Gemeinsame Psychotherapie für Eltern und Kinder

Das erste Jahr nach der Geburt ist eine besonders kritische Phase

Dr. Carola Bindt

Ob Postpartale Depression, Angst oder Zwang – psychische Störungen nach der Geburt eines Kindes sind häufig. Kinder- und Jugendpsychiaterin und Psychoanalytikerin Dr. Carola Bindt und ihr Team am Zentrum für Psychosoziale Medizin am UKE (Universitätsklinikum Eppendorf) kümmern sich um Eltern und Kinder mit psychischen Störungen. Die Privatdozentin leitet als stellvertretende Klinikdirektorin u.a. die Kleinkind-Ambulanz und Eltern-Säuglings-/Kleinkind-Tagesklinik. Im Gespräch mit A: aufklaren erklärt sie, wie Eltern und Kindern dort geholfen wird.

A: Wie arbeiten Sie mit Eltern, die psychisch belastet sind? 

Dr. Carola Bindt: Wir haben hier in der Kinder- und Jugendpsychiatrie eine sogenannte Kleinkindambulanz. Da sehen wir Eltern mit psychischen Belastungen und Störungen mit Säuglingen, Klein- und Vorschulkindern und wir sehen auch Kinder mit ihren durch ihre Symptomatik belasteten Eltern. Es gibt da Überschneidungen. Manchmal ist der Vorstellungsanlass eher, dass der Säugling unruhig ist, schreit, nicht isst und dahinter steckt z.B. eine Depression der Mutter oder eine andere psychische Störung. In der Ambulanz haben wir eine Eltern-Kind-
Tagesklinik, wo wir Eltern-Kind-Paare oder Familien aufnehmen oder über eine längere Strecke psychiatrisch und psychotherapeutisch behandeln können. In diesem Setting finden sich Eltern mit ihrer besonderen Situation. Die Eltern haben unterschiedliche psychische Auffälligkeiten, die Kinder manchmal auch schon. Im Unterschied zur Behandlung im erwachsenenpsychotherapeutischen Kontext, nehmen wir Elternteil und Kind gemeinsam auf und gucken, dass wir in der Behandlung auch beiden gerecht werden. 

A: Es kann also sein, dass Eltern mit einem Säugling zu Ihnen kommen, weil das Kind dauernd schreit? 

Dr. Carola Bindt: Genau, das ist ein Teil der Vorstellungsanlässe, dass es Auffälligkeiten beim Kind gibt, das viel schreit, nicht schläft oder nicht gut isst, das sind die Hauptvorstellungsgründe. Andererseits haben wir hier viele Zuweisungen, wo das Leitsymptom erstmal bei der Mutter zu finden ist und das Kind mitkommt. Dennoch gehen wird in der Behandlung immer auf die Beziehungsentwicklung zwischen Mutter und Kind – auch unter Einbeziehung des Vaters - ein. 

Sie schauen sich immer die ganze Familie als System an und versuchen nicht nur ein Familienmitglied zu therapieren? 

Es ist oft so, dass Mütter schon sehr schuldbeladen kommen und sagen: „Mir geht’s nicht gut. Eigentlich müsste ich doch glücklich sein, das Kind ist doch gesund.“ Die nehmen alles auf sich, was schwierig ist. Da geht es häufig darum, Unterstützungssysteme zu aktivieren. Auch den Vater einzubeziehen und zu schauen, wie dessen Befinden ist und wie sich das Paar wechselseitig unterstützen kann. 

Es gibt kaum einen wirksameren Stressor als das eigene Kind, das schreit. 

A: Wie beobachten Sie die Eltern und Kinder? Wie gehen Sie da vor? 

Dr. Carola Bindt: In der Ambulanz ist das Gespräch mit den Patient*innen erstmal zentral, wobei wir immer dazu auffordern, das Kind zum Erstgespräch mitzubringen. Da können wir alleine durch die Art der Kontaktaufnahme mit uns und mit dem Kind schon mal Schlüsse ziehen, wie sicher die Mutter im Umgang und in der Versorgung des Kindes ist und was für Gefühlslagen dominieren. Manche psychisch belasteten Eltern sind ja nicht nur depressiv und niedergestimmt, sondern eher agitiert und gereizt. Das kann sich auch im Umgang mit dem Kind zeigen. Und im teilstationären Kontext sind die Mutter-Kind-Paare, punktuell auch die Väter, an fünf Tagen die Woche über den Tag hier. Da haben wir ein Team, das die Mütter in der Alltagsbewältigung unterstützt. Das Team sieht viel, was in der Interaktion gut gelingt und was nicht. Darüberhinaus haben wir auch videogestützte Therapieangebote, für die Videoaufnahmen gemacht werden von der Interaktion, die dann mit den Eltern besprochen wird. Das kann sehr frei sein, wenn es z.B. um eine Spielinteraktion geht, wo Müttern gezeigt wird, was in der Interaktion mit dem Kind gut gelingt. Gerade bei den Müttern, denen vieles nicht gut gelingt, kann das ganz heilsam sein. Wenn das Kind etwa schlecht isst, geht es darum, wie man ihm helfen kann besser zu essen. Da hilft der Blick auf das Video den Eltern ein bisschen Abstand vom Geschehen zu nehmen, darüber nachzudenken und vielleicht etwas Neues auszuprobieren. 

Für traumatisierte Mütter kann das Schreien wie ein Trigger sein, der das traumatische Geschehen reaktiviert.

A: Was sehen Sie zum Beispiel bei Schreibabys, die die Eltern nicht beruhigen können?

Dr. Carola Bindt:  Es gibt kaum einen Stressor, der wirksamer ist, als das eigene Kind, das schreit. Das hat man sogar gemessen. Die Stresshormonausschüttung ist bei jungen Eltern besonders hoch. Aber auch da gibt es alle Varianten: Da gibt es Eltern, die zwar belastet sind, aber in der Lage sind mit dem Schreien umzugehen und die auch Empfehlungen annehmen können, z.B. Auszeiten einzurichten, in denen andere Personen das Baby übernehmen. Manchmal gibt es vorbelastete Eltern, beispielsweise in Gewaltbeziehungen traumatisierte Mütter, für die wirkt das Schreien auf dem Arm, sehr körpernah, wie ein Trigger, der das traumatische Geschehen reaktiviert. Die Mütter dissoziieren dann in dieser Situation und haben gar nichts mehr zur Verfügung, um das Kind zu beruhigen oder sie werden unkontrolliert wütend und drohen, das Kind impulshaft zu be- oder zu misshandeln. Das Spektrum ist weit und die Interventionen sind immer sehr individuell angepasst. Da kann man gar nicht sagen, dass es eine generelle Empfehlung gibt. Diese interaktionsbasierte Therapie ist ein Bestandteil der allgemeinen Psychotherapie. Wir haben ansonsten zwei Stränge: Der eine ist psychiatrisch ausgerichtet, das geht es darum, ob etwa eine Medikation hilft, der zweite Strang ist psychotherapeutisch ausgerichtet. Da geht es darum, was die Veränderung durch die Kindsgeburt im Lebenskontext der Mutter oder des Paares auslöst. Wie lassen sich da Zusammenhänge herstellen zu dem, was man früher als Kind erlebt hat mit den eigenen Eltern? Darüber gibt es auch oft ein bisschen Auflösung und Abstand zur Symptomatik. 

A: Welche Art von psychischen Krankheiten sehen Sie besonders häufig?

Dr. Carola Bindt: Das Häufigste sind sich neu manifestierende depressive Störungen oder auch Angststörungen nach der Geburt eines Kindes. Was wir auch häufiger sehen, aber oft auch aktiv erfragen müssen, sind Zwangsstörungen, manchmal auch mit zwanghaften Gedanken dem Kind etwas anzutun, was natürlich sehr schambesetzt ist. Da müssen wir den Müttern den Weg ebnen, um darüber ins Gespräch zu kommen. Dann haben wir auch eine Reihe von Eltern, die schon psychische Erkrankungen mit in die Familienplanung hineinbringen und in dieser labilen Phase wieder symptomatisch werden, z.B. mit einer Borderlinestörung oder mit einer Depression oder Angststörung. Manchmal sehen wir auch Mütter, die erstmal ohne Kind behandelt werden müssen, bis sie stabil genug sind, um sich wieder um das Kind kümmern zu können. Was wir in letzter Zeit vermehrt sehen, sind Mütter mit Autismusspektrumstörungen, die gar nicht vordiagnostiziert sind. Solche Mütter können mit der großen Veränderung und der Unberechenbarkeit, die durch das Kind in den Alltag kommt, in schwere Krisen stürzen. Das ist eine Gruppe, die haben wir früher vielleicht nicht einmal erkannt, jetzt haben wir unseren Blick da sehr geschärft und recht regelhaft Mütter diagnostizieren und stabilisierend behandeln können. 

Diese Mütter haben auch wahrscheinlich Probleme mit der Kontaktaufnahme mit dem Kind, da Autisten ja oft Probleme im zwischenmenschlichen Bereich haben? 

Ja, es gibt oft schon das Gefühl: Sie lieben ihr Kind, aber die Beschäftigung mit dem Kind wirkt oft sehr ungeschickt. Auch die Signale des Kindes zu lesen, ist erschwert. Da sind die Kinder oft auch unruhiger und die Mütter haben selber weniger flexibles Repertoire, um sich darauf einzustellen, geraten dann in hohe Anspannung und werden symptomatisch. 

A: Welche Symptome sehen sie bei den Kindern und wie wirkt sich die Erkrankung der Eltern auf sie aus? 

Dr. Carola Bindt: Also, es ist ja bei vielen Konstellationen schwer zu erkennen, was Henne und was Ei ist. Ein Kind kann aus vielen Gründen exzessiv schreien. Manchmal geht das Schreien des Kindes als große Belastung einer Depression der Mutter voraus. Allgemein ist ja immer der Blick darauf, was alles von der Mutter ausgeht. Es kann aber auch andersherum sein: Es gibt Kinder, die Schwierigkeiten in der Emotionsregulation oder Anpassung an die Umgebungsumstände mitbringen, also besonders empfindlich sind. Und es gibt natürlich das Umgekehrte, dass die Mutter z.B. depressiv ist und sich das aufs Kind auswirkt. Dabei sehen wir eher Kinder, die passiv angepasst wirken und sich damit begnügen, dass nicht so viel Input von der Mutter kommt. Das sind oft keine Schreibabys. Manchmal gibt es erst mal eine Phase, wo das Kind mehr schreit. Aber Kinder haben eine bemerkenswerte Fähigkeit, sich anzupassen. Wir kennen Studien, die zeigen, wenn ein Kind einer depressiven Mutter ausgesetzt ist, dann nimmt es die Beanspruchung der Mutter zurück und ist eher selbstgenügsam und auch anderen Personen gegenüber zurückgenommen, nicht so animierend oder leicht animierbar. Das führt beispielsweise dazu, dass wir, wenn wir eine Krippenbetreuung anregen, immer darüber informieren müssen, dass dieses selbstgenügsame Kind nicht einfach zufrieden ist, sondern besonderer Unterstützung bedarf. 

Dieses selbstgenügsame Kind ist nicht einfach zufrieden, sondern bedarf besonderer Unterstützung.

A: Wie gehen Sie dann mit den Eltern um, wie erklären Sie denen das? 

Dr. Carola Bindt: Es gibt zum einen Psychotherapie, da geht es auch um die Hintergründe. Psychotherapie soll dazu dienen, ein Verständnis für die eigene Geschichte und die Emotionen im Übergang zur Elternschaft zu entwickeln. Wichtig ist auch eine Neuorientierung im Alltag, sich mehr zu entspannen und mehr Ressourcen für sich selbst und für das Kind freizusetzen. Die Passivität des Kindes bei einer z.B. schon länger bestehenden mütterlichen Depression kann man auch in den Videos gut sehen. Da kann man die Eltern ermuntern etwas mehr hineinzugeben, was nicht immer leicht umzusetzen ist, aber wenn die Depression sich lichtet, wird das doch eher möglich. 

Depressive sollen ja ihre Traurigkeit nicht verstecken und den Kinder irgendetwas vorspielen… 

Nein, die Kinder merken, wenn etwas nicht authentisch ist. Dann wirkt das oft so ein bisschen künstlich überstimulierend und ist nicht aufs Kind angepasst. Darauf reagieren Kinder eher irritiert. In der Psychiatrie geben wir keine pauschale Verhaltensempfehlungen, wir schauen sehr individuell. Wir haben z.B. gemeinsame Musiktherapie in der Tagesklinik für Eltern und Kinder. Da geht es darum wahrzunehmen, wie das Kind worauf reagiert und sich miteinzustimmen. Es gibt bewegungstherapeutische Angebote, Gesprächsgruppen, Entspannung, Stress-bewältigung. Für jede Mutter ist etwas anderes im Fokus. 

A: Es ist also auch so, dass Mutter und Kind nicht immer gemeinsam behandelt werden? 

Dr. Carola Bindt: Es gibt manche Bausteine gemeinsam, manche Gespräche finden jedoch ohne Kind statt, wenn das Kind sich schon von der Mutter trennen kann. In die Tagesklinik können die Mütter mit ihren Kindern fünfmal in der Woche für acht Stunden kommen. Abends und am Wochenende sind sie dann zu Hause. Wir können auch schwerer Erkrankte auf diese Weise erstaunlich gut behandeln. Es ist sogar gut den Realitätscheck abends und am Wochenende zu haben, um dann nach der Entlassung wieder leichter in den Alltag zu finden. Es gibt externe Angebote, z.B. Mutter-Kind-Gruppen, die nach der Entlassung weiter besucht werden können. Wie sind Sie mit den niedergelassenen Therapeut*innen und Ärzt*innen verbunden? Wir sind in Hamburg gut vernetzt mit niedergelassenen Kolleg*innen aller Art, aber auch mit den Frühen Hilfen und der Jugendhilfe. Wir brauchen eine Einweisung oder Überweisung. Die Patientinnen werden von verschiedenen ärztlichen Disziplinen geschickt, häufig auch von Kinderärzt*innen, weil Eltern ihr Kind dort vorstellen. Die Hebammen sehen im Wochenbett schon vieles, manche Patient*innen kommen über die Sozialen Dienste, wenn sie schon dort wegen einer psychischen Erkrankung betreut werden. Auch aus den psychiatrischen Kliniken und von den niedergelassenen psychiatrischen Kolleg*innen und Psychotherapeutinnen werden uns Patient*innen zugewiesen. „Wir würden uns wünschen, es gäbe mehr Angebote für postpartale Mütter, deren Kinder gesund sind.“


A: Wie viele Plätze haben Sie in der Klinik? 

Dr. Carola Bindt: In der Kleinkindambulanz sehen wir 200 Patient*innen im Quartal, also 1000 im Jahr. In der Tagesklinik haben wir vier bis fünf Mutter-Kind-Behandlungsplätze, das ist eine kleine Einheit. Es ist gut, dass sie so überschaubar ist, weil die Mütter in einer größeren Einheit leicht überfordert wären. 

Was würden Sie sich für diese Patient*innen und ihre Kinder noch wünschen? 

Was uns im Netzwerk fehlt, sind auf Eltern-Kind-Paare ausgerichtete psycho-therapeutische Kolleg*innen, die diese Expertise mitbringen. Es gibt einige, aber nicht ausreichend genug. Psychotherapie unter Einbeziehung von Mutter und Kind ist etwas Besonderes. Und es gibt nicht genug Angebote für die Anschlussbehandlung im ambulanten Netz. Wir haben in Hamburg mit dem spezifischen Angebot der Frühen Hilfen und den Mutter-Kind-Gruppen für psychisch belastete Mütter schon viel mehr Angebote als z.B. die umliegenden Bundesländer. Was aber knapp ist, ist das vollstationäre Angebot, da gibt es in Hamburg so gut wie nichts. Eine Schwierigkeit bei den bestehenden Mutter-Kind-Stationen ist, dass sowohl Mütter als auch Kinder eine Diagnose haben müssen. Wir hingegen nehmen auch Mütter auf, wenn das Kind noch sehr jung ist oder keine eigenständige Diagnose hat. Wir würden uns wünschen, es gäbe mehr Angebote für postpartale Mütter und solche, die psychisch erkrankt sind, deren Kinder aber noch gesund sind. 

A: Warum ist das so? 

Dr. Carola Bindt: Ich glaube, das ist ein Abrechnungsthema. Man muss mehr Personal vorhalten, wenn man Mutter und Kind gerecht werden will. Die Ausstattung der Station muss ja finanziert werden. Wenn die Krankenkassen sagen, das Kind hat keine Diagnose, dann gibt´s auch kein Geld. Ich leite die Steuerungsgruppe der DGKJP für die Leitlinien zur Behandlung psychischer Störungen in der Altersgruppe 0-6 Jahre. Da haben wir festgelegt, dass wir eine Schlafstörung bei einem Kind erst diagnostizieren können, wenn es mindestens 6 Monate alt ist, weil der unregelmäßige Schlaf für junge Säuglinge normal ist. Und trotzdem haben wir Frauen, die darüber, dass sie nachts ständig geweckt werden, symptomatisch oder depressiv werden. Dann können wir der Mutter eine Behandlung anbieten, haben aber für das Kind keine Diagnose nach der wir dessen Behandlung abrechnen könnten. Bei dem vorhandenen stationären Setting würde man dann sagen müssen: Das Kind kann dann nicht mit aufgenommen werden. Im Großen und Ganzen sind wir in Hamburg zwar gut aufgestellt bei dem Thema, aber an dieser Stelle hakt es noch.
 

Das Interview führte Christiane Rose

Carola Bindt

Fachärztin für Kinder- und Jugendpsychiatrie und -psychotherapie, Stellvertretende Klinikdirektorin im Zentrum für Psychosoziale Medizin der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie, -psychotherapie und -psychosomatik am UKE Hamburg

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