Nie genug
Von meiner Kindheit mit einem narzisstischen Vater
Gastbeitrag von Sabine
Stellen Sie sich vor, es ist tiefster Winter, doch glücklicherweise befinden Sie sich in Ihrem gemütlichen Wohnzimmer. Es ist warm und sanft erleuchtet. Sie sitzen auf dem Sofa, haben eine weiche Decke um die Schultern gelegt. In der Hand halten Sie eine warme Tasse Kakao oder Tee. Vielleicht sind Sie von Ihren liebsten Menschen umgeben, denen Sie vertrauen und mit denen Sie schöne Erlebnisse teilen. Durch das Fenster können Sie den Sturm beobachten, der vor dem Haus wütet. Aber Sie fühlen sich sicher und geborgen, denn Sie wissen, dass Ihnen nichts passieren wird.
Als Kind und Jugendliche war für mich stets Winter – vor und in dem Haus. Es fühlte sich immer kalt an. Nicht nur im Herzen, sondern auch nachts, wenn man mir verbot, die Heizung aufzudrehen, weil ich fror.
Wenn man als Kind eines Menschen mit narzisstischer Persönlichkeitsstörung aufwächst, findet man weder Freude noch Leichtigkeit bei sich zu Hause. Vor allem fehlt aber die Sicherheit; die Gewissheit, dass mir als Kind nichts passiert. Mein Vater war wie eine tickende Zeitbombe, stets unberechenbar. War gestern ein Verhalten noch in Ordnung, war das Selbige es heute nicht mehr. Gab es Probleme oder etwas lief schief, war es stets die Schuld des schwarzen Schafes. Das schwarze Schaf war ich. Mein jüngerer Bruder hingegen war das „goldene“ Kind. Warum dies so war, weiß ich nicht. Es galten nie dieselben Spielregeln für uns beide. Verängstigt beobachtete ich intensiv meine Umgebung, um irgendwie vorher zu sehen, was als nächstes passieren könnte. Knallt es gleich? Werde ich wieder erniedrigt? Werde ich den ganzen Tag ignoriert, als existiere ich nicht?
„Kinder haben ein großes Feingefühl dafür, ob auch mit Papa alles in Ordnung ist.“
Ich war völlig verzweifelt. Aus dem „Was ist falsch mit mir, warum werde ich stetig bestraft?“ wurde langsam ein „Ich bin falsch, ich bin schlecht und nicht gut genug.“ Dennoch flehte ich innerlich immer wieder nach der elterlichen Liebe und Zuwendung. Ich wollte nicht mehr falsch sein und versuchte alles so zu tun, wie man es von mir erwartete. So kam ich stolz von der Schule mit einer Eins nach Hause, doch man freute sich nicht für mich. Ich durfte auch nicht stolz auf mich sein, denn die Eins wäre erst wertvoll gewesen, wenn ich die Bonuspunkte auch bekommen hätte und vor allem, wenn ich die Eins immer nach Hause gebracht hätte.
„Was ist falsch mit mir, warum werde ich stetig bestraft?“
Auch Freundschaften waren schwierig. Es war mir unangenehm, Freunde nach Hause zu bringen, da ich spürte, dass meine Familie irgendwie anders war. Doch wenn ich bei Freunden war, konnte ich ein wenig mehr ich selbst und vor allem viel mehr Kind sein. Es durfte laut gelacht werden, man durfte Spaß haben. Wenn ich daheim glücklich von meinen Erlebnissen erzählte, hieß es nur „Wahre Freunde gibt es nicht!“ und ich wurde wieder traurig.
„Doch wenn ich bei Freunden war, konnte ich ein wenig mehr ich selbst und vor allem viel mehr Kind sein.”
Als ich zwölf Jahre alt war, hatte ich das erste Mal Hoffnung, es könne sich alles ändern. Mein kleiner Bruder erzählte seiner Klassenlehrerin, dass wir Kinder zu Hause geschlagen wurden und sie bestellte prompt meine Eltern in die Schule. Nach dem Gespräch kam mein Vater stolz wieder und berichtete genau, was er der Lehrerin sagte. Er schob die Gewalt nur meiner Mutter in die Schuhe, sagte, es läge an der fremden Kultur, aus der sie kam. Er würde sich darum kümmern, dass sich das ändert und nie wieder passiert. Die Lehrerin gab sich damit zufrieden und fragte nicht mehr nach.
„Als ich zwölf Jahre alt war, hatte ich das erste Mal Hoffnung, es könne sich alles ändern.”
Tatsächlich änderte sich nichts. Lehrer*innen und andere Außenstehende redeten immer sehr positiv über meine Familie. Vor allem mein Vater war so humorvoll und intelligent. Nahezu jeder mochte ihn. Wir lebten in einem netten Haus, waren stets gut gekleidet und genährt. Niemand ahnte, was hinter unseren vier Wänden geschah.
Vielleicht hätte es die Lehrerin ahnen können. Vielleicht hätte sich was geändert, wenn sie weiterhin auf unsere Familie ein Auge gehabt und vehementer nachgebohrt hätte. Vielleicht hätte ich den Moment nutzen und mich zu Wort melden sollen. Doch ich war nur ein ängstliches Kind, das damals noch keine Stimme hatte.
Ein Gastbeitrag von Sabine