„Es geht dabei nicht um Luxus, sondern darum, etwas zu essen zu haben.“

Finanzielle Sorgen, Schulden, Stress, Existenzängste – die Psyche leidet. Christian Gatermann berät von Armut bedrohte junge Menschen auf ihrem Weg in ein (finanziell) autonomes Leben.

Interview mit Christian Gatermann

Christian Gatermann ist Erziehungswissenschaftler. Über die Arbeit in der Familienhilfe, in Jugendwohngruppen und Jobs fernab der Pädagogik, ist er vor acht Jahren zu rat&info gekommen. Einem Projekt, in dem junge Menschen rund um das Thema 'Soziale Absicherung' beraten werden. Neben Fragen zu BAföG oder ALG-II-Leistungen, müssen sich junge Ratsuchende verstärkt existenziellen Themen stellen: „Knappe finanzielle Mittel und Armut sind Themen, die uns täglich begegnen – und das leider in zunehmendem Maße.“ Zum Themenschwerpunkt „Psychische Erkrankungen und Armut“ gibt Christian Gatemann Einblicke in seine Arbeit. Im Interview spricht er u. a. darüber, wie man bereits in jungen Jahren in den Teufelskreis von Schulden gerät, was das mit der Psyche macht und in welche Loyalitätskonflikte junge Erwachsene auf dem Weg in ein autonomes Leben geraten, besonders dann wenn ein Elternteil psychisch erkrankt ist.
 

A: Was ist rat&info? 

Christian Gatermann: rat&info ist eine Einrichtung im Stadtteilzentrum Motte des Trägers basis & woge e. V. in Hamburg Altona. Unsere niedrigschwelligen Angebote richten sich an junge Erwachsene zwischen 17 und 27 Jahren. Neben den Beratungen ist es uns wichtig, einen Begegnungsort zu schaffen und Austausch zu fördern. Das gelingt uns über unser Frühstückscafé, dass wir einmal die Woche anbieten. 

A: Worum geht es bei rat&info? 

Christian Gatermann: Wir sind für alles offen, was junge Menschen mit uns besprechen möchten. Unser Fokus liegt dabei auf Themen wie soziale Absicherung und Existenzsicherung. Wir beraten zu BAföG, ALG-II-Leistungen, Kindergeld oder Ausbildungshilfe, da für einige junge Menschen das System dahinter schwer zu durchschauen ist. Fragen zu Aufenthaltsrecht begegnen uns ebenso häufig.
 

A: Wie finden junge Menschen zu Ihnen? 

Christian Gatermann: Das ist ganz unterschiedlich. Viele kommen über Mund-zu-Mund-Propaganda zu uns. Es gibt aber auch den Zugang über den Allgemeinen Sozialen Dienst des Jugendamts, Jugendberufsagenturen oder Träger und Einrichtungen, die an uns verweisen. Wichtig ist festzuhalten, dass diese Wege funktionieren, denn die Menschen erreichen uns.
 

A: Wer nutzt Ihr Angebot und welche Anliegen bringen die jungen Menschen noch mit? 

Christian Gatermann: In erster Linie kommen Menschen zu uns, die die Ressourcen, die wir bieten, nicht aus anderen Quellen beziehen können. Der Background der Ratsuchenden ist zumeist so, dass weder das nötige Wissen noch materielle Mittel z.B. aus dem Elternhaus vorhanden sind. Knappe finanzielle Mittel und Armut sind Themen, die uns täglich begegnen – und das leider in zunehmendem Maße. Wir helfen bei der Frage, wie sie ein finanzielles Auskommen erlangen können, auch mit öffentlichen Mitteln.

„Wir beraten zu BAföG, ALG-II-Leistungen, Kindergeld oder Ausbildungshilfe, da für einige junge Menschen das System dahinter schwer zu durchschauen ist.“


A: Es geht also viel darum, junge Menschen auf ihrem Weg zu begleiten und finanzielle Möglichkeiten aufzuzeigen, damit sie ihren Platz im Leben finden und ein Auskommen haben.


Christian Gatermann: Genau, das Stichwort ist „Verselbstständigung“. „Ich möchte oder kann nicht mehr zu Hause wohnen. Wie kann ich die Mittel beschaffen, um das hinzukriegen?“ Dieser Frage schließen sich viele Folgefragen an wie z. B. die nach bezahlbarem Wohnraum. Wir helfen dann u. a. bei Antragstellungen. Trotz der staatlichen Unterstützung wollen die Ratsuchenden ihre Autonomie bewahren.
 

A: Behördliche Wege sind oft lang und kompliziert. Ich kann mir vorstellen, dass dies für viele junge Menschen entmutigend ist. An dieser Stelle verstehe ich Sie als Lotse und Mutmacher. 

Christian Gatermann: Ja, das sind wir. Wir versuchen unseren Ratsuchenden beizubringen, was funktionieren kann und was nicht. Dabei wollen wir ihnen nicht alles abnehmen, sonst gäbe es keinen Lerneffekt. Deshalb arbeiten wir auch wenig mit Vollmachten.
 

A: Lassen Sie uns in diesem Kontext über das Thema „Armut“ sprechen. Sie sagten, die Heranwachsenden, die zu Ihnen kommen, wollen auf eigenen Beinen stehen. Woran merken Sie, dass sie wenig finanzielle Mittel haben?

Christian Gatermann: In unseren Beratungen fragen wir bestimmte Dinge ab, die auch für Behörden relevant sind. Hier kommt viel über den Background der Menschen ans Licht. Über den finanziellen Status erfahren wir mehr, wenn Ratsuchenden bereits Wissen über das System von ALG II mitbringen oder dann, wenn Eltern ihren Kindern Unterhalt zahlen oder nicht. Wenn sie die Systeme kennen, kann das für unsere Arbeit von Vorteil sein, weil wir nicht bei null anfangen müssen. Unsere Ratsuchenden thematiseren z.B. auch die Frage, inwiefern sich ihre Arbeit lohnt, wenn der größte Teil auf SGB II Leistungen angerechnet wird und deshalb nicht viel vom Lohn als Zusatz übrig bleibt. Dann geht es auch um Sinnhaftigkeit und den Inhalt der Arbeit.


„Wir haben sehr viele Jugendliche im ALG II Bezug, die bereits verschuldet sind.“

A: Sagen die Ratsuchenden von sich selbst, dass sie arm sind? 

Christian Gatermann: Dass sich die Menschen selbst als arm bezeichnen, passiert relativ selten. Die Empörung darüber, dass die Behörden so viel wissen wollen, ist viel größer. Hier kommt die Stigmatisierung her, dass sich viele Ratsuchenden sehr kontrolliert fühlen.
Da wir wissen, dass die jungen Erwachsenen am Ende des Monats oft keine ihrer Leistungen mehr haben, verfügen wir über sogenannte Handgelder. Das sind 10 € bis 15 €, die wir für Verpflegung herausgeben können. Das passiert regelmäßig. Das Wort „Armut“ wird von den Ratsuchenden jedoch nicht genutzt. Für mich ist das ganz klar „Armut“.
 

A: Sind die Leute beschämt, nach dem Handgeld zu fragen? 

Christian Gatermann: Einige sind beschämt. Wir versuchen ihnen das Gefühl der Beschämung zu nehmen, aber das gelingt nicht immer. Für andere ist es überhaupt nicht beschämend. Das ist immer eine Typfrage. Es ist eine existenzielle Not zu sagen: „Ich habe gerade nichts mehr im Kühlschrank.“ Es geht dabei nicht um Luxus, sondern darum, etwas zu essen zu haben. Dieser Zustand kann zu den ersten Schulden führen, die junge Menschen aufbauen. Wenn es an Essen fehlt, zahlt man z. B. einen Monat lang seine Handyrechnung, die Strom- oder Wasserkosten nicht. Wir haben sehr viele Jugendliche im ALG II Bezug, die bereits verschuldet sind. In diesen Fällen versuchen wir beim Jobcenter über Darlehen zu erreichen, dass Strom oder Wasser nicht abgestellt werden. Darlehen müssen aber auch zurückgezahlt werden. Das sind auch Schulden. 

A: Das Gefühl von „Das, was ich habe, reicht nicht!“, gräbt sich als Lebensgefühl ein. Das Mühlrad in die andere Richtung zu bewegen, ist nicht einfach. 

Christian Gatermann: Das ist nicht einfach. Deshalb ist es unser Ziel, ihnen aus dieser Situation rauszuhelfen und sie in Richtung autonomes Leben zu beraten. Dabei sollen die Ratsuchenden Eckpfeiler wie Wohnung, Freundeskreis und Hobbys aufbauen. Wenn sie diese Dinge erreichen, wie z. B. den ersten Schulabschluss (ESA), prägt das den Selbstwert mehr als bei den Menschen, die es von Haus aus leichter haben. 

A: Es gibt viele junge Menschen, die in Wohngruppen der Stationären Jugendhilfe leben, Stichwort „Care Leaver“. Sie sind zunächst in einer Jugendhilfemaßnahme, bis sie volljährig sind. Sie kennen oft die Strukturen staatlicher Leistungen. Teil der Hilfen ist auch sie auf die Verselbstständigung und damit in die finanzielle Unabhängigkeit vorzubereiten. Nutzt diese Zielgruppe Ihr Angebot?
 

Christian Gatermann: Zu uns kommen immer wieder junge Menschen aus Wohngruppen. Das Ziel, dass sie in der Wohngruppe auf ein möglichst selbstständiges Leben vorbereitet werden, kann nicht immer erreicht werden. Daran sind nicht die pädagogischen Fachkräfte schuld. Es bleibt oftmals eine gewisse Abhängigkeit von staatlichen Unterstützungsinstitutionen, von Beratungsstellen oder Eingliederungshilfen. Wir merken, dass es für diese Menschen eine weitere Belastung ist, wenn sich der Weg zur Autonomie nach dem Auszug nicht direkt erfüllt. Genau für so eine „Nachsorge“ ist rat&info da – zumindest bis zum 27. Lebensjahr.
 

„Es bleibt oftmals eine gewisse Abhängigkeit von staatlichen Unterstützungsinstitutionen, von Beratungsstellen oder Eingliederungshilfen.“

A: Werden Sie oft mit dem Thema „Kinder psychisch erkrankter Eltern“ konfrontiert? 

Christian Gatermann: Ja, das Thema begegnet uns relativ oft. Es wird nicht als psychische Erkrankung artikuliert, aber die Betroffenen beschreiben, was bei ihren Eltern vorgeht und wie der Kontakt zu ihnen ist. Daraus können wir zwar keine Diagnose ableiten, aber wir bekommen eine Idee davon, was zu Hause los war bzw. los ist. Mit dem Elternhaus gibt es häufig auch Konflikte, die mit der psychischen Erkrankung der Eltern einhergehen. Wir versuchen den jungen Menschen dann auch verständlich zu machen, wo die Not ihrer Eltern liegt - auch wenn ihr eigener Weg und Ihr Interesse im Vordergrund der Beratung steht.
Was wir merken, ist: Finanzielle Not verstärkt psychische Leiden. Ratsuchende sagen dann ganz oft „Das macht meinen Kopf kaputt!“, wenn sie jeden Tag daran denken müssen, ihren Kühlschrank voll zu kriegen. Psychische Erkrankungen und materielle Not hängen oft miteinander zusammen.
 

A: Wenn sich Jugendliche und junge Erwachsene um ihre eigenen Entwicklungsschritte kümmern und z. B. ausziehen wollen, kommen sie ihren Eltern gegenüber in einen Loyalitätskonflikt? 

Christian Gatermann: Der Auszug von zu Hause und die Frage „Ist die Wohnung dann zu groß, wenn die Eltern ALG-II-Leistungen bekommen?“, ist regelmäßig Thema in den Beratungen. Das führt zu Loyalitätskonflikten, weil die Angst besteht, dass die Mutter die Wohnung aufgeben muss, wenn das Kind auszieht. Ich versuche diese Angst immer zu nehmen, indem ich sage: „Das geht nicht so schnell. Das Jobcenter kann deine Familie nicht innerhalb eines Monats dazu auffordern, eine neue Wohnung zu finden, denn das Kostensenkungsverfahren erstreckt sich über ein Jahr.“ Gerade bei psychisch erkrankten Eltern gibt es die Möglichkeit, dass sie in der Wohnung bleiben können, wenn ein Kind auszieht. Ich ermutige sie dann trotzdem von zu Hause auszuziehen. Loyalitätskonflikte entstehen auch, wenn sich das Kind verantwortlich für seine Eltern fühlt. In diesem Fall ermutigen wir und sagen: „Du gehst jetzt erstmal deinen eigenen Weg.“ Das heißt nicht, dass man seine Eltern im Stich lässt. Eltern können das immer als Verrat empfinden. In dem Fall sprechen wir auch mit den Eltern in der Beratungsstelle. Manchmal melden sich die Eltern sogar selbst bei uns. Das muss alles transparent verlaufen, denn wir wollen die Ratsuchenden nicht verschrecken. 

A: Sie sind also auch Lebensbegleiter. Über welchen Zeitraum erstreckt sich diese Aufgabe? 

Christian Gatermann: Die Bandbreite der Beratung erstreckt sich über einmalige Termine und bis hin zu fünf oder sechs Jahren. Wir arbeiten nach Bedarfen, anders als bei Hilfen zur Erziehung.


„Finanzielle Not verstärkt psychische Leiden.“

A: Können Sie von einer Erfolgsgeschichte erzählen, die sie sehr berührt hat?
 

Christian Gatermann: Mich berühren die Geschichten, in denen unsere Ratsuchenden etwas geschafft haben. Gerade mit einem schweren Backround, finde ich es noch mal beeindruckender. Ich freue mich sehr, wenn ich erfahre, dass jemand einen Studienplatz bekommen hat und z. B. eine pädagogische Laufbahn anstrebt. Ich glaube, dass Menschen mit einem schweren Background sehr viel in diese Berufsfelder einbringen können. Denn das, was sie haben, ist auch ein positives Pfund, eine gewisse Widerstandskraft und Resilienz. Ich betone bei den Ratsuchenden, dass sie das, was sie erlebt haben, auch positiv sehen können. Das fällt in dem Moment allerdings nicht leicht, aber es können wertvolle Erfahrungen sein, die andere vielleicht nicht machen. Es gibt aber auch ein negatives Berührtsein. Das empfinde ich, wenn absehbar erscheint, dass auf längere Zeit ein Bedarf nach Hilfe und Unterstützung nötig ist.
 

A: Was müsste Ihrer Meinung nach die Gesellschaft tun, damit diese Menschen nicht in Armut tradieren? 

Christian Gatermann: Ich wünsche mir, dass all die Behörden, wo Leistungen für junge Menschen beantragt werden können, kund*innenfreundlicher werden. Das heißt, die Behörden könnten versuchen, möglichst niedrigschwellig Leistungsansprüche einzulösen. Das fängt bei den Formularen an und hört bei den Öffnungszeiten auf. Ebenso das Begegnen auf Augenhöhe. Wofür es eine zunehmende Sensibilisierung gibt, sind Formulare in Leichter Sprache.


„Mich berühren die Geschichten, in denen unsere Ratsuchenden etwas geschafft haben.“


Zu Fragen der Wohnungsversorgung sollte sich auch einiges verbessern. Junge Leute, die noch keine Ressourcen haben, stehen bei Vermieter*innen ganz unten auf der Liste. Oftmals finden sie nur eine Wohnung über einen Dringlichkeitsschein. Wir sagen unseren Ratsuchenden, dass sie mindestens sechs Monate für die Wohnungssuche einplanen sollten.
Wir fordern seit Jahren eine Notschlafstelle für Menschen, die für die Jugendhilfe zu alt sind, die wir aber nicht in der Wohnungslosenhilfe sehen wollen. Es gibt momentan keinen Ort, wo sie bleiben können, wenn sie z. B. von zu Hause rausgeflogen sind. Das finde ich ganz dramatisch.
 

A: Diese Motivation, sich das eigene Leben aufzubauen, über einen so langen Zeitraum zu halten, strengt neben den finanziellen Sorgen an. Das lässt die Menschen nicht gesünder werden. 

Christian Gatermann: Das ist richtig. Es kommt hinzu, dass man diese Menschen in einer gewissen Abhängigkeit hält. Das ist dann auch keine Autonomie mehr. Nicht zu vergessen ist das Thema der kulturellen Teilhabe. Das fängt beim Sportverein an und hört bei dem Lernen eines Musikinstruments, dem Konzertbesuch oder dem Verreisen auf. All das, was zum Erwachsenwerden dazugehört. Ich stelle immer häufiger fest, dass die Ratsuchenden überhaupt nicht verreisen und das auch nicht kennen. Neulich kam eine Frau Anfang 20 zu mir, die in Hamburg aufgewachsen ist und sagte: „Ich war noch nie am Meer.“ So etwas berührt mich und macht mir deutlich, was für unterschiedliche Lebensrealitäten vorhanden sind.
 

„Junge Leute, die noch keine Ressourcen haben, stehen bei Vermieter*innen ganz unten auf der Liste.“


A: Was denken Sie, braucht es in Zukunft für Kinder, Jugendliche und ihre psychisch erkrankten Eltern in Hamburg? 

Christian Gatermann: Ich würde mir ein System wünschen, was eine Niedrigschwelligkeit möglich macht. Mein Eindruck ist, dass die Hilfesysteme im Bereich der psychischen Erkrankungen sehr hochschwellig sind. Zwar gibt es in Teilen passende Anlaufstellen und Angebote, aber die Menschen müssen sie nutzen können. Fühlen sie sich dort wohl, fühlen sie sich gesehen und können sie sich öffnen?
Wünschenswert wäre auch, dass Hilfesuchende erst einmal akzeptiert werden und nicht in diagnostischen Verfahren enden. Es geht darum, wie Menschen mit Diagnose ihr Leben meistern können.
 

A: Das war ein sehr interessantes und inspirierendes Gespräch. Haben Sie vielen Dank.


Christian Gatermann: Sehr gern, ich danke Ihnen.

Dieses Interview führte Juliane Tausch

Christian Gatermann

Christian Gatermann arbeitet seit 2013 als Berater bei rat&info. Er war auch im Bereich HzE tätig und in der ausserschulischen Bildungsarbeit.

Verweise

rat&info 

ist ein sozialräumliche Beratungseinrichtung für 17-27jährige aus dem Raum Altona, Termine können über Mail oder telefonisch kurzfristig vereinbart werden Dienstag und Donnerstag von 15-18 Uhr offene Sprechzeit 
 

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