Ein Gutachten ist für die Familie eine neue Chance, ihre Sichtweise darzustellen

Ein psychologisches Gutachten dient zur fachlichen Vorbereitung und Unterstützung für richterliche Entscheidungen

Interview mit Henrike Dierks

Ein psychologisches Gutachten dient zur fachlichen Vorbereitung und Unterstützung für richterliche Entscheidungen, die Einfluss auf familiäre Schicksale haben. Als Psychologische Sachverständige schreibt Henrike Dierks solche Gutachten, z. B. in Sorgerechtsfragen.

A: Frau Henrike Dierks, bei strittigen Sorgerechtsfragen, wenn es um Kindeswohlgefährdung geht, kommen Sie ins Spiel. Wie kann man sich das vorstellen?

Henrike Dierks: Zunächst muss man unterscheiden zwischen den Fachpsycholog*innen für Rechtspsychologie und den Psychologischen Sachverständigen. Beim ersten Berufsbild kann man z. B. auch bei der Polizei, dem Maßregelvollzug oder in der Gefährlichkeitsprognose tätig sein. Nur einige der Fachpsycholog*innen arbeiten als Sachverständige fürs Familiengericht. Das ist aber wiederum keine Voraussetzung, um vom Gericht bestellt zu werden. Hierfür ist nur gefordert, über eine psychologische, psychotherapeutische, ärztliche, pädagogische oder sozialpädagogische Berufsqualifikation zu verfügen. Die Richter*innen sind frei in der Auswahl der Sachverständigen. Wir sind im Prinzip fachliche Gehilfen des Gerichts und beraten dieses, wenn es Entscheidungen in Kindschaftssachen zu treffen hat, indem wir unsere psychologisch-wissenschaftlichen Diagnostikerkenntnisse als Grundlage bereit-stellen. Richter*innen beauftragen uns per Beschluss mit einer bestimmten Fragestellung in Bezug auf ein oder mehrere Kinder einer Familie. Das beantworten wir in einem schriftlichen Gutachten. Bei etwa fünf bis zehn Prozent aller familiengerichtlichen Verfahren, die Kindschaftssachen zum Gegenstand haben, wird ein*e Sachverständige*r bestellt. Das sind ca. 10.000 bis 20.000 Kinder im Jahr in Deutschland, die einem Gutachter oder einer Gutachterin begegnen.

A: Wie entsteht so ein Gutachten?

Henrike Dierks: Ein Gutachten ist letztlich eine kleine entscheidungsorientierte wissenschaftliche Einzelfallstudie. Wenn ich den Auftrag erhalte, prüfe ich zunächst, ob ich für die Fragestellung über die notwendige Sachkunde verfüge. Dann studiere ich die Akte des bisherigen Verfahrensverlaufes in Bezug auf die psychologisch relevanten Sachverhalte. Ausgehend von der gerichtlichen Fragestellung formuliere ich psychologische Hypothesen in Form von Fragen und prüfe diese im Rahmen der Untersuchungen, d. h. der Gespräche, Interaktionsbeobachtungen und ggf. psychologischen Testungen mit den beteiligten Personen. Kommen dabei neue Aspekte hinzu oder verändert sich etwas im Prozess, erweitere ich ggf. meine Hypothesen. Man nennt das auch hypothesengeleitetes Vorgehen. Hierbei handeln wir Gutachter*innen natürlich nicht im luftleeren Raum, sondern orientieren uns an den familienrechtspsychologischen Kriterien und Erkenntnissen, z. B. zum kindlichen Entwicklungsstand, der Bindung und Beziehung, Kontinuität etc. Es geht darum, möglichst umfassend und transparent alle relevanten Kindeswohlaspekte einzubeziehen und im Gutachten nachvollziehbar zu machen, wie und weshalb man zu welchen Empfehlungen im Hinblick auf das betroffene Kind gekommen ist.

A: Wie ist es bei Eltern mit einer psychischen Erkrankung - laufen das die Prozesse anders?

Henrike Dierks: Ja, gerade Eltern mit psychischen Erkrankungen haben oft Sorgen und Ängste, dass sie von vornherein wegen ihrer Erkrankung in ihrer Erziehungsfähigkeit infrage gestellt werden oder die Entscheidung auf reiner Willkür einer Einzelperson basiert. Hier ist es wichtig, den Eltern zu vermitteln, dass unser Rechtssystem relativ gut funktioniert und ihnen guten Schutz vor Willkür bietet. In Bezug auf das erhöhte Misstrauen ist ein sorgfältiges Achten auf ein transparentes Vorgehen seitens der Gutachter*innen hilfreich, ebenso wie das Wissen um das besondere innere Spannungsfeld, in dem diese Eltern sich oft bewegen. Wichtig für die betroffenen Eltern ist es zu wissen, dass unser Blick weniger auf eine ärztliche Diagnose gerichtet ist als auf das konkrete Erziehungshandeln und seine Auswirkungen auf das Kind.

Bevor es zur Begutachtung kommt, ist mit der Familie meist schon viel gearbeitet worden. Über die Kinder und die Eltern wurde viel geschrieben und gesagt. Ein Gutachten ist für die Familie eine neue Chance, ihre Sichtweise darzustellen. Denn wir sehen die Familie quasi noch mal mit einem frischen Blick. Wir haben strukturell keine Verbindung zu den anderen Verfahrensbeteiligten und den einbezogenen Institutionen. Das ist für Familien sehr wichtig. Hinzu kommt, dass die Teilnahme an einer Begutachtung für die Familien freiwillig ist. Auch wenn wir mit Dritten sprechen, tun wir dies nur, sofern dies mit entsprechenden Schweigepflichtsentbindungen der sorgeberechtigten Eltern gedeckt ist. Ferner unterliegen wir der beruflichen Schweigepflicht gegenüber Dritten jenseits der Auskunftspflicht gegenüber dem Gericht. Das Gutachten bietet oft noch mal eine neue und vertiefte Sichtweise auf die Dinge.

A: Stichwort Partizipation: Inwieweit haben Kinder ein Mitspracherecht?

Henrike Dierks: Der Kindeswille ist eines der Kriterien des Kindeswohls. Insofern erheben wir den Kindeswillen im Rahmen einer Begutachtung immer, sofern dies entwicklungsbedingt möglich ist und berücksichtigen diesen, wenn er dem Kindeswohl nicht widerspricht. Bei Fragestellungen im Rahmen von Sorgerechtsregelungen fließt der Kindeswille häufig maßgeblich ein, also z. B. bei Fragen wie: „Entspricht es dem Wohl des Kindes besser, wenn es seinen Lebensmittelpunkt bei der Mutter oder beim Vater hat?“ oder „Welche Umgangsregelung entspricht dem Kindeswohl am besten?“ Etwas anders ist die Sache gelagert, wenn die Frage im Zentrum steht, ob das Kindeswohl gefährdet ist, wenn die Eltern das Kind in ihrem Haushalt weiter betreuen und ggf. Maßnahmen empfohlen werden sollen, die notwendig sind, um die Gefährdung abzuwenden. Hier ist es häufiger so, dass das Kind aus seiner Perspektive heraus etwas anderes möchte, als zu seinem Schutz jedoch notwendig ist. Gleichwohl ist der Kindeswille auch bei diesen Fragen in die Gesamtabwägung einzubeziehen, ggf. auch hinsichtlich möglicher nachteiliger Folgen der Nichtberücksichtigung.

A: Wie gehen Sie vor, wenn Sie sich ein Bild der familiären Situation machen wollen?

Henrike Dierks: Wenn ich meinen Untersuchungsplan erstellt habe, lade ich zumeist erst die Eltern einzeln ein und führe Gespräche im Hinblick auf meine Fragestellung. Ich will aus Sicht der Eltern die Entwicklungsgeschichte der Familie und ihres Kindes erfahren. Ich befrage sie zu ihrer Beziehung zum Kind, zu Aspekten der Erziehung und zu den eigenen Sozialisationserfahrungen sowie zu ihrer Problemsicht und ihren Lösungsansätzen. Ich erfahre dabei auch etwas über die Bewältigungsstrategien, Motive, Belastungen und Reflexionsmöglichkeiten des jeweiligen Elternteils. In der Regel folgen dann Hausbesuche.

A: Wie gestaltet sich so ein Hausbesuch?

Henrike Dierks: Zunächst lerne ich das Kind in seiner gewohnten Umgebung kennen und erlebe das Kind mit der Mutter bzw. dem Vater. Dabei gibt es eine überwiegend vom Elternteil und Kind frei gestaltete Phase und meist noch eine strukturierte Interaktionsbeobachtung, bei der kleine Aufgaben vorgegeben werden, wie z.B. gemeinsam ein Puzzle zu legen. Die Auswertung erfolgt dann wiederum anhand bestimmter Kriterien. Wenn das Kind schon sprechen kann und entwicklungsbedingt dazu in der Lage ist, gestalte ich auch eine Einzel-Untersuchungssituation. Ich erkläre kindgerecht, was meine Rolle ist und befrage das Kind zu seinem Alltag, seinen Elternbeziehungen, ggf. auch seiner Wahrnehmung der Probleme, seinen Befürchtungen und seinen Lösungsvorstellungen und Wünschen. Ich wende dafür auch kinderdiagnostische Verfahren an und versuche je nach Alter spielbasiert einen Zugang zum Kind zu ermöglichen.

Ich mache in der Regel drei Untersuchungen mit dem Kind, jeweils bei beiden Elternteilen zu Hause und möglichst auch noch mal in einer neutralen Situation. Das geschieht dann z. B. in der Schule, in der Kita oder ggf. bei uns im Spielzimmer der Praxis. Wenn eine Kindeswohlgefährdung im Raum steht, gehe ich mehrfach in die Familie. Das heißt, es gibt mehrere Untersuchungszeitpunkte und Untersuchungssettings.

A: Welche Fragestellungen begegnen Ihnen im Kontext Kinder psychisch erkrankter Eltern?

Henrike Dierks: Nach der Kindeswohlgefährdung und Hilfemaßnahmen wird gefragt, wenn es bei einem Kind z. B. zu langem Schulabsentismus vor dem Hintergrund einer Angststörung oder Depression des Elternteils kommt oder wenn es beim Elternteil in der Vergangenheit suizidales Verhalten gegeben hat. Bei wahnhafter Symptomatik der Eltern ist es manchmal unsere Aufgabe zu beurteilen, inwiefern das Kind in das wahnhafte Verhalten einbezogen wird und sich daraus Gefahren für das Kindeswohl ergeben. Wir werden auch bei Kindeswohlgefährdungsfragen hinzugezogen, wenn bei Eltern der Verdacht einer Suchterkrankung vorliegt oder diese unter einer Messi-Problematik leiden. Öfters begegnen uns im Begutachtungskontext diagnostizierte und nicht-diagnostizierte Persönlichkeitsstörungen von Eltern wie Borderline- oder Narzisstische Persönlichkeitsstörungen. Diesbezüglich geht es dann z.B. um die fragliche Erfüllung der kindlichen Bedürfnisse nach Kontinuität, Einheitlichkeit und emotionaler Sicherheit oder es liegen Hinweise für eine psychische Misshandlung oder eine schädigende Instrumentalisierung des Kindes vor.

A: Die Gutachten, die Sie schreiben, dienen als Entscheidungsgrundlage für Richter*innen. Sie beeinflussen den weiteren Lebensweg von Familien. Was geht in Ihnen vor, wenn Sie abwägen müssen zwischen dem Recht der Eltern vs. dem Recht des Kindes?

Henrike Dierks: Die rechtliche Abwägung obliegt dem Gericht. Zugleich enthält die Fragestellung des Gerichts an uns bereits den gesetzlich vorgegebenen Bewertungsmaßstab in Bezug auf das Kindeswohl. Der jeweilige Rechtsrahmen setzt die Eltern- und Kinderrechte also bereits in ein Verhältnis. Bei den Verfahren zur Kindeswohlgefährdung nach § 1666 BGB spielt dabei das sogenannte Wächteramt des Staates eine Rolle. Nach dem Gesetz haben Eltern das Recht zur Pflege und Erziehung ihrer Kinder im Sinne des Erziehungsprimats. Das heißt, der Staat darf hier nicht eingreifen. Zugleich ist das Erziehungsrecht ein pflichtgebundenes Recht. Die Eltern haben auch die Verpflichtung, ihr Kind zu erziehen und für es zu sorgen. Ein Kind hat qua Grundgesetz den Anspruch darauf, dass der Staat eingreift, wenn das Kindeswohl durch die Erziehung der Eltern gefährdet wird. Zudem gilt vom Gesetzgeber her das Herstellungsprinzip, also: Wie können die Eltern wieder in die Lage versetzt werden, ihre Elternfunktion für das Kind auszuüben?

A: Wie wahren Sie bei einem Gutachten überhaupt Ihre Unabhängigkeit?

Henrike Dierks: Schon durch meine methodische Ausbildung und die langjährige Erfahrung ist es mir in Fleisch und Blut übergegangen, meine spontanen emotionalen Reaktionen auf die Klient*innen zu hinterfragen. Ich betrachte diese als ein diagnostisches Mittel im Rahmen eines Untersuchungsprozesses, bei dem ich mich möglichst lange in Bezug auf alle Hypothesen offen halte. Darüber hinaus nützt das Wissen um typische Beobachtungsfehler, z. B. dass man den Schlüssel nur unter der Laterne sucht, weil es da so schön hell ist. Oft geschieht die Abwägung der verschiedenen Möglichkeiten und Aspekte wirklich erst bei der Ausarbeitung des schriftlichen Gutachtens, wenn es auf den Punkt gebracht werden muss. Ich halte auch die Neutralität für eine ganz wichtige Haltung in der psychologischen Diagnostik. Dabei versuche ich mich einzufühlen, aber auch immer wieder zurückzunehmen und einen Blick aus der Distanz zu gewinnen.

A: Was glauben Sie, was es für Kinder von psychisch erkrankten Eltern in Zukunft in Hamburg braucht?

Henrike Dierks: Persönlich wünsche ich ein breiteres Angebot, wie z. B. psycho-edukative Kurse für psychisch erkrankte Eltern im Hinblick auf die Situation ihrer Kinder. Das würde ich manchmal gerne als Maßnahme empfehlen. Wünschenswert wäre sowohl in der Forschung als auch in der Praxis ein interdisziplinärer Austausch. Hier könnte ich mir Foren vorstellen, in denen interdisziplinäre Fallkonstellationen bearbeitet werden. Gern würde ich mich daran beteiligen. Auch würde ich mir mehr familienrechtrelevante universitäre Forschung, insbesondere mehr Längsschnittstudien über familiäre Konstellationen und systematische Fallsammlungen wünschen. Ebenso bei der Entwicklung unserer spezifischen Diagnostikinstrumente gibt es noch viel zu tun. Es gibt in Deutschland erst eine Professur für Familienrechtspsychologie.

Das Interview führte Hanna Berster

Henrieke Dierks

ist Psychologin und Psychologische Sachverständige beim Familiengericht.

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