Kein sogenannter Systemsprenger ist ohne Grund so geworden

Interview mit Maren Peters Fachstelle Koordinierungsstelle individuelle Hilfen

Interview mit Maren Peters

Die Fachstelle Koordinierungsstelle individuelle Hilfen ist ein Projekt, das seit 2014 beim PARITÄTISCHEN Hamburg angedockt ist und von der Sozialbehörde finanziert wird. Zwei Mitarbeiterinnen kümmern sich um schwierige Fälle in der Jugendhilfe und versuchen einen guten Umgang für die sogenannten Systemsprenger zu finden. Maren Peters leitet die Stelle seit zehn Jahren. Im Interview erklärt sie, wie sie versucht gemeinsam mit allen Beteiligten gute Lösungen für schwierige Jugendliche zu finden. 

A: Was macht die Koordinierungsstelle genau? Was ist deren Aufgabe?

Maren Peters: Es gibt den Begriff der sogenannten Systemsprenger. Systemsprenger meint Kinder und Jugendliche, die durch alle Hilfeangebote in der Jugendhilfe und angrenzenden Bereichen, wie Schule und Psychiatrie, durchfallen und nicht mehr gehalten werden können. Sie wechseln häufig stationäre Einrichtungen, verlieren komplett den Anschluss oder leben auf der Straße. Das ist das, was man von außen sieht bei den Systemsprengern. Wenn man auch auf das Innere guckt, dann sind das Kinder und Jugendliche mit massiven Verhaltensauffälligkeiten und vor allem mit einem komplexen Hilfebedarf, der von keiner fachlichen Seite abgedeckt werden kann. Diese Kinder fallen überall auf, wo sie sind. Der Begriff Systemsprenger beschreibt nicht nur die Auffälligkeit der jungen Menschen, sondern auch, dass es im Helfersystem bei den Professionellen Störungen gibt, z.B. Störungen in der Koordination zwischen Jugendhilfe und Psychiatrie oder verschiedenen Hilfeangeboten, Jugendamt und Trägern. Das kann dazu führen, dass es schwierig wird, für den jungen Menschen gut abgestimmte Hilfen zu entwickeln. Der Begriff Systemsprenger ist überhaupt nicht stigmatisierend gemeint. Es ist eine systemische Beschreibung eines Gesamtzustandes, der sich gegenseitig bedingt. 

A: Also, die Kinder passen nicht ins System oder das System passt nicht zu den Kindern?

Maren Peters: Die Kinder passen nicht in das, was die Jugendhilfe oder auch die Schule von der Stange schon passend fertig haben. Das hat auch damit zu tun, dass sich Lebensläufe individualisieren. Wir haben seit vielen Jahren eine Individualisierung in der Gesellschaft, da reichen Angebote von der Stange oft nicht mehr. Das Problem ist auch, dass diese jungen Menschen aufgrund ihrer biografischen Erfahrungen das Vertrauen zu Erwachsenen gänzlich verloren haben oder auch niemals haben konnten, weil sie schon mit ihren Eltern schlechte oder traumatisierende Erfahrungen gemacht haben. 

“Schutzfunktion ist eine Reaktion auf die tiefe Enttäuschung durch die Erwachsenenwelt”

A: Das ist also eine Reaktion auf traumatische Erfahrungen?

Maren Peters: Ja das ist eine Reaktion auf diese teilweise schon frühkindlichen traumatisierenden Erfahrungen der Kinder. Das zeigt sich oft zum Beispiel darin, dass diese Kinder häufig ein Pseudo-Autonomie-Verhalten zeigen. Das bedeutet, dass diese Kinder nach außen zeigen und auch selber daran glauben, sie können alles alleine und sie brauchen niemanden, der ihnen hilft. Das ist eine Schutzfunktion als Reaktion auf die tiefe Enttäuschung an die Erwachsenenwelt, an die Welt der anderen, dass sie anderen nicht vertrauen können. Damit sind diese Kinder aber überfordert, gleichzeitig halten sie an diesem Autonomiebestreben massiv fest. Weil das eine ganz wichtige Funktion ihrer Psyche ist, um ihr psychisches Überleben zu sichern.

A: Was macht die Koordinierunngsstelle, um diesen Kindern zu helfen?

Maren Peters: Der Auftraggeber, die Hamburger Jugendämter, die Fallzuständigen, der ASD, die Kolleg*innen melden sich bei uns, wenn sie nicht mehr weiterkommen, und es ihnen nicht gelingt zu den jungen Menschen in Kontakt zu kommen, wenn sie für den jungen Menschen keine geeignete Einrichtung finden oder das Familiensystem hoch zerstritten ist.  Oder auch wenn die Eltern Hilfen ablehnen, torpedieren oder auch gegen andere Hilfen arbeiten oder auch, wenn die Kinder und Jugendlichen im „Drehtüreffekt“ unterwegs sind, das heißt also zwischen Jugendhilfeeinrichtung und Psychiatrie hin und her switchen.

“Wir versuchen für alle so etwas wie einen Boxenstopp zu machen.”

A: Was könnt ihr dann tun?

Maren Peters: Wir führen ein ausführliches Gespräch mit dem Jugendamt, aber auch mit Menschen, die schon im Helfersystem sind, zum Beispiel mit der stationären Einrichtung, wo das Kind oder die Jugendliche schon mal war. Dann tauschen wir uns nochmal aus über die gesamte Biografie des Kindes, über die Herkunftsgeschichte, über die Hilfegeschichte und versuchen sehr gründlich ein sogenanntes Fallverstehen zu initiieren, denn das Verstehen kommt häufig in Fällen, die hoch eskaliert sind, zu kurz. Der Druck im Jugendamt dem Kind zu helfen, ist so groß, dass man oft nicht die Zeit hat ins Verstehen zu kommen. Da drücken wir ein bisschen auf die Bremse, versuchen für alle so etwas wie einen Boxenstopp zu machen. Das Nächste ist, dass wir versuchen Kontakt zu dem Kind oder zu den Jugendlichen aufzunehmen und häufig auch mit den Eltern, weil auch die Eltern eine große Rolle spielen und zwar egal wie alt der junge Mensch ist. Dann geht es im Prinzip darum, mit allen Beteiligten inklusive des Kindes und der Familie sich gemeinsam auf den Weg zu machen und Hilfen zu entwickeln gegen die das Kind nicht mehr ankämpfen muss. Es nützt überhaupt nichts, wenn wir als Fachleute sagen: „Ja, aber der braucht unbedingt eine therapeutische Wohngruppe und noch eine Therapie und dies und das“ – aber der junge Mensch ist überhaupt nicht bereit, irgendetwas anzunehmen. Dann geht es darum mit allen Beteiligten den ersten Schritt zu erarbeiten: Wo können wir anfangen, um überhaupt wieder ins Gespräch mit dem jungen Menschen zu kommen? Was wäre er oder sie bereit anzunehmen? Von da aus wird dann die Hilfe sukzessive entwickelt.

A: Ihr unterstützt aber auch die Fachkräfte bei ihrer Arbeit?

Maren Peters: Die andere Seite ist, dass wir die Fachkraft dabei unterstützen, wie sie in ihrer Haltung und ihrer Art und Weise mit den jungen Menschen sprechen können, so dass er das annehmen kann und nicht das Gefühl hat wieder überfallen zu werden. Und dann wird die Hilfe langsam aufgebaut und entwickelt. Das kann auch ein bis zwei Jahre dauern. 

“Das ist so ein bisschen wie eine Diplomatentätigkeit”

A: Also, wenn Fachkräfte merken, die Kinder gehen verloren, sie wissen nicht mehr weiter und da muss mal jemand genauer hinschauen, da kommt die Koordinierungsstelle ins Spiel.

Maren Peters: Genau. Wir sind ja „neutral“. Wir können praktisch in alle Richtungen hin intervenieren. Wir können mit den jungen Menschen sprechen, wir können aber auch mit dem Kolleg*innen von Jugendamt und mit dem Vormund sprechen. Wir können auf Konflikte, die im Helfersystem sind, reagieren und können da ein Stück Mediation machen. Wir können mit Eltern sprechen und sie ermutigen wieder mit dem Jugendamt in Kontakt zu gehen. Das ist so ein bisschen eine Diplomatentätigkeit, eine Vermittlerrolle, auch Übersetzung. Was meint der junge Mensch, wenn er sagt, ich will keine Hilfe. Was steckt dahinter und gibt es nicht doch etwas, was wir für ihn tun können. Wenn ich einen jungen, drogensüchtigen Menschen frage: Was willst Du denn eigentlich? Und er antwortet mir, er braucht einen Schlafplatz, dann ist es vielleicht sinnvoller daran zu arbeiten, als ihn davon zu überzeugen seinen Drogenkonsum einzustellen.

A: Du hast mal erwähnt, dass viele Eltern der Kinder, mit denen Du zu tun hast, psychisch krank sind. Welche Rolle spielt die psychische Erkrankung der Eltern bei den Systemsprengern?

Maren Peters: Wenn wir einsteigen in die Hilfe, dann machen wir auch Biographiearbeit. Dabei stellen wir fest, dass es häufig über mehrere Generationen Belastungen gibt. Und dazu gehören eben auch psychiatrische Erkrankungen. Ein erheblicher Teil der Mütter war oder ist psychisch erkrankt. Das kommt relativ häufig vor und das macht natürlich auch etwas mit den Kindern. Menschen, die psychisch krank sind, sind sehr beschäftigt, sich um sich selbst kümmern. Gleichzeitig haben sie auch noch ihre Kinder. Die Mütter versuchen zu verheimlichen, dass es ihnen schlecht geht. Aber die Kinder spüren, dass etwas nicht stimmt. Wenn eine Depression bei der Mutter vorliegt oder auch eine Borderline- oder Suchterkrankung, haben Kinder ein ganz feines Gespür und merken, dass mit Mama etwas nicht stimmt. Wir wiederum merken später, dass diese Kinder parentifiziert sind, sich die Eltern-Kind-Rolle vertauscht hat und die Kinder sich sehr viel Sorgen um ihre Eltern machen - und eigentlich nie Kind sein konnten. 

Das andere ist, dass eigentlich jede Form von psychischer Erkrankung oder Beeinträchtigung sich auch auf das Erziehungsverhalten auswirkt und teilweise zu einem Erziehungsstil führt, der einfach nicht gut ist für Kinder, nicht zuträglich für das Aufwachsen. 

Ich würde sagen, ich kenne keinen sogenannten Systemsprenger, mit dem ich zu tun hatte, der ohne Grund zu dem geworden ist, was er heute ist. Also zu jemanden, der vielleicht Gewalttaten verübt, sich prostituiert, Drogen nimmt und so weiter. Diese Kinder sind alle Opfer ihrer Biografie und ihrer Umstände. Wenn man dann einen Schritt zurückgeht, dann sind die Eltern wiederum auch Opfer….

A: Da geht es um die transgenerationale Weitergabe von Traumata von Eltern an Kinder. Eigentlich müsste man bei den Eltern ansetzen oder bei der Familie insgesamt.

Maren Peters: Thoeretisch ja, wenn man historisch darauf guckt, ist es ja so, dass im Zweiten Weltkrieg ein erheblicher Teil der Menschen, die in dieser Zeit gelebt haben, traumatisiert wurden - wir sind die Enkel und Urenkel dieser Menschen, das hat immer noch Folgen für uns. Das ist eine unendlich lange Geschichte.

A: Dass man Kindern, die aus problematischen Elternhäusern kommen, Ansprechpersonen gibt, die schon recht frühzeitig für dieses Thema offen wären, würde das vielleicht helfen?

Maren Peters: Vielleicht. Ich erlebe aber auch, wenn in der Kita das Kind das erste Mal auffällt, dann ist erstmal ganz viel Scham bei den Eltern und sie denken, wir müssen das irgendwie alleine schaffen. Die Kita versucht auch mit den Eltern Gespräche zu führen. Da gibt es zwar viele Hilfeangebote, die aber nicht gut miteinander vernetzt sind und es weiß nicht jeder, wo man hingehen kann und manche Angebote sind sehr hochschwellig.

A: Nach meinem Eindruck gibt es immer mehr schwierige Fälle. Wie ist das, werden es immer mehr Systemsprenger?

Maren Peters: Darüber gibt es keine validen Zahlen. Wenn man, wie ich, schon sehr lange in so einem Feld arbeitet, entwickelt man so einen Tunnelblick. Ich sehe überall solche jungen Menschen. Ich denke, das Problem ist, dass sich da etwas gegenseitig bedingt. Wir haben Fachkräftemangel in der Jugendhilfe und in allen angrenzenden Bereichen, das heißt, es fehlen Hilfsangebote. Das generiert natürlich auch schwierige Verläufe. Dann gibt es sicherlich viele Familien, die nicht aus sich heraus die Fähigkeit haben, ihre Kinder gut zu erziehen, weil sie es selber nicht gelernt haben.

“Schon in Kita und Schule sollte das Thema psychische Gesundheit verankert werden.”

A: Was wäre deiner Meinung nach richtig, was sollte man tun, um zu verhindern, dass es immer mehr dieser Kinder werden? 

Maren Peters: Es wäre total gut, wenn man schon in der Kita und in der Schule das Thema psychische Gesundheit verankern würde als ein ganz normales Fach wie Biologie oder Deutsch. Ich glaube man sollte sehr früh anfangen auf dieses Thema zu gucken und man könnte schon in der Kita, den Eltern mehr Aufklärung, Fortbildung und Coaching anbieten als normales Regelangebot, also Elternabende, Kurse, was auch immer. So früh wie möglich, nicht erst, wenn das Kind massiv auffällig wird. Gerade die Mütter-Generation, die jetzt am Start ist, da sagen viele von sich: Ich weiß gar nicht so richtig, wie das geht und ich bin selber total verunsichert. Darf ich überhaupt laut werden? Wie ist das mit Grenzen setzen? 

A: Es fehlen heute die Leitlinien. Früher war das klar, das hatte so und so zu sein. 

Maren Peters: Meine Mutter hat uns noch so erzogen, da gab es Regeln für alles. Es wurde aber überhaupt nicht drauf geachtet, was von uns als Impuls kam, das war natürlich total schlecht, das hat ja nichts mit mütterlicher Feinfühligkeit zu tun. Diese Generation fällt als Vorbild aus. Dann kam die antiautoritäre Erziehung, die fällt auch ein stückweit als Vorbild aus. Das, was es eigentlich bräuchte, ist Feinfühligkeit, das ist etwas, das in uns im Grunde angelegt ist. Das wieder zurückzuentdecken, da bräuchte es Unterstützung. Man muss ganz früh ansetzen, wenn die Kinder erstmal groß sind, kann man nur mit großem Aufwand etwas erreichen. Also der jüngste Systemsprenger, den ich gerade begleite, ist vier Jahre alt. 

“Es gibt zunehmend jüngere Kinder, die sich in Gruppen nicht mehr einfügen können”

A: Also werden sie immer jünger?

Maren Peters: Nein, das würde ich nicht so sagen, aber ich erlebe Kollegen, die beschreiben, dass es zunehmend jüngere Kinder gibt, die in der Kita diese üblichen Anpassungsleistungen nicht mehr erbringen können und die sich in Gruppen überhaupt nicht mehr adäquat einfügen. Man darf auch nicht vergessen, es gibt viele Menschen, die zu uns gekommen sind, die furchtbare Fluchtgeschichten hinter sich haben, die traumatisiert sind. Deren Kinder sind wiederum traumatisiert, die bringen eine Riesenpaket mit und das ist nochmal eine ganz besondere Herausforderung und Problematik.

A: Was macht man denn mit einem Vierjährigen, der sehr auffällig ist?

Maren Peters: Eigentlich macht man mit dem erstmal gar nicht viel, sondern ich versuche mit den Eltern zu arbeiten. Natürlich muss man auch mit dem Kind sprechen und dem Dinge erklären. In erster Linie geht es darum mit den Eltern zu arbeiten, dass sie mit ihrem Kind etwas Neues erlernen. Das ist das Wichtigste. Die Eltern sind in diesem Alter die Personen, die für das Kind am allerwichtigsten sind, und da muss man eben gucken, reicht das aus oder braucht das Kind noch zusätzlich etwas. Die Eltern brauchen eigentlich so ein Training, Coaching. Wie kann ich gewaltfrei Grenzen setzen, wie bin ich kongruent in meinem Ausdruck, in meiner Stimme, in meiner Körperhaltung, wie bleibe ich beharrlich und liebevoll? Was darf ich als Mutter oder Vater? Darf ich meinem Kind die Arme festhalten, wenn mein Kind versucht mich zu schlagen oder zu treten? Warum ist mein Kind so? Was ist in der Familie los? Was mache ich mit dem eigenen Gefühl von Ablehnung und Aggression meinem Kind gegenüber? 

A: Was würdest du denn Eltern raten? Gibt es Beratungsstellen, an die sie sich wenden können? 

Maren Peters: Es gibt ja in der Stadt etliche Erziehungsberatungsstellen, die kennen sich  mit dieser Thematik gut aus. Ich finde es wichtig, wenn in einer Familie das Verhalten des Kindes außer Kontrolle gerät, möglichst die eigene Scheu zu überwinden und als erstes die Erziehungsberatungsstelle aufzusuchen oder in der Schule sich an den Beratungslehrer zu wenden. Auf alle Fälle anfangen mit anderen Menschen darüber zu sprechen. Das ist der erste Schritt, um diese eigene Scham zu überwinden. Manchmal sind es auch erstmal Freunde, Nachbarn oder andere Eltern. Es gibt eigentlich genügend Hilfsangebote, man muss sich nur trauen dort hinzugehen und das so früh wie möglich.

Maren Peters

ist Erziehungswissenschaftlerin, Systemische Beraterin und Traumafachberaterin. Sie arbeitet seit über 30 Jahren in der Jugendhilfe. Seit zehn Jahren leitet sie die Koordinierungsstelle individuelle Hilfen beim PARITÄTISCHEN Hamburg.

Tel.: 040-41520183
Email: maren.peters@paritaet-hamburg.de

Verweise

Koordinierungsstelle Individuelle Hilfen
Maren Peters 

Tel.: 040-41520183
Email: maren.peters@paritaet-hamburg.de

Martina Broek

Fachberaterin Koordinierungsstelle Individuelle Hilfen
Tel.: 0172 68 02 272
Email: martina.broek@hamurg-paritaet.de

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