Es wäre schön, wenn auch Kinder gesehen würden, die nur zarte Signale senden
Anja Thürnau möchte die „auffällig unauffälligen“ Kinder mehr in den Blick nehmen
Interview mit Anja Thürnau
A: Warum ist ihnen dieses Thema so wichtig?
Anja Thürnau: Weil es aus meiner Sicht das Schlüsselthema im Kinderschutz ist und das leider noch nicht genug gesehen wird. »Kinder psychisch kranker Eltern« als: Kinder mit Eltern in psychischen Krisen und mit psychischen Erkrankungen (wichtig: mit und ohne Diagnose!). Die Eltern ohne Diagnose und Krankheitseinsicht, sorgen sehr oft für die schlimmsten Auswirkungen bei ihren Kindern und wissen dies gleichzeitig meist nicht. In diesen Fällen können viele Schutzfaktoren schlichtweg nicht greifen, wie z.B., dass die Kinder über die Erkrankung ihrer Eltern kind- und altersgerecht informiert werden.
A: Welche Auswirkungen haben denn die psychischen Erkrankungen besonders auf kleine Kinder?
Anja Thürnau: Es ist gar nicht so, dass man bei den Kindern immer direkt etwas sieht. Manchmal sehen gut ausgebildete Fachkräfte, die den Fokus auf und das Wissen über das Thema haben, bestimmte Veränderungen in den Verhaltensweisen der Kinder und wissen, dass das ein Thema sein könnte und man bestimmte Aspekte abfragen sollte. Ich ermutige die Fachkräfte sehr früh, nicht auf sogenannte gewichtige Anhaltspunkte zu warten, sondern sich Beratung zu organisieren, sobald sie ein schlechtes Bauchgefühl bei einem Kind haben. Auch bei kleinen Verhaltensänderungen und bei Verhaltensweisen, die nicht zugeordnet werden können oder die sich verändern. Wenn z. B. eine Eingewöhnung nicht funktioniert oder die Kommunikation mit den Eltern schwierig ist.
A: Wie versuchen Sie Fachkräfte für das Thema zu sensibilisieren?
Anja Thürnau: Ich versuche die Fachkräfte vor allem durch Fortbildung und im Rahmen von Fachberatung zu sensibilisieren, weil der Bereich Kita und Kindertagespflege sehr früh einen professionellen Zugang zu den Kindern bekommt. Die Kindertagesbetreuung ist eine wichtige Ressource für das Thema KipeE. Die meisten Angebote, wie z. B. Gruppen für KipeE werden erst im Schulalter angeboten. Damit geht wertvolle Entwicklungszeit verloren.
A: Was muss man beachten, wenn man die Eltern anspricht, um das Thema zu platzieren?
Anja Thürnau: Ich versuche die Kitafachkräfte zu ermutigen: Bitte sprechen Sie die Eltern schon in den Erstgesprächen an und öffnen sie den Eltern metaphorisch die Tür für das Thema. Beispielsweise, indem sie das Thema so platzieren: «Möglichweise gibt es bei Ihnen familiäre Belastungen, z.B. existentielle Probleme oder es ist gerade jemand verstorben, jemand in der Familie erkrankt oder es gibt eine psychische Krankheit. Wir wissen, dass psychische Erkrankungen bei den Eltern für die Kinder einen großen Effekt haben. Wir arbeiten mit Ihnen als Kita in einer Erziehungspartnerschaft gemeinsam für die gelingende Entwicklung ihres Kindes zusammen und so ist es gut, wenn wir darüber sprechen können und wir ihnen mögliche Unterstützungsangebote machen können, falls dies gewünscht wird.» Dabei sollte immer die Autonomie der Eltern berücksichtigt werden. Weisen Sie die Eltern darauf hin: „Sie können es uns erzählen, wenn Sie möchten, Sie müssen es aber nicht. Es ist Ihre Entscheidung als sorgeberechtigte(r) Eltern/Mutter/Vater.“
“Die Kindertagesbetreuung ist eine wichtige Ressource für das Thema KipeE”
Wichtig ist die pädagogische Haltung der Fachkräfte: Eltern mit psychischen Erkrankungen sind genauso Eltern wie andere Eltern auch. Michael Hipp hat einen Katalog zur Einschätzung der Erziehungsfähigkeit von psychisch belasteten Eltern aufgestellt und beschreibt dies als Coping-Verhalten, als Bewältigungsstrategie. Die Eltern versuchen ihre Erkrankung zu bewältigen. Das passt leider nicht immer mit einer gelingenden Entwicklung von Kindern zusammen. Kinder brauchen ein konsistentes Erziehungsverhalten, Feinfühligkeit u.v.m. Es kann schon früh ein Bedürfnismangel bei den Kindern entstehen, der in vielen Fällen auf postpartale Störungen der Mutter nach der Geburt zurück geht oder es vorgeburtlich bereits psychische Belastungen bei der werdenden Mutter gab, die nicht erkannt wurden. Unser
pädagogisches Bordmittel »Beratung« endet in der Regel da, wo Pathologie beginnt. Deshalb kommen wir Pädagog:innen allein mit Beratung bei den Eltern nicht weiter, da braucht es Netzwerke und Kooperationen mit der Erwachsenenpsychiatrie. Frühe unbewusste, traumatische Erinnerungen bei den Eltern, sollten in Trauma- bzw. Psychotherapie übergeleitet werden.
A: Wie sollte denn eine Fachkraft das Thema ansprechen, wenn sie etwas beobachtet?
Anja Thürnau: Ich würde in vielen Fälle dazu raten, einen »Break« dazwischen zu machen und mich ggf. beraten lassen, um das Beobachtete abzusichern und zu reflektieren. Zu forsch vorzugehen kann aus meiner Beobachtung bei psychisch belasteten Eltern negative Auswirkungen haben. Ich würde mich als Fachkraft immer gut vorbereiten. Ein Gelingensfaktor im Umgang mit psychisch kranken Eltern ist auf der einen Seite, gute Kenntnis und Wissen über das Thema KipeE zu besitzen als auch über Sicherheit in der Gesprächsführung zu verfügen. Auf der anderen Seite gilt Unvoreingenommenheit und gute Reflexion als Wirkfaktor für eine gelingende Kooperation. Das beinhaltet, eigene destruktive oder unbewusste Annahmen psychisch kranken Eltern gegenüber zu (er-)kennen. Es ist von Bedeutung, mögliche eigene blinde Flecken offenzulegen, wie zum Beispiel Vorurteile, dass psychisch Erkrankte keine richtigen Eltern sind oder ähnliches. Es ist enorm wichtig, diese zu reflektieren, weil die Eltern das meist sehr schnell erspüren.
Kinder psychisch kranker Eltern haben immer einen guten Grund für ihr (Symptom-)Verhalten.
A: Also, man sollte den Eltern nichts vorwerfen, sondern wie schon angedeutet, das Thema allgemeiner angehen?
Anja Thürnau: Ich würde das gleich alle Eltern möglichst zu Anfang der Betreuung fragen. Wichtig ist hier aber auch zu betonen, dass die Eltern den Fachkräften diese Information nicht geben müssen und ihnen zu erklären, warum diese Informationen wichtig sind. Nämlich für die gute Entwicklung und eine gelingende Erziehungspartnerschaft in der Kita, vorausgesetzt, die Eltern möchten dies mitteilen. Es gibt genug Eltern, bei denen man eine Erkrankung überhaupt nicht bemerkt. Und in der Familie tobt vielleicht eine Dynamik hinter verschlossenen Türen. Es gibt ja durchaus Redeverbote und die Kinder dürfen das nicht erzählen nach dem Motto: „Wenn Du das jemandem erzählst, kommt das Jugendamt und holt dich.“ Viele Eltern haben diese Angst. Es gibt jedoch auch unausgesprochene Redeverbote oder Eltern verschweigen den Kindern die Information über ihre Krankheit, weil sie die Vorstellung haben, dass sie ihre Kinder im Kitaalter schützen, wenn sie es nicht erklären. Sie spielen ihnen eine heile Welt vor, weil sie annehmen, dass dies gut für die Kinder ist. Tatsächlich ist aber genau dies problematisch, da die Kinder viel erspüren und eher durch die Nicht-Information irritiert werden können. Wichtig ist in jedem Fall die Freiwilligkeit der Eltern. Die Fachkräfte könnten beispielsweise die Eltern über die Vorteile von Psychoedukation für ihre Kinder informieren: »Wir können Sie dabei unterstützten, ihre Erkrankung ihrem Kind altersgerecht zu erklären, wenn Sie dies möchten.«
A: Wenn die Fachkräfte merken, dass irgendwas nicht stimmt, was sollen sie denn dann tun?
Anja Thürnau: Da würde ich mich gut beraten lassen und mir den jeweiligen familiären Kontext ansehen. Es ist sinnvoll, den Eltern die Auswirkungen vom Kind her zu erklären. Woran sieht man es bei dem Kind? Also den Eltern eine differenzierte Beobachtung des Verhaltens oder der Verhaltensänderung des Kindes zur Verfügung zu stellen und ihnen zu erklären, dass das Wissen über die psychische Erkrankung des Elternteils oder der Eltern in aller Regel ein Vorteil für die Entwicklung von Kindern darstellt.
A: Woran merkt man denn an den Kindern, dass etwas nicht stimmt?
Anja Thürnau: An den Verhaltensweisen oder an Veränderungen in der Entwicklung des Kindes, etwa Entwicklungsverzögerungen oder es gibt sogar Rückschritte in dessen Entwicklung. In einigen Fällen bemerken die Fachkräfte, dass das Kind sich plötzlich anders verhält. Das kann natürlich alles Mögliche bedeuten. Es gibt ja viele Verhaltensweisen von Kindern, die viele mögliche Ursachen haben können und wenig, das explizit darauf hindeutet. Die kindlichen Veränderungen sind erst einmal als Ausdruck eines erhöhten kindlichen Stressniveaus zu verstehen. Das kindliche Erleben ist dann abhängig vom kognitiven Reifungsgrad, von den emotionalen Bedürfnissen und den sozialen und körperlichen Fertigkeiten des betroffenen Kindes. Mögliche Veränderungen können sich beispielsweise in psychischen Auffälligkeiten in unterschiedlichen Ausdrucksweisen zeigen und sich beispielsweise in Form von Nägelbeißen, Einnässen, aggressivem Verhalten, sozialem Rückzug u. a. manifestieren. Wichtig für Fachkräfte ist es, dann die krankheitsspezifischen Risikofaktoren zu berücksichtigen. Also beispielsweise zu wissen, dass es bei Suchterkrankungen und Persönlichkeitsstörungen der Eltern prozentual oft zu körperlicher und/oder sexueller Gewalt in den betroffenen Familien kommt.
Das Thema ist für mich nicht vom Kinderschutz zu trennen und sollte immer auch präventiv mitgedacht werden.
A: Gibt es etwas, worauf die Fachkräfte achten sollten, wo sie hellhörig werden sollten?
Anja Thürnau: Gerade Kinder psychisch kranker Eltern werden häufig als »unauffällig auffällig« wahrgenommen. Das bedeutet, die Kinder zeigen oft nur sehr »zarte Signale«. Werden wir über die Beobachtung der Eltern aufmerksam und sehen uns das Kind genauer an, bemerken wir ganz dann verhältnismäßig viele Verhaltensweisen und Signale des Kindes, wie z.B. Sprachverzögerungen, das Kind geht nicht auf Toilette, hält den Kot zurück oder es trägt sehr lang eine Windel. Das sehe ich beispielsweise häufig in der Praxis, fünfjährige Kinder, die noch eine Windel tragen. Der systemische Kinderschutz ist nach meiner Definition deshalb sehr dicht am Thema KipeE verortet. Häufig ist zu beobachten, dass ein psychisch belastet oder erkrankter Elternteil aufgrund der psychischen Erkrankung kein konsistentes, verlässliches Erziehungsverhalten zeigen kann, zumindest temporär. Es kann deshalb zu Bedürfnisspannungen und Symptomen bei den Kindern kommen, was wiederum Stress auf der Elternseite verursacht, denn dann wird es anstrengender, da das Kind beispielsweise negative Verhaltensweisen zeigen kann. Die Belastungen für Eltern und Kinder potenzieren sich. Für uns Fachkräfte gilt es zu schauen, was neben den Risikofaktoren auch an Ressourcen und an Risikofaktoren im familiären System vorhanden ist. Hier sind wir wieder bei der klassischen Einschätzung im Kinderschutz. Daher ist das Thema für mich nicht vom Kinderschutz zu trennen und sollte immer auch präventiv mitgedacht werden.
A: Welchen Belastungen sind denn Kitakinder mit psychisch kranken Eltern ausgesetzt?
Anja Thürnau: Man muss sich als Fachkraft differenziert den jeweiligen Kontext ansehen. Also beispielsweise, um welche Erkrankung und um welche krankheitsspezifischen Risikoaspekte es sich handelt. Es gib z.B. Verhaltensweisen der Eltern, die Kinder nicht verstehen und die sie irritieren, wie bei Angststörungen oder Schizophrenie. Wenn die Eltern ihnen etwa vermitteln, dass die Welt gefährlich ist. Die Kinder sehen das Verhalten bei den Eltern, dass sie selbst nicht verstehen und einordnen können. Vielen psychisch Kranken gelingt es nicht, Tagestrukturen für Kinder aufrechtzuerhalten. Es gibt kein Essen oder die Wohnungen vermüllen. Man kann es als Fachkraft beispielsweise an den Zähnen der Kinder sehen oder an anderen Vernachlässigungsaspekten. Das Zähneputzen mit Kindern ist sehr anstrengend für psychisch kranke Elter ist das oftmals nicht zu schaffen. Aber nicht, weil sie böse oder faul sind, sondern aufgrund ihrer Erkrankung. Sie schaffen es zeitweise nicht, bestimmte Strukturen aufrecht zu erhalten. Das kann sich bereits ganz früh im Krippenalter über das Bindungsverhalten zeigen, da sich am Ende des ersten Lebensjahres des Kindes in der Regel der Bindungstyp setzt und sich dies im Verhalten des Kindes beobachten lässt. Deshalb sind die Frühen Hilfen so wichtig, um möglichst früh darauf hinzuwirken, dass Hilfe angenommen wird. Kinder zeigen manchmal sehr zaghafte Verhaltensweisen, manchmal auch sehr externalisierende. Es gibt kleine Kinder, die schon in der Kita sogenannte »Systemsprenger-Qualitäten« zeigen.
Ich weiß, dass die Fachkräfte gerne eine Checkliste haben würden. Die gibt es so leider nicht.
Ich weiß, dass die Fachkräfte gerne eine Checkliste hben würden, die es erleichtert, diese Verhaltensweisen zuzuordnen. Die gibt es nach meiner systemischen Sichtweise so leider nicht, denn der Kontext ist jedes Mal anders. Aber es gibt Hinweise, auf die man achten kann. Sie können z. B. darauf zu schauen, ob die Kinder, wenn sie spielen auch wirklich spielen und explorieren oder ob sie aufgrund ihres unsicheren Bindungstyps sich damit einfach nur selbst beruhigen und ihren Stress bewältigen. Hier kann man erkennen, dass die Kinder einen höheren Stresslevel haben und damit auch eine niedrigere Stresstoleranz. Hirnphysiologisch betrachtet wird deutlich, wenn Kinder von Stress, Druck, Angst und Gewalt betroffen sind, ist ihre Entwicklung nicht gut möglich oder sogar rückläufig, da sich beispielsweise die Signalraten der Spiegelneuronen verringern. Sie können dann viel weniger partizipieren und explorieren. Diese oft »unauffällig auffälligen« Kinder benötigen feinfühlige Bindungspersonen, die ihre Situation erkennen und ihnen helfen, sich in ihrem Stress zu ko-regulieren.
A: Das heißt, dass nur die krassesten Fälle in der Kita auffallen?
Anja Thürnau: Es wäre schön, wenn auch die Kinder gesehen würden, die nur zarte Signale senden, die so »auffällig unauffällig« sind. Sicher gebundene Kinder melden sich und sagen, was sie brauchen. Die sorgen für sprichwörtlich für sich. Die Kinder, die eher durchs Rost fallen sind eher die, die eben nicht sicher, sondern unsicher oder desorganisiert gebunden sind. Da lohnt es sich wirklich hinzusehen und diesen Kindern mehr Zuwendung geben. Etwa über ein visuelles oder verbales Bonding oder sie über körperliche Zuwendung in ihrem Stress zu ko-regulieren, indem die Fachkraft dem Kind beispielsweise über den Arm streicht. Den Kindern, die dies benötigen, etwas mehr zu geben, wie mehrfach in der Stunde anzudocken und ihnen ein visuelles Bonding, ein freundliches Gesicht anzubieten, das wirkt schon stressreduzierend. Dabei wirkt das stressreduzierende Bindungshormon Oxytocin. Wichtig ist außerdem die Resilienz der Kinder zu fördern. Die Kita als Bildungsorganisation kann beispielsweise in der Psychoedukation von KipeE entscheidend mitwirken. Es ist einfach für Kinder sehr gut, über die psychische Erkrankung ihrer Eltern informiert zu werden, denn dann können sie lernen, besser damit umzugehen. Hinzu kommt, dass das Tabu und/oder die Scham, die in vielen Familien dafür sorgt, dass diese Themen vor der Außenwelt geheim gehalten werden, gebrochen wird. Das führt in vielen Fällen zu einer Reduktion von Stress in der Familie. Voraussetzung für die Psychoedukation im Einzelfall ist die Information und das Einverständnis der Eltern.
A: Wie kann man das machen?
Anja Thürnau: Kitas, die das Thema »KipeE« als Schwerpunkt beispielsweise in ihrer Konzeption verankert haben, können wie beschrieben, die Eltern systematisch über die Wichtigkeit des Themas, etwa in einem der ersten Elternabende informieren und dort die thematischen Angebote für alle Kinder vorstellen. Kinder haben ja noch keine Sprache und kein Verständnis oder Wissen über das Thema, deshalb sollten wir ihnen dafür die kind- und altersgerechte Sprache und Information geben, was wir als Psychoedukation bezeichnen. Als thematischer Einstieg bietet es sich an z.B. über Gefühle und Krankheiten allgemein mit den Kindern zu beginnen, um dann das Thema KipeE allen Kindern anzubieten. Das ist auch schon bei kleinen Kindern möglich. Die verstehen das natürlich nicht inhaltlich, aber auf der emotionalen Ebene. Wenn man Kindern sagt, deine Mutter ist traurig, aber es geht ihr bald wieder besser und du bist jetzt hier, dann ist das auch eine Form von Psychoedukation.
A: Würden Sie das Thema psychische Erkrankungen ganz allgemein in der Kita ansprechen?
Anja Thürnau: Ja, z.B. beim Elternabend, wo man die konzeptionellen Schwerpunkte vorstellt, da kann man das gut unterbringen. Man könnte etwa sagen: Wir machen Sexualpädagogik, die Kinderrechte und haben einen Schwerpunkt auf Krankheiten und psychische Krankheiten. Das richtet sich an alle Eltern, egal ob sie krank oder gesund sind. Wir wissen aber, dass das für die Kinder kranker Eltern einen Unterschied macht. Informationen über bestimmte Themen bringen Kinder in Selbstwirksamkeit. Dies fördert die Resilienz, also ihre psychische Widerstandskraft. Das heißt, dass die Kinder eher die Chance haben, gesund aufzuwachsen, auch wenn sie aus einer belasteten Familie kommen. Es gibt natürlich auch Eltern, die das überhaupt nicht möchten. Deshalb sollten Kitas, denen dieser Schwerpunkt wichtig ist, dies in der Konzeption berücksichtigen und es den Eltern gleich zu Anfang kommunizieren. Die Erlaubnis zur Psychoedukation des Kindes im Einzelfall obliegt in jedem Fall dem Einverständnis der Eltern.
Jeder Erwachsene hat das Recht, eine psychische Erkrankung zu entwickeln und jeder hat das Recht Eltern zu sein.
A: Haben Sie den Eindruck, dass das Thema »psychische Krankheiten« immer noch ein Tabuthema in der Kita ist?
Anja Thürnau: Ja, denn es betrifft ja nicht nur die Eltern, sondern auch die Fachkräfte. Wir alle können im Laufe unseres Lebens eine psychische Krankheit entwickeln. Das ist wichtig zu beachten. Ich möchte jedoch auch betonen, dass sich in den letzten Jahren schon sehr viel getan hat. Es gibt sehr viele gute Fachbücher, neue Strukturen und dementsprechend gelingende Fallverläufe. Ich möchte aber noch einmal betonen: Es ist nicht nur ein Tabuthema auf Elternseite, es ist auch ein Tabuthema auf Mitarbeiterseite. Ich bekomme immer mehr Anfragen von Kitas wegen psychisch erkrankter oder belasteten Mitarbeiter:innen. Sowohl für Eltern als auch für Fachkräfte gilt: Ist der- oder diejenige offen, krankheitseinsichtig und in Therapie/Behandlung ist, ist dies erst einmal als Ressource zu betrachten. Es ist eine Krankheit wie jede andere auch. Das bedeutet für Fachkräfte möglicherweise, dass er oder sie besondere Rahmenbedingungen braucht. Jeder Erwachsene hat das Recht, eine psychische Erkrankung zu entwickeln und jeder hat auch das Recht Eltern zu sein. Es ist die Frage, welche Hilfs- und Unterstützungsstrukturen Eltern oder Fachkräften, zur Verfügung stehen.
Es geht bei den Kindern darum, in die Resilienz fördernden Schutzfaktoren »reinzubuttern« und ihren Selbstwert zu stärken.
A: Was vermitteln Sie in ihrem zweiten Buch zum Thema Kinderschutz?
Anja Thürnau: Wir kommen nicht weiter ohne den Kontext, in dem sich die Kinder befinden. Deshalb bietet sich aus meiner Erfahrung besonders der systemische Blick im Kinderschutz an, indem wir uns differenziert den Kontext ansehen: Was sehen wir auf der Elternebene? Sind Mutter und Vater erkrankt oder gesund? Und sie dann fragen: »Sind Sie versorgt? Haben Sie einen Facharzt?« Das ist ganz oft nicht der Fall. Wir brauchen hier die Vernetzung mit der Erwachsenenpsychiatrie, die Fachkräfte berät, was für eine Erkrankung vorliegt oder bei Einverständnis der Eltern, diese unterstützt. Der nächste Blick richtet sich auf die Kinderebene: Wie viele Kinder leben (noch) in der Familie? Welches Kind braucht welche Unterstützung. Der dritte Blick fokussiert die Familienebene: Was benötigt diese als Hilfsangebot? Verfügt die Familie über ein unterstützendes Familien- oder Freundesnetz? In manchen Fällen ist die Mutter sprichwörtlich »mutterseelenallein« und hat keine Kontakte. Dann ist es mit Zustimmung der Eltern eine gute Möglichkeit, ein professionellen Helfernetz zu organisieren, oftmals bestehend aus Eingliederungshilfe, Kinder- und Jugendhilfe und Medizin (erwachsenpsychiatrische Diagnostik, Psychotherapie usw.). Weiter sollte der institutionelle Kontext angesehen werden: Wie sind die Rahmenbedingungen für das Kind in der Gruppe/Einrichtung? Wie feinfühlig sind die Betreuer*innen? Das alles gehört zu dem Kontext und einem systemischen Fallverstehen des Kindes dazu. Ich bezeichne es als systemische Diagnostik im Kinderschutz. Zusammengefasst stelle ich den Fachkräften in meinem Buch eine konsequente Verbindung von Kinderschutz und systemischer Denkweise an die Seite mit dem Ziel, nicht an den Kindern vorbei zu agieren, sondern sie wirksam zu stärken und gemeinsam mit den Eltern in die Kommunikation zu holen. Dabei nehme ich das Schlüsselthema KipeE besonders in den Blick. Der hieraus entstandene Kinderschutzkompass vermittelt systemische Grundannahmen, Haltungen und Methoden, aber gleichzeitig auch wirksame Praktiken der Selbstfürsorge und unterfüttert diese mit zahlreichen Fallbeispielen aus meiner Kinderschutzpraxis.
A: Was empfehlen Sie den Einrichtungen?
Anja Thürnau: Genau hinzuschauen und zu versuchen, den Eltern die o. g. Informationen zu geben, um sie mit ins Boot zu holen und ihnen Unterstützung anzubieten, falls nötig und gewünscht. Das bedeutet auch die Relevanz für Fachkräfte zu erkennen, dass die Eltern möglicherweise psychisch krank sind. Wenn man das nicht erkennt und ihnen lauter Aufgaben gibt, nach dem Motto »Tun Sie dies, tun Sie das«, dann funktioniert das meist nicht. Sobald Eltern psychisch erkrankt sind, dann kann es zu Situationen kommen, in denen diese sinnbildlich die Tür nicht mehr aufmachen. Es braucht Wissen zu dem Thema, es braucht Fort- und Weiterbildung und Beratung für die Fachkräfte. Es braucht auch eine Art Lotsenberatung, damit die Kita die Eltern weiter hier anbinden kann, denn die Kita kann bestimmte Beratungen nicht leisten. Dafür brauchen die Kitas bestimmte unterstützende Strukturen, wie Netzwerke zusätzlich zu dem der Frühen Hilfen. Die Einrichtungen brauchen dabei Unterstützung.
A: Was kann man denn mit den Kindern tun, wenn man die Eltern nicht an Bord kriegt?
Anja Thürnau: Man kann die resilienzfördernden Schutzfaktoren empowern, wie etwa die Kinder ko-regulieren und in ihrem Selbstwert stärken, mehr Feedback geben und die Spiegelneuronen einpflegen: »Ich sehe, was Du fühlst. Siehst Du mich? Ich sehe dich.« Die Kita kann auch mit den Kindern besonders an sozial-emotionalen Themen arbeiten, wie: »Was sind Gefühle eigentlich? Was sind meine Rechte und wo sind meine Grenzen?« Ich habe sehr gute Erfahrung damit gemacht, den Kindern ein Lied an die Hand zu geben, womit sie sich selbst beruhigen können. Das ist das Klopflied (Stressreduktionslied) aus meinem Buch »Kinder psychisch kranker Eltern in der Kita«: »Wenn ich traurig bin, dann klopfe ich auf die Hand (…) Ja, dann geht es mir bald wieder richtig gut …«. Es gibt zu der Methode auch Geschichten und Bücher, die unterstützend eingesetzt werden können und dem Kind signalisieren: »Ich bin ein starkes Kind, ich kriege das hin!« Ich empfehle den Kitas, die den Schwerpunkt für sich und die Kinder in ihrer Einrichtung erkennen, sehr bindungsorientiert zu arbeiten. Es geht darum den Selbstwert der Kinder als extrem wichtigen Schutz- und Resilienzfaktor zu stärken ¬– das ist mindestens so wichtig, wie mit der Schere schneiden zu können.
Das Gespräch führte: Christiane Rose
Anja Thürnau
Dipl. Sozialpädagogin, staatlich anerkannte Erzieherin, Kita-Fachberatung und Koordinatorin des Netzwerks HiKip – Hilfen für Kinder psychisch kranker Eltern im Landkreis Hildesheim, systemische Therapeutin (SG), systemische Supervisorin (SG) in freier Praxis