Mit Notfallplänen durch die Krise
Was Kindern hilft, wenn psychisch erkrankte Eltern in eine akute Krankheitsphase geraten
Etwa 77.000 Kinder in Hamburg leben mit einem oder mehreren Elternteilen, die psychisch erkrankt sind. Das heißt, sie erleben häufig wiederkehrende Krankheitsphasen ihrer Eltern, die als akute Krise zu bezeichnen sind. Was aber auch heißt, dass die Krise nicht unerwartet kommt und Kinder, Eltern und Helfer*innen sich darauf vorbereiten können. Wenn der belastete Elternteil umfänglicher von der Erkrankung betroffen ist und sich die Symptome verschlimmern, entsteht für die Kinder eine Situation, in der sie Hilflosigkeit, Überforderung und häufig große Ohnmacht erleben. Besonders dann, wenn die Kinder solche Situationen schon öfter erlebt haben, wächst die Angst um den Elternteil, dass er sich vielleicht etwas antut, dass Mama oder Papa wieder in die Klinik müssen, dass das Kind von seinem Elternteil getrennt wird und der gewohnte Lebensrhythmus erneut unterbrochen wird.
Neben der Angst steigt auch das Verantwortungsgefühl, die Situation klären zu wollen, für Geschwister zu sorgen, Eltern zu helfen, nach außen hin Normalität zu suggerieren. Viele Kinder erleben zudem Schuld- und Schamgefühle und fragen sich: „Bin ich schuld, dass es Mama/Papa wieder so schlecht geht?“ Damit diese Kinder mit all ihren Phantasien, Gefühlen, Erklärungs- und Bewältigungsversuchen nicht allein bleiben, gilt es mit ihnen ins Gespräch zu kommen.
Was ist mit Mama/Papa los?
Dazu benötigen die betroffenen Kinder zunächst einmal Informationen über die Erkrankung des Elternteils. Dies kann im Rahmen einer kindgerechten, dem jeweiligen Entwicklungsstand entsprechenden Psychoedukation erfolgen, in der das Kind erfährt, wie die Erkrankung heißt, mit welchen Symptomen sich diese äußert, wie sie behandelt werden kann. Es sollte vor allem deutlich gemacht werden, dass das Kind nicht dafür verantwortlich ist, wenn es dem Elternteil entweder besser oder schlechter geht. Eine wichtige Botschaft für alle Kinder von psychisch erkrankten Eltern.
Einige Eltern trauen sich dies selbst zu, andere wünschen sich dabei Hilfestellung von Fachkräften, die diese Gespräche mit den Eltern vorbereiten oder selbst bei Familiengesprächen mit dabei sind. Hilfreich können hier auch psychoedukative Kinderbücher sein, die es mittlerweile zu vielen verschiedenen psychischen Erkrankungen gibt.
Wenn deutlich wird, dass die jeweilige Erkrankung einen rezidivierenden Krankheitsverlauf mit wiederkehrenden temporären Krisen einnimmt, sollte auch das im Gespräch zwischen Eltern und Kindern angesprochen werden. Als besonders empfehlenswert hat sich im Zuge dessen die Erstellung von sogenannten Notfall- oder Krisenplänen gezeigt, die sowohl für den jeweiligen Elternteil als auch für das Kind getrennt, zumeist mit Unterstützung einer Fachkraft verschriftlicht werden.
Im Notfall gut vorbereitet
Die Erstellung solcher Pläne sollte nicht erst erfolgen, wenn eine erneute Krise vor der Tür steht, sondern in guten, stabileren Zeiten, in denen es dem Elternteil gut bzw. besser geht und es zugänglich und um das Wohl des Kindes bemüht ist (Schrappe, 2018; Homeier 2008, Lenz 2014). Wichtig ist dies insbesondere für erkrankte Eltern, die allein mit ihrem Kind zusammenleben und kein tragfähiges soziales Netzwerk haben, das eine Krise abfangen bzw. das Kind währenddessen gut begleiten kann (Schrappe, 2018).
Die Inhalte müssen individuell auf die Situation und Bedarfe der jeweiligen Familie zugeschnitten sein. Ein Notfallplan für Kinder sollte in jedem Fall die wichtigsten Informationen und Kontaktdaten enthalten, die ein Kind braucht, um in einer Krisensituation zu wissen, an welche verlässliche Vertrauensperson es sich wenden kann bzw. darf, damit es von der Verantwortung für den erkrankten Elternteil entlastet wird. Gerade in Krisen benötigen Kinder Bezugspersonen, die das Defizit an Zuwendung von Seiten der Eltern auffangen, offen für ihre Sorgen und Ängste sind und sie bei Bedarf auch schützen und Sicherheit geben. Darüber hinaus kann der Plan konkrete Absprachen und Erlaubnisse für das Kind enthalten, was es in einem bestimmten Fall tun kann bzw. darf (z.B. „Wenn Mama nachts nicht mehr richtig schläft oder nur noch von ihren Ängsten redet, rufe ich Oma an und bitte sie vorbeizukommen oder mich abzuholen/ darf ich zu meiner Nachbarin gehen und dort übernachten“) (Beispiele siehe Homeier, 2008; Schrappe, 2018; Lenz, 2022). Der Plan sollte stets griffbereit sein und in seiner Darstellung leicht verständliche, vielleicht mit Piktogrammen oder Fotos, ggf. auch in zweiter Sprache. Telefonnummern sollten auch im Handy eingespeichert werden.
Mit Plan durch die Krise
Für den Elternteil sollte ein ausführlicherer Krisenplan aufgestellt werden, der alle erwachsenen Bezugspersonen ausgehändigt wird, die die Familie unterstützt - also auch involvierten Fachkräften z.B. im Rahmen einer ambulanten Hilfe zur Erziehung oder Eingliederungshilfe. Auch dieser Plan beinhaltet, wer in Krisen benachrichtigt werden muss, und an wen sich das Kind wenden bzw. wo das Kind untergebracht werden darf. Zudem wird festgehalten, welche Klinik im Bedarfsfall aufgesucht werden soll, welche vielleicht auch nicht und alles, was notwendig ist, damit das Kind gut versorgt ist und der Alltag fortgeführt werden kann, wie z.B. Medikamente für das Kind, Einschlafrituale, wichtige Gegenstände, schulische Informationen etc. (Homeier, 2008). Darüber hinaus empfiehlt es sich bestimmte Frühwarnzeichen anzugeben, die ein mögliche Zuspitzung ankündigen, bekannte „Hauptsymptome“, die sich in einer Krise möglicherweise verstärken, Suizidgedanken/-versuche in der Vergangenheit und Erkenntnisse aus früheren Krisen. Ebenso sollte aufgeführt werden, was konkret geholfen hat und was nicht. Nach jeder Krise sollte demnach eine Nachbesprechung erfolgen und der Plan gegebenenfalls angepasst werden.
Alternativ oder auch ergänzend zu den Krisenplänen können Eltern zudem einen sogenannten Notfallbrief für ihr Kind im Vorwege schreiben, der dem Kind dann in einer Krise ausgehändigt wird (Beispiele abrufbar unter (www.netz-und-boden.de). Dieser beinhaltet neben einer ganz persönlichen, liebevollen und ressourcenorientierten Ansprache vom Elternteil zum Kind auch bestimmte Vertrauenspersonen und Verhaltensregeln. Es können Dinge ausformuliert werden, die der Elternteil möglicherweise in einer Krise krankheitsbedingt nicht selbst mehr aussprechen oder wahrnehmen kann. Der Vater oder die Mutter kann dadurch trotz seiner möglichen Abwesenheit Verantwortung für das Kind übernehmen und ihm beistehen.
Sicherheit und Orientierung
All diese Vorkehrungen geben in akuten Krisenzeiten (Handlungs-)Sicherheit und Orientierung nicht nur für die betroffenen Familien, sondern auch für das Helfersystem. Konkrete Absprachen, Abläufe und vorher festgelegte Personen, zwischen denen im Vorwege im besten Falle eine stets griffbereite Schweigepflichtsentbindung hinterlegt wurde, sorgt dafür, dass die unterstützende Fachkraft handlungsfähig und das Wohl des Kindes gesichert bleibt. Dafür müssen Fachkräfte das Familien- und Unterstützersystem kennen und die jeweilige Krankheitsdynamik des betroffenen Elternteils verstehen. Auch hier ist eine Liste mit Ansprechpartnern nützlich. Umgekehrt sollte auch das Kind je nach Alter vom Helfersystem wissen bzw. dieses kennenlernen, um Gewissheit zu haben, dass andere Erwachsene und nicht das Kind selbst sich um den Elternteil sorgen und zuständig sind.
Häufig muss auch erst ein Netzwerk als Ressource für die Familien geschaffen werden, die nicht selten sozial sehr isoliert leben (Lenz, 2014). Wenn auf keine inner- oder außerfamiliären (Freunde, Bekannte, Nachbarn) Vertrauenspersonen zurückgegriffen werden kann, kann es sehr hilfreich sein, Patenfamilien oder Kurzzeitpflegefamilien, die in der Regel über das Jugendamt finanziert werden, zu installieren. Diese stehen sozusagen im „Standby-Modus“ für Krisen zur Verfügung und halten auch in guten Zeiten Kontakt zur Familie. (Das trifft ja nur für die Paten zu und geht leider gar nicht mit Pflegefamilien).Das alles braucht Vertrauen und Zeit, die aber im Hinblick auf bevorstehende Krisen gut investiert ist und in schlechten Zeiten wiederum Vertrauen schafft.
Alle an einen Tisch
Ist im Falle eines erneuten Krankheitsausbruchs oder einer krisenhaften Verschlimmerung der Symptomatik eine (teil)stationäre Behandlung unumgänglich, sollten Fachkräfte der Erwachsenenpsychiatrie immer die Kinder mitbedenken und wenn möglich auch einbeziehen. Ebenso sollten entsprechende Behandlungsangebote für Elternschaft vorgehalten werden, denn eine psychische Erkrankung betrifft immer das gesamte Familiensystem, insbesondere in einer Krise. Das erfordert zumeist die Installierung mehrerer Helfer/-systeme sowie die Schaffung individueller Behandlungsmöglichkeiten für Eltern, gerade für Alleinerziehende. Im Übrigen sollte eine Elternschaft nie eine Behandlung verhindern, sondern muss sie - im Gegenteil - erst notwendig machen. Maladaptive symbiotische Beziehungsgestaltungen zwischen Eltern und Kind sind dabei ebenso hinderlich wie strukturelle oder wirtschaftliche Hindernisse auf Seiten von Institutionen.
Die Helfer sollten idealerweise voneinander wissen und vor allem in Krisenzeiten zügig alle an einen Tisch kommen, um vorher abgesprochene Maßnahmen im Rahmen eines Krisenplans in die Wege leiten zu können oder bei Bedarf auch zusätzliche Maßnahmen zu initiieren. Ein interdisziplinärer, systemischer gemeinsamer Blick auf die Familien ist dabei immer ein wichtiges Instrument, um Kinder zu schützen (Averbeck, B. & Hermans, B. E. (2010); Albermann, K., Wiegand-Grefe, S., & Winter, S. (2019)).
Juliane Tausch
M.A. Klinische Sozialarbeit, Kinderschutzfachkraft nach §8a SGB VIII, Supervisorin/Coach (DGSV)
Projektleitung von A: aufklaren
Liv Traulsen
Fachkoordinatorin für A: aufklaren, Psychologin
Christiane Rose
Journalistin für Gesundheitsthemen
Öffentlichkeits- und Pressearbeit bei A: aufklaren
Verweise
Kontakte in Hamburg bei Krisen
- Polizei T 110
- Notarzt T 112
- Allgemeinärztlicher Notdienst T 040 116 117
- Kinder- und Jugendnotdienst (tgl. ab 16:00 bis 8:00 Uhr, am Wochenende und Feiertagen)
T 040 428 153 200 - Jugendamt – Allgemeiner Sozialer Dienst, in jedem Bezirk (Mo. – Fr. 8:00 bis 16:00 Uhr)
- Sozialpsychiatrischer Dienst im Gesundheitsamt, in jedem Bezirk www.hamburg.de/behoerdenfinder
- Hamburger Krisentelefon:
(Mo. – Do. 17:00 – 23:30 Uhr, Fr. von 17:00 bis Sa. 7:30 Uhr, Sa. 10:00 bis So.
7:30 Uhr, sonn- und feiertags 10:00 – 23:30 Uhr)
T 040 428 113 000
Psychiatrische Kliniken mit Ambulanz und Notfallstationen für Erwachsene
- Asklepios Kliniken Harburg
- Asklepios Klinik Wandsbek
- Asklepios Klinik West (Rissen)
- Nord (Ochsenzoll) www.asklepios.com/hamburg
- Universitätsklinikum Eppendorf (UKE) www.uke.de
- Schön Klinik Eilbek www.schoen-klinik.de
- Albertinen Krankenhaus Schnelsen www.albertinen.de
- Agaplesion Bethesda Krankenhaus Bergedorf www.klinik-bergedorf.de/start
Hinweis
Literaturempfehlungen Thema Krise
- Plattner, Anita (Hrsg) (2019): Erziehungsfähigkeit psychisch kranker Eltern richtig einschätzen und fördern. Reinhardt Verlag.
- Hipp, M. (2016): Kriterienkatalog zur Einschätzung der Erziehungsfähigkeit bei psychisch beeinträchtigten Eltern. IN: Die Kinderschutzzentren: Hilfen für psychisch belastete Familien. Köln. S. 69-82.
- Lenz, A. (2014): Kinder psychisch kranker Eltern. Hogrefe Verlag. Göttingen.
- Bundeszentrale für Gesundheitliche Aufklärung (BZgA) (Hrsg.) (2001): Was erhält Menschen gesund? Antonovskys Modell der Salutogenese – Diskussionsstand und Stellenwert. Forschung und Praxis der Gesundheitsförderung Bd 6. erw. Neuaufl.
- Ortiz-Müller, W., Scheuermann, U., Gahleitner, S. (Hrsg.) (2021): Praxis Krisenintervention: Handbuch für helfende Berufe: Psychologen, Ärzte, Sozialpädagogen, Pflege-
und Rettungskräfte. Kohlhammer. - Stein, C. (2020): Spannungsfelder der Krisenintervention: Ein Handbuch für die psychosoziale Praxis. Kohlhammer.
- Wempe, C. (2019): Krisen und Krisenintervention bei Kindern und Jugendlichen. Kohlhammer.
- Paul, C.: Suizidtrauer bei Kindern und Jugendlichen angstfrei unterstützen. AGUS e.V. www.agus-selbsthilfe.de. Bayreuth.