermitteln die Kinder an die Pat*innen.

A: Wie werden die Patenfamilien auf ihre Aufgabe vorbereitet und begleitet?

Klaus Schuller: Wir qualifizieren regelmäßig Pat*innen und haben eine Patengruppe, die sich monatlich trifft. Auch machen wir regelmäßige Reflexionsgespräche mit den Pat*innen und den Eltern. Wie läuft es in der Patenschaft? Was läuft gut und wo braucht es noch Veränderung? Das gibt es am Anfang alle drei Monate, dann in größeren Abständen. Das ist auch eine Anforderung an die Pat*innen, daran teilzunehmen.

Wir suchen Menschen, die Lust und Zeit haben, ein Stück ihres Lebens mit einem Kind zu teilen

A: Wie läuft die Gewinnung von Pat*innen ab?

Klaus Schuller: Am Anfang gibt es oft ein Telefonat, in dem wir erklären, wie das abläuft. Dann gibt es Infoabende, die gut geeignet sind, sich weiter zu informieren. Dann gibt es Einzelgespräche. Da wird geschaut, ob die Personen geeignet sind. Manche Menschen sind selbst vorbelastet aus ihrer Lebensgeschichte oder haben andere Vorstellungen. Wenn der Schritt gemacht ist, schicken wir die Menschen zum Seminar, 5 Mal 2,5 Stunden. Dort wird vermittelt, was es für Kinder bedeutet, wenn Eltern psychisch krank sind. Welche Auswirkungen es hat, welche Dynamik entstehen kann, welche Belastungen und wie gute Abgrenzung gelingt etc. Dann kommen noch Einzelgespräche, wo wir den biografischen Hintergrund der Eltern beleuchten. Das ist ähnlich der Qualifizierung von Pflegeeltern. Dann muss noch eine Pflegeerlaubnis beim Jugendamt beantragt werden. Die Pat*innen werden aufgefordert einen Drogentest, ein Gesundheitszeugnis und ein polizeiliches Führungszeugnis beizubringen. Die Kolleg*innen vom Pflegekinderdienst des Bezirkes machen einen Hausbesuch. Das ist der Blick in die Patenfamilien, ob alles mit rechten Dingen zugeht. Das ist eine recht hoch angesetzte Forderung der Behörde. Für manche ist das eine Hürde, dass sie einen Einblick in ihre Biografie geben müssen, das ist aber so vorgeschrieben. 

A: Wir haben die Besonderheit, dass die Patenschaft im Haushalt der Pat*innen umgesetzt wird und dass die Krisenbereitschaft dabei ist. Das ist unser Alleinstellungsmerkmal unter den vielen Patenprojekten, die es in Hamburg gibt.
Welche persönlichen Voraussetzungen müssen die Pat*innen mitbringen?

Klaus Schuller: Eckpunkte sind: Man muss eine Stabilität in der Lebenssituation haben. Wenn man sich gerade trennt, ist das z.B. ungeeignet. Man muss Lust und Zeit haben, eine bestimmte Zeit seines Lebens mit einem Kind zu verbringen. Das kollidiert manchmal mit der Berufstätigkeit. Einen Nachmittag in der Woche sollte man schon Zeit haben und Flexibilität in Krisenzeiten wäre auch gut. Und es muss genügend Wohnraum für das Kind vorhanden sein.

A: Muss man in einer Familie leben oder darf man z.B. auch Single sein?

Klaus Schuller: Wir haben da keine Norm. Die Gesellschaft ist ja sehr bunt. Es reicht von alleinstehenden jungen Personen bis zu Menschen im Rentenalter. Familien mit und ohne Kinder, gleichgeschlechtliche Paare, die Bandbreite ist groß. Es kommt uns eher darauf an, dass es stabile Persönlichkeiten sind, die mit der richtigen Motivation an die Sache herangehen, die Lust und Zeit haben, ein Stück ihres Lebens mit einem Kind zu teilen und sich auf zwei Jahre und länger festzulegen.

A: Gibt es finanzielle Unterstützung für die Pat*innen?


Klaus Schuller: Das ist ein ehrenamtliches Engagement. Dafür gibt es eine Aufwandsentschädigung. Wir haben das gestaffelt, je nachdem, wie intensiv die Betreuung ist.

Das ist ein großes Geschenk, dass wir Ehrenamtliche haben, die sich so toll engagieren

A: Wie viele Patenschaften betreuen Sie?

Klaus Schuller: Die Größenordnung ist betrüblich, wenn man die Zahlen kennt von Kindern, die in Hamburg mit psychisch kranken Eltern aufwachsen, etwa 77.000 Kinder. Wir haben genau 40 Plätze für Patenkinder. Dem gegenüber stehen jährlich 80 Anfragen, davon können wir vielleicht 10 Patenschaften neu besetzen. 
Wir sind immer dabei zu gucken, wo wir erweitern können. Wir haben mit 12 Patenschaften begonnen im Jahr 2000. Jetzt sind wir bei 40 Plätzen mit zwei vollen Stellen zur Begleitung, das ist schon ganz gut. 

A: Haben Sie gute Erfahrungen mit dem Setting gemacht?

Klaus Schuller: Manche Patenschaften verlaufen über lange Zeit ganz ruhig. Das ist vielleicht auch der Tatsache geschuldet, wenn Pat*innen als Teil des sozialen Netzes funktionieren, hat das eine stabilisierende Wirkung. Die Eltern sind mit einem ganz anderen Gefühl im Alltag, als wenn sie ganz alleine wären. Beispiel: Ein Sechsjähriger kam ganz unruhig in die Patenschaft. Der hatte drei längere Aufenthalte bei den Pat*innen, die Mutter mit Schizophrenie musste 6 bis 8 Wochen in die Klinik. Aber der Junge brauchte nicht in eine Wohngruppe und hat das gut überstanden, hat sich stabilisiert. 

Es fühlt sich einfach gut an und es ist sehr sinnstiftend.

Wir haben in jedem Jahr zwei, drei Krisenunterbringungen. Das ist ein großes Geschenk, dass wir Ehrenamtliche haben, die sich so toll engagieren. Wenn wir Patenschaften einrichten, haben die Leute oft Zweifel, ob sie das überhaupt schaffen. Nach einem halben Jahr sind Pat*innen und Kind oft gut zusammengewachsen. Wenn eine Krise entstehen würde, würden die Pat*innen das niemals ablehnen. Da ist eine richtige Beziehung entstanden.

A: Wie nehmen Sie den Paten die Angst vor der Verantwortung?

Klaus Schuller: Wir sagen den Menschen immer, sie sind nicht Leibeigene, sie fahren auch in den Urlaub und machen das, was sie in ihrem Leben machen wollen. Es hilft auch manchmal, dass wir aus Erfahrungen berichten, wie sich so etwas entwickelt. Wenn alle Stricke reißen und es auf der Beziehungsebene schwierig wird, können wir immer noch nach Alternativen suchen.

Wichtig ist, die Ängste zu nehmen, dass es schwierig werden kann mit einem Kind psychisch belasteter Eltern. Auf der Kinderebene haben wir die wenigsten Schwierigkeiten. Es gelingt fast immer gut, dass Pate*innen und Kinder zusammenwachsen. 

A: Ist es auch für Pat*innen eine Bereicherung ein Kind zu betreuen?

Klaus Schuller: Auch für die Pat*innen ist das ein neues Thema. Es ist ein Lernfeld. Die weitaus größte Zahl unserer Pat*innen hat ganz viel Spaß mit seinen Patenkindern und empfindet das als eine richtig tolle Aufgabe. 
Manchmal sagen die Bewerber am Anfang, wir wollen gerne helfen. Im Alltag nimmt das eine Gestalt an, dass sie merken, dass ihr Patenkind gut ankommt und alle Spaß haben. Natürlich ist das auch eine große Hilfe. Aber vor allem ist es ihr Leben und das Patenkind gehört dazu. Es fühlt sich einfach gut an und es ist sehr sinnstiftend.

A: Was wünschen Sie sich, um die Patenschaften leichter zu machen?

Klaus Schuller: Unser Konzept ist tragfähig und hat sich bewährt. Schwierig ist es, neue Pat*innen zu gewinnen. Wir brauchen mehr Öffentlichkeitsarbeit und wir würden gerne die Wertschätzung für die bereits aktiven Pat*innen verstärken, z.B. in Form eines Weihnachtsessen, aber dafür haben wir kaum Mittel. Das Budget ist knapp bemessen. Das Angebot wird von der Behörde finanziert. Ich würde mir Unterstützung wünschen, um z.B. Spenden oder Stiftungsgelder zu beantragen. Patenakquise und die Wertschätzung der Pat*innen kommen zu kurz. Dabei ist es doch deutlich geworden, was die Pat*innen für einen guten Job machen. 

Das Gespräch führte: Christiane Rose

Klaus Schuller

PFIFF gGmbH - Pflegekinder und ihre Familien 

Patenschaften für Kinder psychisch erkrankter Eltern 
 

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