Jung sein heißt eigene Bedürfnisse zu befriedigen – das ist nicht egoistisch

Aufklärung über die Erkrankung und ein gutes Netzwerk helfen Heranwachsenden sich altersentsprechend zu entwickeln

Interview mit Dr. Michael Kölch

Professor Dr. Michael Kölch ist Klinikdirektor der Kinder- und Jugend-psychiatrie der Universität Rostock. Seit Jahrzehnten setzt er sich dafür ein, auch die Kinder im Schatten der Erkrankung ihrer Eltern in den Blick zu nehmen. Im Interview erklärt er, dass Kinder und Jugendliche mit psychisch erkrankten Eltern genauso gesund aufwachsen können wie ihre Altersgenossen und wie man sie dabei gut unterstützen kann.

A: Welche Vorstellungen gibt es in der Entwicklungspsychologie für Kinder und Jugendliche in Bezug auf Gesundheit/Krankheit?

Dr. Michael Kölch: Kinder haben je nach Altersstufe unterschiedliche Bedürfnisse, was die Unterstützung durch Bezugspersonen und Umfeld angeht. Das bio-psycho-soziale Modell ist immer noch gültig. Dass wir alle Belastungen ausgesetzt sind, gehört zum Aufwachsen dazu. Dass es auch Risikofaktoren geben kann, die dazu führen, dass sich in bestimmten Situationen eine psychische Belastung entwickelt, besonders bei Kindern und Jugendlichen, die noch in der Entwicklung sind. Kinder und Jugendliche haben viele Schwellen in ihrem Aufwachsen, was aber immer auch Chancen und Risiken mit sich bringt. Wenn sie gut gelingen, stabilisiert es, wenn sie schlecht gelingen, kann es zu Belastungen führen. Unter entwicklungs-psychologischen Aspekten gesehen ist die frühe Kindheit besonders bedeutsam, weil sie die Grundsteine legt, dass sich Resilienz für spätere Belastungen entwickelt. Das Thema Bindung spielt dabei eine große Rolle. Förderung und ein feinfühliges Umfeld sind stärkende Faktoren. Letztendlich geht es bei Kindern immer um Beziehung, Bindung, Förderung und Feinfühligkeit.

A: Wenn man jetzt den Blickpunkt auf Jugendliche lenkt? Was brauchen die?

Dr. Michael Kölch: Die brauchen das gleiche wie kleinere Kinder, aber nur anders. Was es für Individuation und Autonomieentwicklung braucht, das sind ja die wichtigsten Entwicklungsaufgaben. Jugendliche brauchen eine sichere Basis, von der aus sie explorieren und Grenzen austesten können. Aber sie brauchen auch das Backing, die Unterstützung dazu. Es kann in beide Richtungen schief gehen. Es kann in die eine Richtung gehen, dass sie viel zu früh Autonomie bekommen, oder dass sie nicht autonom werden können, da sie andere Aufgaben übernehmen müssen und die Autonomie gar nicht ermöglicht wird.

A: Kinder psychisch kranker Eltern müssen ja das gleiche bewältigen wie ihre Altersgenossen. Sie werden aber durch ihre Eltern nicht optimal dabei unterstützt. Gibt es bestimmte Probleme, die sich für sie daraus ergeben?

Dr. Michael Kölch: Es können sich prototypische Probleme ergeben. Aber man muss zuallererst sagen: Viele psychisch kranke Eltern unterstützen ihre Kinder genauso gut wie es nichtbetroffene Eltern tun. Psychische Erkrankungen führen nicht dazu, dass man zu schlechten Eltern wird. Die Erkrankung ist für die Kinder per se kein Risiko, sondern die Auswirkungen von Erkrankungen. Bei einer Depression, Suchterkrankung oder Schizophrenie können die elterlichen Beziehungs- und Erziehungskompetenzen beeinträchtigt sein. Das sind die Auswirkungen. Die Kinder können damit konfrontiert sein, dass die elterlichen Erziehungskompetenz eingeschränkt ist aufgrund der Erkrankung.

A: Was sind denn typische Auswirkungen für die Kinder? 

Dr. Michael Kölch: Das fängt in der frühen Kindheit an. Kann die Mutter ausreichend feinfühlig auf ein Kind reagieren, wenn sie gerade eine schwere Depression hat, wenn sie gerade keine Affekte ausdrücken kann? Oder eine junge Mutter mit einer instabilen Persönlichkeit, die selber Emotions-regulationsstörungen hat? Im späteren Alter, wenn ein Elternteil eine manifestierte Angsterkrankung hat, lernt das Kind vielleicht auch nicht so wie andere, die Welt zu erkunden, weil es ängstlich ist und nicht so viel ausprobiert. Wenn ich in der Pubertät bin und mein Vater trinkt, dann decke ich den abends zu und räum die Flaschen weg oder ich sorge dafür, dass der morgens angezogen zur Arbeit geht. Das sind alles inadäquate Aufgaben, die Jugendliche übernehmen, die sie beeinträchtigen sich darum zu kümmern, was für sie selbst primär im Aufwachsen wichtig ist. 

Kinder empfinden oft, dass sie sehr alleine sind. Oft ist die Erkrankung für sie schambesetzt. Darum sind Peergruppen für sie sehr wichtig, wo sie erleben können, dass es andere gibt, denen das ähnlich geht und mit denen sie darüber reden können. Schlimm wird es, wenn ein Deckel darauf gemacht wird. Das ist noch ein zusätzlicher Belastungsfaktor, wenn man mit niemandem darüber reden darf. Das sind Probleme, mit denen Kinder und Jugendliche von psychisch erkrankten Eltern konfrontiert sind.

A: Kommt es auch zu einem Rollentausch zwischen Eltern und Kindern?

Dr. Michael Kölch: Das ist mit Parentifizierung gemeint. Dass die Kinder auf die Eltern achten: „Jetzt geht´s Mama oder Papa nicht gut, jetzt muss ich leise sein“, das gibt es schon in der frühesten Kindheit. Kinder achten darauf, dass es den Eltern gut geht, kümmern sich um sie. Das sind Rollen, die sind entwicklungspsychologisch nicht vorgesehen. Dass man interagiert und sich auch in der Familie engagiert, Müll runterträgt oder mal was kocht, das ist gut, aber sich über das Maß hinaus sich gedanklich und psychisch um die Eltern zu kümmern, das nennt man  Parentifizierung. Das ist entwicklungs-psychologisch nicht günstig.

A: Was passiert dann mit den Kindern?

Dr. Michael Kölch: Erstmal stellen sie eigene Bedürfnisse zurück. Kindliche Entwicklung ist immer die Interaktion von Umfeld, Umwelt und Erfahrungen. Wenn ich mich entscheiden muss, bleibe ich Zuhause oder treffe ich mich mit Freunden. Wenn ich immer Zuhause bleibe, dann fehlt mir der altersgemäße Austausch für die Weiterentwicklung.

„Jugendliche brauchen eine sichere Basis, von der aus sie explorieren und Grenzen austesten können.“

A: Was empfehlen sie denn den Familien?

Dr. Michael Kölch: Unser wichtigstes Tool sind Gespräche, aber auch die gesamte Bandbreite dessen, was es gibt. Die einen wollen mal wieder in den Zoo zusammen besuchen, andere wollen wieder einen schönen Fernsehabend machen, wo mal das Kind den Film aussucht. Es gibt auch Konstellationen, in denen die Jugendlichen Bedürfnisse haben, die die Eltern nicht befriedigen können und dann müssen die Jugendlichen schauen, wo sie sie bekommen. Es geht um die eigene Individuation, lernen für die Zukunft. Man muss so einem Jugendlichen sagen, was ist jetzt wichtig für die Zukunft und wo kriegst du das her, wenn es nicht von den Eltern kommt? Man kann andere Menschen nicht ändern, nur sich selbst. Das heißt, ich muss mich woanders hin orientieren. Das muss sich der oder die Jugendliche gut biografisch einbauen, dass er oder sie nicht nach etwas sucht, dass er oder sie dort nie bekommt. Vielleicht muss ich mir z.B. eine Peergruppe suchen, bei der ich Selbstbestätigung finde.

A: Was kann man tun, um diese Kinder und Jugendlichen zu unterstützen?

Dr. Michael Kölch: Unterstützung ist vielfältig möglich. Es kommt darauf an, habe ich eine Familie, in der es Oma, Tante und Onkel gibt, die mitunterstützen können? Wenn die Eltern ausfallen, können sie das kompensatorisch übernehmen. Wenn der Elternteil alleinerziehend und psychisch krank ist, wird professionelle Unterstützung gebraucht über die Kinder- und Jugendhilfe, über Patenschaften etc. Es braucht vielfältige Angebote, die altersspezifisch sein sollten. In der frühen Kindheit spielt schneller das Thema Kinderschutz eine Rolle, wenn das Kind nicht gut versorgt wird aufgrund der elterlichen Erkrankung. Ansonsten geht es darum, in den Alltagskontexten Kinder besser zu unterstützen, wenn elterliche Unterstützung nicht da ist. 

A: Das heißt, man sollte ein Netz aufbauen, was um die Kinder herum ist, um die elterliche Rolle durch andere zu kompensieren?

Dr. Michael Kölch: Genau. Beziehung kann ja jeder geben. Dass nur Vater oder Mutter die Beziehung geben können, das stimmt nicht. Das wissen wir aus der Entwicklungspsychologie und aus der Resilienzforschung. Wenn ich eine verständnisvolle Lehrerin habe, die mich unterstützt, weil mich meine Eltern nicht bei den Hausaufgaben unterstützen können, dann ist sie eine resilienzstärkende Beziehungsperson. Das große Problem ist, wenn diese Leute nicht da sind. Die Hürde, Hilfen in Anspruch zu nehmen, sollte möglichst niedrig sein. Das SGB VIII hat viele Hilfen etabliert, zum Beispiel anlasslose Beratungsmöglichkeiten. Da können Betroffene Hilfe in Anspruch nehmen, ohne Angst zu haben, dass ihnen dadurch Nachteile entstehen und sie als unfähige Eltern stigmatisiert werden. Der andere wichtige Punkt ist: Gerade chronische und schwerere psychische Erkrankungen verlaufen in Phasen. Dabei kommen immer wieder schwereren Phasen. Das sollten die Professionellen im Blick haben, dass vielleicht in zwei Jahren wieder Unterstützung notwendig ist. 

A: Soll man die Kinder in die Behandlung einbeziehen? Wie sollte man sie aufklären?

Dr. Michael Kölch: Einbeziehen im Sinne der Psychoedukation in jedem Fall. Dass sie Teil der Therapie der Erwachsenen sind, ist eher ungünstig, weil sie das überfordern würde. Was man immer wieder machen muss, ist den Kindern ihrem Alter entsprechend zu erklären, was los ist.  Man muss das in gewissen Abständen wiederholen, ihnen immer wieder altersangemessen erklären, dass es eine Krankheit ist, dass sie sich da aber keine irrsinnigen Sorgen machen müssen. Ganz wichtig: Das eigene Verhalten hat nichts damit zu tun. Kinder denken, dass Mama traurig ist, weil sie etwas falsch gemacht haben. Man sollten ihnen sagen: Das ist die Krankheit von der Mama. Die würde sich gerne freuen, kann das aber nicht. Du kannst aber auch gar nichts machen, dass sie sich freut. Das muss man immer wiederholen, weil Kinder sich häufig die Schuld zuschreiben. Häufig wird nicht drüber gesprochen. Deswegen ist immer wieder wichtig aufzuklären im Sinne von Psychoedukation. Wichtig ist auch, die Eltern zu ermutigen, ihren Kindern zu erzählen, was sie haben. 

„Wichtig ist auch die Eltern zu ermutigen, ihren Kindern zu erzählen, was sie haben.“

A: Wie geht man mit älteren Kindern um? Erklärt man denen, was sie tun sollen? 

Dr. Michael Kölch: Man muss sich die Situation anschauen und die individuelle Problematik, die sich daraus ergibt. Dann kommt eine bedürfnisorientierte Beratung. Man fragt die Kinder und Jugendlichen: Was möchtest Du machen? Dann bearbeitet man bestimmte Dinge, wie z.B. das schlechte Gewissen. Man muss das mit der ganzen Familie bearbeiten, die ganze familiäre Kommunikation ist ein Thema. Zum Beispiel: „Mich macht es stinkwütend, wenn du dich nie über meine Noten freust, aber ich weiß ja, dass du das nicht ändern kannst, was nicht heißt, dass wir uns nicht mehr liebhaben.“ Immer darüber sprechen. Wir sollten die Kinder auch darin unterstützen, dass sie sich Dinge zutrauen.

A: Also, dass die Kinder auch ruhig egoistisch sein dürfen und ihr eigenes Leben leben sollen?

Dr. Michael Kölch: Also, der Begriff „egoistisch“ ist schon übertrieben. Altersangemessen eigene Bedürfnisse zu befriedigen, ist nicht egoistisch, das ist was dazugehört. Egoistisch wäre, wenn Kinder all ihre Bedürfnisse gegen ihre Eltern durchsetzen. Sie dürfen sich um sich selber kümmern, das gehört zum Leben dazu. Wenn ich mich nicht um mich selber kümmern kann, kann ich mich nicht um andere kümmern.

A: Ist es vernünftig, Kinder- und Eltern gemeinsam zu behandeln?

Dr. Michael Kölch: Da muss man vorsichtig sein, weil man die Kinder nicht auch noch durch die Behandlung der Eltern belasten soll. Nicht jedes Kind braucht auch Behandlung. Aber darauf zu achten und systematisch zu gucken, was die Kinder brauchen, wäre gut. Eine gemeinsame Behandlung, das geht zu weit. Das kann auch zu einer Psychiatrisierung der Kinder führen.

A: Müssen Sie manchmal auch den Eltern sagen, was sie tun sollen?

Dr. Michael Kölch: In der Interaktionsberatung geht es auch um die Frage, was ist die richtige Bedürfnisbefriedigung von Kindern. Letztendlich geht es darum zu besprechen, wo die altersentsprechenden Bedürfnisse ausgelebt werden können. Auch im Sinne von Kinderrechten, dass Kindern zusteht, dass sie bestimmte Dinge machen können.

A: Betrachten Sie sich auch als Anwalt der Kinder?


Dr. Michael Kölch: Das gehört dazu in der Kinder- und Jugendpsychiatrie, das sind unsere Patienten. Das ist ja schon immer das, was uns von der Erwachsenenpsychiatrie unterscheidet. Kinder sind nicht ohne Eltern zu denken. Wir haben schon immer im Dreieck behandelt. Viele Maßnahmen sind auf Familien zugeschnitten. Viele Probleme entstehen durch Interaktionsschwierigkeiten mit Eltern. Wir kümmern uns um die Kinder, und von daher können wir die Eltern nicht wegdenken aus der Behandlung. Aber die Kinder und Jugendlichen sind unsere Patienten. Wir sorgen dafür, dass die besser miteinander klarkommen mit dem Fokus aufs Kind. Damit es den Kindern gut geht, muss es auch den Eltern besser gehen.

A: Spielt das KipE-Thema in der Psychiatrie erst in den letzten Jahren eine größere Rolle?

Dr. Michael Kölch: Ja, gesamtgesellschaftlich. Dafür haben wir auch die letzten 15 Jahre vieles getan. Vor allem mit der IMA, der interdisziplinären Arbeitsgruppe, die zu den Empfehlungen geführt hat, dass das SGB VIII verändert worden ist. Das Thema ist so gesellschaftspolitisch gesetzt worden. Es in die GKV (Gesetzliche Krankenkassen) im Rahmen der Prävention aufgenommen worden ist. Das Thema ist schon viel stärker verankert worden, aber man wünscht sich noch viel mehr.

A: Unserer Beobachtung nach ist das Thema in der Psychiatrie noch nicht wirklich verankert.

Dr. Michael Kölch: Sehr unterschiedlich. Bei uns ist es so, dass wir extrem viele Eltern haben, die betroffen sind. Die Frage ist immer, wie arbeiten die beiden Anbieter - Erwachsenen- und Kinder- und Jugend-Psychiatrie - zusammen? Gibt es einen guten Austausch? Es ist schon so, dass es eine hohe Schnittmenge gibt, aber da ist immer noch Luft nach oben in der alltäglichen Arbeit.

Das Gespräch führte: Christiane Rose

Zurück zur Übersicht Beitrag als PDF