Kinder brauchen Verbundenheit und Freude besonders in Krisenzeiten
Die Sozialpädagogin und Traumaexpertin Corinna Scherwath erklärt im Interview, wie wir Kinder mit Belastungen in schweren Zeiten gut begleiten können
Interview mit Corinna Scherwath
A: Erklären Sie bitte, was Verstehensorientierte Pädagogik ist.
Corinna Scherwath: Mit der Verstehensorientierten Pädagogik versuche ich eine Haltung zu beschreiben, in der unsere Professionalität darin zum Ausdruck kommt, dass wir bemüht sind die Motive und guten Gründe, die in einem Verhalten von Menschen zum Ausdruck kommen, nachzuvollziehen und anzunehmen. Sie ist zugleich ein bindungsorientierter Ansatz, in dem wir uns stets die Frage stellen: Was lässt uns verbunden sein? Wie werden wir wirksam im Kontakt und in Beziehung zu Menschen? Meiner Überzeugung nach, ist die Voraussetzung für Verbundenheit, dass wir Verständnis füreinander entwickeln. Der Ansatz der Verstehensorientierten Pädagogik bildet in gewisser Weise auch einen Kontrapunkt zu klassischer Verhaltens-pädagogik, in der Verhaltensweisen von Kindern, die als störend empfunden werden, reglementiert oder sogenannte erwünschte Verhaltensweisen belohnt werden. Hier geht es nur um eine Verhaltensanpassung, bei der sich jedoch niemand dafür interessiert, was die Botschaft hinter diesen Verhaltensweisen ist. Welche Gefühle mit dem Verhalten verbunden sind, für welche Bedürfnisse sich das Verhalten einsetzt oder auf welche Notlage es aufmerksam macht, wird dabei oft außer Acht gelassen. Die Verstehensorientierung interessiert sich für den ganzen Menschen hinter seinem Verhalten und versucht auf dieser Ebene zu gucken, was beispielsweise Kinder und Jugendliche brauchen.
A: Was brauchen Kinder, um gut aufzuwachsen, besonders wenn ihre Eltern psychisch krank sind?
Corinna Scherwath: Kinder, die mit Eltern leben, die selbst hoch belastet sind, wachsen in einem unsicheren und krisenhaften Raum auf. Neben dieser individuellen Belastung, kommt gegenwärtig die Belastung durch das kollektive Krisengeschehen, von dem wir seit 2020 alle betroffen sind, dazu.
Die Frage, ob uns Krisen und Belastungen ohnmächtig zurücklassen oder ob wir möglicherweise auch Kompetenzen daraus gewinnen, hängt im Wesentlichen davon ab, ob wir uns handlungsfähig fühlen und ob grundlegende Bedürfnisse von uns trotzt der Belastung sichergestellt sind. Unser allergrößtes Bedürfnis ist dabei das Bedürfnis nach Sicherheit, das allen anderen Bedürfnissen zugrunde liegt.
Kinder, die mit Eltern leben, die nicht in innerer oder äußerer Sicherheit sind, befinden sich in angespannter Lage. Wir müssen uns also anschauen, was Kinder brauchen, um dennoch Halt zu finden.
Sehr wichtig ist dabei das Bedürfnis nach Leichtigkeit und Freude positiv anzusprechen. Das stellen wir in den sozialpädagogischen Hilfen viel zu wenig in den Mittelpunkt. Genauso, wie wir uns im Moment mehr um die vermeintlichen Leistungsdefizite bei den Kindern kümmern, die während der Coronakrise entstanden sind, statt uns die Frage zu stellen, wie wir ihre Lebensvitalität erhalten können, die ja die Grundlage für all ihre Schaffenskraft und Entwicklungsmotivation ist.
Bei Leichtigkeit und Freude geht es also nicht um das Sahnehäubchen obendrauf, sondern um den Nährboden unten drunter.
A: Was bedeutet Leichtigkeit in diesem Zusammenhang für die Kinder?
Corinna Scherwath: Solange ich mit Leichtigkeit in Verbindung stehe, bleibt meine Lebensfreude erhalten. Lebensfreude ist die Basis dafür, dass sich aus einer Belastung keine depressiven Zustände entwickeln. Wenn Kinder beispielsweise bei einem depressiven Elternteil aufwachsen, von dem wenig Freude ausgeht, dann ist es wichtig, dass sie diese in anderen Kontexten erleben können.
„Bei Leichtigkeit und Freude geht es nicht um das Sahnehäubchen obendrauf, sondern um den Nährboden unten drunter.“
Wir haben in allen Schulen und Kitas Kinder von psychisch hochbelasteten Eltern. Wenn wir Kitas und Schulen nicht vorrangig zu Räumen machen, in denen Kinder sich Strukturen anpassen und unterwerfen müssen und stattdessen aus ihnen Orte machen würden, wo die Kinder mit Freude hingingen, da hätten wir schon sehr viel für die Stabilität von Kindern getan – auch für diejenigen die häuslichen Belastungen, wie einer psychischen Erkrankung eines Elternteils, ausgesetzt sind.
Wenn die Kinder morgens aus dem Haus gehen könnten und wüssten, dass sie in einen Raum kommen, den sie nicht mit Anspannung, sondern mit Entspannung verbinden. Wo sichergestellt wird, dass die Kinder sich lebendig im Miteinander erleben. Wo jemand dafür sorgt, dass Lernphasen und Entspannung bzw. Aktivierung gut ausbalanciert werden. Pädagog*innen, die Kinder darin unterstützen und ihnen zeigen, wie man immer wieder Schwung holen und zu Kraft kommen kann. Es könnte zum Beispiel im Unterricht zwischendurch Musik gehört werden, damit wieder Power da ist. Es gibt wunderbare Lehrer, die den Kindern, bevor sie eine Klassenarbeit schreiben, ein Ermutigungslied vorspielen. Oder es kann dafür gesorgt werden, dass die Kinder sich alle 20 Minuten gemeinsam bewegen. Es ist eine unserer wichtigsten Aufgaben Kindern mit auf den Weg zu geben, wie sie für ihre Freude sorgen können und herausfinden, was sie in und an ihrem Leben lieben. Auch und gerade in schweren Zeiten.
„Wir sollten Kinder nicht an den Katzentisch der Gesellschaft setzen, sondern uns mit Ihnen gemeinsam an den Tisch setzen und im
Austausch sein.“
A: Wie können wir Kinder in Zeiten der Krisen noch gut stärken?
Corinna Scherwath: Ein weiteres Bedürfnis, das wir sicherstellen müssen, ist das nach Verbundenheit. Der Grund, dass es vielen Kindern aktuell nicht gut geht, ist nicht kausal aus dem Krisengeschehen an sich abzuleiten, sondern sicher auch damit zu erklären, dass wir den Kindern nicht das Gefühl gegeben haben in dieser Lage gut geschützt und begleitet zu werden. Dieses Gefühl von Schutz und Sicherheit ist für Kinder existenziell. Immer noch haben wir im pädagogischen Raum die Tendenz, den Kindern beibringen zu wollen: „Du schaffst das schon – alleine!“ Wenn wir Kindern wirklich etwas mitgegeben wollen, was sie in die Lage versetzt, in krisenhaften Zeiten durchzukommen, dann geht es vor allem darum, dass sie lernen: „Du brauchst das nicht alleine zu schaffen. Du darfst dir jederzeit Schutz und Sicherheit bei haltgebenden Erwachsenen holen.“
Um Verbundenheit herzustellen, braucht es eine Atmosphäre von Freundlichkeit. Gute Kommunikation und Kooperation beginnt mit unserem Lächeln und einer an dem Gegenüber interessierten Haltung. Erst so entstehen „sichere Orte“ für Kinder. Wenn sie das Gefühl haben, dass sich dort, wo sie sind, jemand an ihnen und an der Beziehung zu ihnen interessiert und bedingungslos für sie da ist.
A: Ist das nicht auch für Pädagogen sehr schwierig, wenn die Kinder nicht so funktionieren, wie es von ihnen erwartet wird?
Corinna Scherwath: Verbundenheit hat nichts damit zu tun, dass etwas funktionieren muss, sondern damit, dass wir daran interessiert sind, miteinander verbunden zu bleiben, auch und gerade dann, wenn es schwierig wird. Emotionale Sicherheit empfinde ich insbesondere dort, wo ich weiß, dass „die Liebe hält“, eben wenn es schwierig wird.
Menschen mit denen wir uns verbunden fühlen, sind die Menschen, auf die wir uns verlassen können, wenn unsere Welt wackelt und diejenigen, von denen wir wissen, dass sie auch dann auf unserer Seite sind, wenn wir selbst „schwierig“ werden.
A: Gib es weitere Bedürfnisse, die erfüllt sein müssen, um gut durch die Krise zu kommen?
Corinna Scherwath: Das Bedürfnis nach Orientierung, also zu wissen, was los ist. Krise ist gekennzeichnet von Unsicherheit. Kinder wollen verstehen, was vor sich geht. In ihrer kleinen, aber auch in der großen Welt.
Das gilt sowohl für die Frage: Was ist mit meinen Eltern los, wenn diese beispielsweise psychisch erkrankt sind, wie auch für alles andere, ob aktuelles Kriegsgeschehen oder die Coronapandemie. Wir sollten Kinder nicht an den Katzentisch der Gesellschaft setzen, sondern uns mit Ihnen gemeinsam an den Tisch setzen und im Austausch sein. Ein offenes Ohr für ihre Situation und ihre Fragen haben und ihnen altersgemäße Resonanz zur Verfügung stellen
A: Was kann man konkret tun?
Corinna Scherwath: Um Krisen gut zu bewältigen, müssen wir uns wie gesagt in ihnen handlungsfähig fühlen. Kinder wollen ihren Beitrag leisten. Was nicht heißt, dass sie alleinige Verantwortung für ihre Eltern übernehmen. Wir können sie aber anleiten und unterstützen, wie sie sich selbst hilfreich und wirksam einbringen können.
A: Wie können Eltern in Krisenzeiten unterstützt werden?
Corinna Scherwath: Es heißt ja immer so schön: es braucht ein ganzes Dorf, um Kinder großzuziehen. Gerade in kollektiven Krisen braucht es den Blick aufs Kollektiv. Familie ist nur ein kleiner Teil davon. Diese kleine Einheit ist überhaupt nicht in der Lage, große Belastungen alleine zu tragen. Gerade Eltern mit eigenen Hochbelastungen, brauchen Entlastung und Unterstützung auch bei der Bewältigung des Alltages. Für Kinder wiederum ist dieses auch eine große Entlastung, wenn sie spüren: da kümmert sich jemand um meine Eltern. Da nimmt uns jemand was ab!
A: Wie können wir die Eltern unterstützen, gut für ihre Kinder da zu sein?
Corinna Scherwath: Ich glaube, dass wir oft ein ziemlich optimiertes Bild davon haben, was Eltern alles schaffen müssen. Warum öffnen wir uns nicht mehr zum Kollektiv hin und gucken, wie wir Eltern besser unterstützen können, damit sie inneren Raum für ihre Kinder finden? Wie können wir sie darin unterstützen Momente von Freude und Verbundenheit mit ihren Kindern zu erleben, auch in belasteter Situation?
Das können bereits Kleinigkeiten sein: Gibt es vielleicht ein Spiel, dass die Familie richtig gerne zusammenspielt? Eine Aktivität, eine Berührung, ein Lied, ein gemeinsames Lieblingsessen. Irgendetwas, was allen gemeinsam für einen Moment Freude schenkt. Solche freudvollen Momente, sind oft die Oasen in wüstenhaften Zeiten, an die Kinder sich später erinnern können. Diese Oasen sind ein wichtiger Faktor, um das Prinzip Hoffnung zu aktivieren. Hoffnung haben, heißt ja nicht, dass die ganze Zeit alles gut ist, sondern die Erfahrung zu machen, dass immer wieder Gutes passiert. Wir sollten also in der Begleitung von Familien in Belastungssituationen dafür sorgen, dass immer wieder Gutes im Miteinander passiert. Etwas, worauf sich die Hoffnung richten kann. Also an der Freude ansetzen, nicht an der Anstrengung.
„Das Prinzip Hoffnung heißt ja nicht, dass die ganze Zeit alles gut ist, sondern, dass immer wieder Gutes passiert.“
A: Wie kann man die Ressourcen, die Resilienz der Kinder fördern?
Corinna Scherwath: Aus der Resilienzforschung wissen wir, dass der primäre Schutzfaktor das Erleben einer sicheren Bindung zu mindestens einer Bezugsperson ist. Leider vergessen wir das oft, da „Selbstständigkeit und Unabhängigkeit“ in unserer Gesellschaft immer noch als höchster Wert angesehen wird. Um Kinder zu stärken, müssen wir ihnen aus einer sicheren Bindung heraus wertschätzend begegnen. Wir dürfen achtsam sein, dass wir mit Stärken stärken nicht meinen, dass wir Eigenschaften von Kindern fördern, die wir für gut halten. Kinder zu stärken heißt, dass sie positive Resonanz auf das erhalten, was sie ausmacht.
Beispiel: Ein Kind verhält sich sehr still. Dann heißt Stärken stärken nicht, dass das Kind mehr reden soll, sondern dass es eine Rückmeldung über seine bereits vorhandenen Kompetenzen bekommt. Die Stärken eines Kindes, das sich still verhält, kann beispielsweise darin liegen, dass es anderen Raum geben kann, gut bei sich sein kann, Ruhe ausstrahlt etc.
Auch denke ich, dass das Bild, dass wir oft von „starken Kindern“ haben, nicht zuträglich ist. Es geht nicht darum, dass wir starke Kinder haben, sondern dass wir mit-menschliche Kinder haben. Dass wir Kinder also darin unterstützen, dass sie mit sich und anderen mit all ihren Stärken und Schwächen in guter Beziehung sein können. Unser Bild darf nicht sein, dass Kinder unter Belastungen unumstößlich aufrecht stehen. Resilient sein bedeutet – im Sinne des Stehaufmännchens – von einem Niederschlag in sein eigenes Gleichgewicht zurückfinden zu können. Geschwächte Momente gehören dazu und wollen gesehen, angenommen und gut begleitet werden. Es geht also darum, dass wir nicht erwarten, dass jemand ständig stark ist, sondern, dass wir ihm in schwachen Momenten zur Seite stehen und ihn ermutigen, der zu sein, der er oder sie ist.
„Vor allem geht es darum, dass ich mich dadurch stark fühle, dass ich weiß, ich bin nicht alleine.“
A: Die Kinderbuchfigur Pippi Langstrumpf haben Sie einmal mit den Worten zitiert: „Der Sturm wird stärker! Macht nichts! Ich auch!“ Machen denn Krisen stark?
Corinna Scherwath: Wenn mein späteres Narrativ ist, ich kann mich erinnern, wann ich Freude gehabt habe und mit wem ich in dieser Zeit besonders verbunden war und was ich selbst tun konnte, dann kann ich in Krisen wachsen. Nicht die Krise an sich macht uns stark, sondern wenn wir uns später daran erinnern können: Wo war Freude? Wer war an meiner Seite? Auf wen konnte ich mich verlassen? Was habe ich selbst getan und bewältigt? Ich erinnere mich an ein Beispiel eines Mädchens, das eine Mutter mit ALS hatte, die so gerne Lippenstift trug, ihn aber nicht mehr selber auftragen konnte. Die Tochter sagte: „Aber ich kann das sehr gut.“ Das Strahlen des Kindes, dass der Mama die Lippen anmalen konnte, habe ich nicht vergessen. Das sie wirksam sein und Freude bereiten konnte, hat sie selbst gestärkt.
A: Also es geht nicht um die Superkräfte, sondern darum, dass man seine eigenen Stärken erkennt?
Corinna Scherwath: Vor allem geht es darum, dass ich mich dadurch stark fühle, dass ich weiß, ich bin nicht alleine. Das ist unsere alle größte gesellschaftliche Aufgabe, mehr Verbundenheit und Bezogenheit zu entwickeln. Wir kommen aus einer Gesellschaft, in der wir nicht gelernt haben, durch Gemeinschaft stark zu sein. Für alle Krisen, die uns in Zukunft erwarten und für alle Kinder, die aktuell belastet sind, geht es nicht darum alleine stark sein zu müssen wie Pippi Langstrumpf, sondern es geht darum, dass sie sich stark fühlen, weil sie mit anderen verbunden sind. Das ist der entscheidende Punkt.
A: Davon ist unsere Gesellschaft doch weit entfernt. Wenn ich mich an die Corona-Maßnahmen erinnere, Abstand halten, Isolation, dann ist das das Gegenteil davon.
Corinna Scherwath: Das war ja für die erste Zeit etwas, was die Krise mit sich gebracht hat, weil es erstmal um Sicherheit bzgl. unserer Gesundheit ging. Meine Freundin und ich haben es immer: „Abstand aus Liebe“ genannt – und auch darin eine Form der Verbundenheit gesehen. Die Frage ist, welche Möglichkeiten hätten wir noch besser nutzen können, um uns verbunden zu fühlen, Bindungen aufrecht zu erhalten, auch wenn wir uns für eine Zeit körperlich nicht so nah sein konnten. Verbundenheit hängt ja nicht allein davon ab, ob man sich treffen kann. Es gibt andere Möglichkeiten. Wenn jemandem Verbundenheit am Herzen liegt, wird ihm schon was einfallen.
Es hat z.B. Lehrer gegeben, die haben den Kindern etwas Zuhause vorbeigebracht, ein Schulleiter, der den Kindern morgens digitale Nachrichten geschickt hat, Kinder haben Bilder für Menschen in Isolation gemalt etc.. Ziel muss es sein, ein Gemeinschaftsgefühl zu entwickeln, auch und gerade dann, wenn Umstände nicht optimal sind.
„Es geht darum, eine stabilisierende Atmosphäre in das Leben von Kindern zu bringen und nicht, dass einzelne Psychotherapeuten mit einzelnen Kindern arbeiten.“
A: Ich bin der Meinung, dass die Pädagogik weit davon entfernt ist, sich so um die Kinder zu kümmern.
Corinna Scherwath: Das stimmt einerseits leider sehr. Andererseits kenne ich auch die Kolleg*innen, die sich sehr um eine Form der Pädagogik bemühen, in der Bedürfnisse berücksichtigt und Verbundenheit hergestellt wird. Diese Kolleg*innen erleben gemeinsam mit den Kindern Freude, auch unter schwierigen Bedingungen. Das gibt ihnen selbst auch Kraft zurück. Wenn wir jedoch gegen die Kinder ankämpfen und sie mehr erziehen, als mit ihnen verbunden sein wollen, werden wir uns gegenseitig eher als Belastung, denn als kraftspendend erleben.
A: Wie wollen Sie denn ihre Ideen in das bestehende pädagogische System einbringen?
Corinna Scherwath: Ich konzentriere mich seit 25 Jahren vor allem auf die Fort- und Weiterbildung von Fachkräften. In all diesen Jahren konnte immer wieder deutlich werden: Überall dort, wo Menschen die Bereitschaft haben mit den Menschen, die sie begleiten in gleichwürdige Formen von Beziehung zu treten, findet Entwicklung und Stärkung statt. Ich sehe es als unsere Aufgabe diese Botschaft wie eine Fackel weiter in das Arbeitsfeld hineinzutragen und zu hoffen, dass wir in immer mehr Ecken Licht hineinbekommen. Auch wenn es Moment gerade verdammt düster aussieht, weil wir an vielen Stellen ein großes Roll-Back in der Pädagogik haben, in dem sehr alte und gewaltvolle Strukturen neu installiert werden.
„Viele Auffälligkeiten bei den Kindern sind ein Hinweis darauf, dass wir sie als Gesellschaft nicht gut durch die Krise gebracht haben.“
A: In welcher Weise besteht dieses Roll-Back?
Corinna Scherwath: Wir haben u.a. ein Roll-Back an pädagogischen Unterwerfungsmaß-nahmen, zum Beispiel die Verhaltensampeln, die in den Klassenräumen hängen. Ein Instrument, dass das Individuum beschämt und Konkurrenz statt Verbundenheit unter den Kindern fördert. Auch die Ausgrenzung von Kindern durch Bindungsstrafen wie das „Time-out“, indem Kinder in Schwierigkeiten aus der Gemeinschaft ausgeschlossen und vor die Tür gesetzt werden etc., tragen nicht dazu bei, dass Kinder lernen, wie man Schwierigkeiten gemeinsam bewältigt und dass Gemeinschaft trägt und unterstützt. Und wir wundern uns dann, dass die Kinder sich auf dem Schulhof gegenseitig „die Köpfe einschlagen“, im Lernen nicht gut kooperieren und dass sich in unserer Gesellschaft zunehmend wieder ausgrenzende statt integrierende Tendenzen zeigen.
A: Wie wollen Sie dem entgegenwirken?
Corinna Scherwath: Es gibt glücklicherweise auch eine starke Gegenbewegung, die versucht dieser Strömung etwas entgegenzusetzen. Was wir jetzt brauchen sind keine pädagogischen Strukturen, die Kinder auf Funktionalität, Konkurrenz und Anpassung trainieren, sondern Ansätze, die den Kindern das Gefühl von Zusammengehörigkeit vermitteln.
Viele Kinder sind belastet. Diese Belastungen drücken sich in ihrem Verhalten aus. Aktuell werden viele Kinder deshalb bei Psychotherapeut*innen angemeldet. Die Praxen laufen über. Ich denke, das ist der falsche Ansatz. Viele Auffälligkeiten bei den Kindern sind ein Hinweis darauf, dass wir sie als Gesellschaft nicht gut durch die Krise gebracht haben. Das ist kein individuelles Problem, was durch Psychotherapeut*innen in Ordnung gebracht werden muss. Ich sehe hierin vor allem eine pädagogische Aufgabe, der wir uns widmen sollten, in dem wir uns fragen, was die Kinder aktuell brauchen und ihnen einen Rahmen bieten, in dem sie sich regenerieren können.
Ich halte es für eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe, die Kinder in und für Krisen zu stärken Es geht also darum, dass wir grundsätzlich eine stabilisierende Atmosphäre in das Leben von Kindern bringen und nicht, dass einzelne Psychotherapeut*innen mit einzelnen Kindern arbeiten. Wir haben es mit den Auswirkungen von kollektivem Krisengeschehen zu tun, das uns auch in Zukunft begleiten wird. Wir werden unseren Fokus miteinander stärker auf die Kinder richten müssen und uns fragen, wie wir das Zusammenleben mit ihnen so gestalten können, dass sie sich verbunden und wirksam fühlen – und dass sie spüren, dass das Leben Freude bereithält bei aller Belastung. Wenn uns das gelingt, werden Kinder nicht nur im Jetzt stabiler sein, sondern sich auch zukünftige Krisen und Erschwernisse zutrauen.
Dieses Interview führte Christiane Rose
Corinna Scherwath
Dipl. Sozialpädagogin/ Kinder-und Jugendtherapeutin
Verweise
Institut für Verstehensorientierte Pädagogik
(IversoPaed)
Poßmoorweg 21
22301 Hamburg
Tel. 040 - 278 098 20