Dreizehn Thesen zum Kindeswohl
Warum die Einschätzung von Kindeswohlgefährdung im Kontext elterlicher psychischer Erkrankung so schwierig ist
Familien schützen sich
Familien, in denen ein Elternteil psychisch erkrankt ist, haben ihre guten Gründe, die Außenwelt so wenig wie möglich wissen zu lassen, dass etwas nicht stimmt bzw. dass Dinge nicht so gut laufen wie in anderen Familien. Die Tabuisierung und Stigmatisierung von psychisch erkrankten Menschen ist weiterhin stark ausgeprägt. Der Druck, in der Erziehung alles richtig zu machen, groß. Umso mehr erfüllt es betroffene Eltern mit Schuld und Scham ihre eigenen Einschränkungen in Hinblick auf ihre Elternschaft sichtbar werden zu lassen. Das Familiensystem erzeugt ausgeprägte Routinen darin, das Geheimnis zu wahren, nach außen hin heil zu wirken und in Bezug auf die Versorgung der Kinder alles wohl geordnet erscheinen zu lassen. Die Kinder übernehmen hier eine besondere Rolle, sind Expert*innen für Narrationen, die Normalität vermitteln (Lenz 2014).
Angst, dass die Kinder weggenommen werden
Es ist weiterhin so, dass Hilfe von außen als Bedrohung und Eingriff erlebt werden und die Gelingensgeschichten von Hilfen des Jugendamtes nicht oder zu wenig erzählt werden. In den Fokus von Ämtern zu gelangen, ist weiterhin mit der Angst verbunden, negative Konsequenzen oder Kontrolle zu erleben und „die Kinder weggenommen zu bekommen“. Dies erschwert es vielen Betroffenen, Hilfe zu suchen und in Anspruch zu nehmen (Lenz 2014).
Wenig Annahme von Hilfen
Die Berichte der Bundesexpertenkommission (www.ag-kpke.de) zeigen, dass Eltern zu wenig Unterstützung einfordern und bestehende Hilfsangebote nicht hinreichend wahrgenommen werden. Neben Scham, Tabuisierung und Angst vor negativen Konsequenzen sieht die Arbeitsgruppe auch Unkenntnis über Hilfsangebote, Überforderung durch unabgestimmte, unpriorisierte Hilfsangebote und mangelnde Krankheitseinsicht als Gründe für die fehlende Inanspruchnahme von Hilfen (Wiegand-Grefe et al 2019). Die Coronakrise zeigt noch einmal wie sehr auch die Frage der Erreichbarkeit, also der niedrigschwelligen unkomplizierten sozialräumlichen Hilfe dazu beitragen, Wetterbericht N°24 | 10 2021| Schwerpunkt 2 dass Unterstützungsangebote nahbarer und selbstverständlicher erscheinen. Multiplikator*innen, Brückenbauer*innen und Lots*innen, spielen hier eine wichtige Rolle (ism 2021). Wenn Hilfe erst dann initiiert oder angenommen werden muss, wenn es der einzige Weg zur Gefährdungsabwendung ist, dann sind die Gelingsaspekte schon reduziert, der Druck größer, die Maßnahmen eventuell mächtiger und der Spielraum geringer.
Vertrauen und Wertschätzung
Hilfe annehmen, heißt Vertrauen haben. Dies ist aber keineswegs selbstverständlich. Menschen mit psychischen Erkrankungen fällt es schwerer, Vertrauen zu fassen. Wie sehr fühlen sie sich trotz aller „Mängel“ angenommen? Kommen ihre Stärken und Kompetenzen zum Tragen, besonders die als Eltern? Wie viel Wertschätzung erhalten sie für das, was im Familienalltag gelingt, auch wenn vieles nicht ausreichend ist. Wie viel Empathie gibt es für die Schwierigkeiten und das Leid? Damit in der Klärung von Kinderschutzfragen Vertrauen entstehen kann, braucht es Zeit, Beteiligung und eine Situationsgestaltung, die die Eltern da abholt, wo sie gerade sind. Mit welcher Eile oder Zeit findet die Klärung statt? Wie fremd sind sich die Beteiligten? Können Gespräche so stattfinden, dass Fremdheit und Überforderung vermieden werden? Taucht die Gefährdung plötzlich auf oder gab es schon viele Zeichen, die nun angesprochen werden müssen und eine Kursänderung erfordern? Entscheidend ist, welchen Druck Eltern durch das aktivierte Helfersysteme bei der Bearbeitung eines 8a-Prozesses erleben und wie konkret die Sorge ihnen gegenüber formuliert wird.
Perspektivnahme für die Kinder
Psychische Erkrankungen bringen mit sich, dass die eigenen Bedürfnisse und die persönliche Not des Elternteils mehr in den Vordergrund treten als die der Kinder. Wie gut gelingt es den be- bzw. überlasteten Elternteilen zu erkennen, dass sie ihre Kinder nicht mehr gut sehen, dass sie (emotional) unterversorgt (oder fehlversorgt) sind, dass die Symptomatik der Erkrankung Verhaltensweisen mit sich bringt, die die Kinder gefährden? Für alle Unterstützungen, aber besonders in der Situation von Kindeswohlgefährdung, muss es gelingen, den Blick auf das Kind zu richten. Wenn Eltern das nicht können, weil die eigenen Ängste größer sind als die elterliche Verantwortung, dann ist dies ein bedeutsamer Aspekt für die Risikoeinschätzung. Gelingt es jedoch hier eine gemeinsame Sprache und Perspektive zu entwickeln, kann der Druck aus der Situation gehen. Zur Abwendung der Kindeswohlgefährdung (KWG) braucht es diese Kooperation der Eltern.
Zeit für den Einschätzungsprozess
Einschätzungen zum Kindeswohl sind immer Momentaufnahmen. Sie unterliegen dem Verfahren nach § 8a SGB VIII. Wie dringend die Handlungsnotwendigkeit ist, hängt von der Gefährdungseinschätzung und der konkreten Notlage ab. Dem gegenüber werden die Möglichkeiten der Risikoreduzierung im Familiensystem selbst besonders durch die Eltern, geprüft, räumliche Gegebenheiten, ärztliche Hilfe, das informelle Netzwerk der Familie oder pädagogische Hilfen erwogen. Liegen gewichtige Anhaltspunkte für eine KWG vor und lassen sich nicht genügend Ansatzpunkte zur Risikoreduzierung verabreden, dann sind die Maßnahmen intensiver, als wenn sich mit Eltern Verabredungen treffen lassen. Dieses Klärungsmoment hängt aber entscheidend von den o. g. Aspekten ab. Letztlich stellt sich die Frage, ob Eltern im Rahmen ihres Sorgerechts verantwortlich für die Kinder handeln können oder nicht. In diesen Situationen können Inobhutnahmen nötig werden.
Selten ist es so eindeutig. Deshalb wird oft das Familiengericht hinzugezogen, um zu klären wie die elterliche Erziehungsfähigkeit verlässlich zu Verfügung steht, wie tragfähig die Bindung ist und in welchem Maß mit externer Unterstützung Kinder auch bei Ihren Eltern aufwachsen können. Zeit ist ein relevanter Faktor. Auch deshalb weil die Krankheitsverläufe sich immer wieder verändern. Elterliche Präsenz steht mal mehr oder auch weniger zur Verfügung. Krisen nehmen ab oder verschärfen sich. Somit ist die Gefährdungseinschätzung auch einen Prozess, der Überprüfung, des Zeitgebens und der Anpassung, ggf. auch der Aktivierung und moderierten Krisengestaltung.
Krankheitseinsicht und gemeinsames Verstehen der Belastungssituation
Mangelnde Krankheitseinsicht kann bedeuten, dass Eltern die eigene psychische Erkrankung bagatellisieren oder verleugnen, möglicherweise gar keinen Zugang zu ihrem Umfeld haben oder einen Perspektivwechsel einnehmen können. Es ist ein schwieriges und beschämendes Moment zu sehen, dass das eigene Verhalten die Kinder überfordert oder schädigt. Hier taucht auch die Schuldfrage auf. Es ist erdrückend, Entwicklungsschwierigkeiten oder Auffälligkeiten des Kindes mit der eigenen Erkrankung in Verbindung zu bringen (Wiegand-Grefe et al. 2019). Für die Einschätzung und Maßnahmen im Kontext von KWG ist es bedeutsam, ob hier eine gemeinsame Perspektive entstehen kann oder die Einschätzung von außen negiert und abgewertet wird. Krankheitseinsicht ist ein wesentlicher Teil für das Gelingen von Hilfen und die Entlastung der Kinder (Lenz 2014). Letztlich müssen Sorgeberechtigte formal und emotional auch zustimmen, wenn ihre Kinder in Gruppen, Therapien oder stärkende Angebote gehen sollen.
Einschätzung der Krankheitsdynamik
Die wesentliche Aufgabe von pädagogischen Fachkräften im Jugendamt und insofern erfahrenden Fachkräften für Kinderschutz nach § 8a SGB VIII ist bei Verdacht auf Kindeswohlgefährdung die Einschätzung vorzunehmen, ob Kinder in ihrer Entwicklung konkret/akut oder latent/chronisch gefährdet sind. Dabei nimmt die Einschätzung der Belastung oder Erkrankung einen wichtigen Stellenwert ein. Ob und wie Behandlung nötig ist, wie sich Medikationen individuell auswirken, ob es sich um eine funktionalere bzw. bessere Phase in Bezug auf das Elternsein handelt oder doch gerade die Krise ins Rollen kommt, dafür braucht es psychiatrische und psychotherapeutische Fachkompetenz. Aus unserer Erfahrung ist es auch bedeutsam, wie sehr Eltern schon Expert*innen in eigener Sache sind und sich und ihre emotionalen Krisen händeln können oder selbst gerade erst auf dem Weg zu Verstehen und Genesung sind. Um zu klären, ob eine elterliche Erkrankung das Kindeswohl nachhaltig schädigen würde, sind die pädagogischen Fachkräfte auf die Zusammenarbeit mit den behandelnden klinischen Fachkräften angewiesen. Die Abwendung der Gefahr ist nicht allein durch soziale Ressourcen zu gestalten, sondern braucht eine Verzahnung und gemeinsames Fallverstehen aller Helfer*innen und Behandler*innen. Dazu ist natürlich eine Schweigepflichtsentbindung durch die Betroffenen unerlässlich, aber auch die Zusammenarbeit in Arbeitskreisen und kontinuierlich geübter Austausch sowie gemeinsame Fortbildungen helfen verantwortungsvoll, das Kindeswohl zu sichern. Kinderschutz ist hier eine interdisziplinäre Aufgabe.
Individuelle Einzelfälle
Jede Lebenslage, jeder Krankheitsverlauf, die Ressourcen, Schutzfaktoren und Risiken sind in jedem Familiensystem anders. Deshalb gibt es nicht die Schablone für die Frage „Geht das noch zu Hause gut?“ oder „Ist dieser Elternteil noch erziehungsfähig?“. Das macht die Sache aufwendig. Es erfordert von den Fachkräften jedes Mal, auch wenn die Familie schon länger bekannt ist, einen sorgsamen Blick, ein „Vier-Augen-Prinzip“, kollegiale Beratung, Austausch mit dem Helfernetzwerk. Diese Haltefähigkeit, auch über Jahre, an der Seite der Familie zu bleiben, Eingeübtes zu aktivieren, Vertrauen immer wieder neu zu nähren, sind wichtige Bestandteile für gelingende Abwendung von Kindeswohlgefährdung.
Verantwortung tragen
Formal gesehen ist für den Kinderschutz das Jugendamt zuständig, es verantwortet die Einschätzung und die Auswahl der geeigneten Maßnahme zur Gefahrenabwehr – unabhängig davon, ob es eine Familienhilfe einsetzt, das Familiengericht anruft oder eine Inobhutnahme veranlasst. Über den § 8a SGB VIII sind aber alle pädagogischen Fachkräfte und Berufsgeheimnisträger, die im beruflichen Kontakt mit Kindern und Jugendlichen stehen, verpflichtet bei Verdacht auf Kindeswohlgefährdung das Jugendamt mit einzubeziehen. Hierfür können sie sich Beratung bei erfahrenen Fachkräften nach § 8a SGB VIII, die Kinderschutzfachkräften und den verschiedenen Kinderschutz-AGs z. B. in der Medizin, holen (von Backen 2021) [siehe auch unsere Kontaktliste Kinderschutz].
Interdisziplinäres Fachwissen und Vernetzung
Weil Hilfen für Familien mit einem psychisch erkrankten Elternteil in so vielen Settings der Sozialgesetzbücher erbracht werden, ist Kinderschutz aus unserer Sicht eine Disziplin übergreifende Aufgabe. Grundlagen dafür sind Kooperationsvereinbarungen (regional), gesetzliche Legitimationen (z. B. für Berufsgeheimnisträger), gemeinsame Fortbildungen, Respekt und Augenhöhe zwischen den Professionen, Zeit für Netzwerke und kollegialen Austausch sowie Ressourcen, um im konkreten Fall zusammen zu kommen. Hier besteht erheblicher Entwicklungsbedarf.
Autonomie und Selbstbestimmung vs. Dynamiken des Hilfesystems
Wenn Helfersysteme aktiviert sind, dann entfaltet sich eine Eigendynamik, in der Klient*innen auch eine hohe Anpassungsleistung erbringen müssen. Hilfen unterliegen methodischen und juristischen Rahmenbedingungen, die den Takt und das Vorgehen bestimmen. Wo bleiben da Autonomie und Selbstbestimmung für die eigene Person, die Erkrankung und die Kinder? Die Abwendung von Kindeswohlgefährdung und langfristige Hilfen zur Unterstützung von Familien mit einem psychisch erkrankten Elternteil pendeln zwischen Rechten und Pflichten der Eltern, dem staatlichen Wächteramt, den Grundrechten jedes Einzelnen im Familiensystem und den fachlichen Paradigmen. Das Familiensystem ist, wenn alle helfen und unterstützen, eine Flut von Anforderungen und Managementaufgaben ausgeliefert, die es kaum bewältigen kann. Sich darauf einzulassen, heißt nicht nur zu vertrauen, sondern Sinnhaftigkeit zu erleben und auch Kontrolle zu haben über das, was da passiert.
Unsicherheiten balancieren - es gibt keine Garantien
Zu guter Letzt heißt Kinderschutz auch immer Unsicherheiten auszubalancieren, denn es gibt keine Garantien. Das Interventionsmaß will gut dosiert sein, denn zwischen der Sorge der Eltern, dass Kinder ihnen „weggenommen“ werden und der Sorge der Fachkräfte etwas zu übersehen oder eine Wetterbericht N°24 | 10 2021| Schwerpunkt 5 Gefahr zu unterschätzen, pendelt der Einschätzungsprozess hin und her (Plattner 2019). Prozessbeschreibungen, Handlungsleitfäden, Vier-Augen-Prinzip, Einbindung von Entscheidungsebenen, das Lernen und Reflektieren an ungünstigen Fallverläufen sind alles wichtige Bausteine für einen gelingenden Kinderschutz. Aber weil das Leben und die Erkrankungen nicht theoretische Konstrukte, sondern die Begegnung von Menschen sind, braucht es Haltefähigkeit, Haltung und echte Kontakte. Denn am Ende sind es Vertrauen, Respekt und Offenheit, Mut zur Klarheit und Entscheidungsfähigkeit, die es möglich machen, psychisch belastet oder erkrankte Eltern für den Schutz und die Stärkung ihrer Kinder zu gewinnen und zu befähigen.
Juliane Tausch
M.A. Klinische Sozialarbeit, Kinderschutzfachkraft nach §8a SGB VIII, Supervisorin/Coach (DGSV)
Projektleitung von A: aufklaren
Literaturangaben
- DGKiM (2020): Präventiver Kinderschutz bei Kinder psychisch und suchtkranker Eltern – Leitfaden für Fachkräfte im Gesundheitswesen. dgkim.de
- Lenz, Albert (2014): Kinder psychisch kranker Eltern. Hogrefe.
- Plattner, Anita (Hrsg): Erziehungsfähigkeit psychisch kranker Eltern richtig einschätzen und fördern.
- Wiegand-Grefe, Silke; Klein, Michael; Kölch, Michael; Lenz, Albert; Seckinger, Mike; Thomasius, Rainer; Ziegenhain, Ute (2019): Kinder psychisch kranker Eltern „Forschung“. IST-Analyse zur Situation von Kindern psychisch kranker Eltern. www.ag-kpke.de
- Beckmann, Janna; Lohse, Katharina (2021): SGB VIII-Reform: Überblick über das Kinder- und Jugendstärkungsgesetz. DIJuF.
- Bracken, Rudolf von (2021): Kinderrechte. Ein Handbuch für die Praxis der Sozialen Arbeit. Kohlhammer.
- Leitzgen, Anke M. (2017): Das sind Deine Rechte. Das Kinderrechte Buch. Beltz und Gelberg.
- Forum für Kinder- und Jugendarbeit (2020): Ombudsstellen in Hamburg. Ausgabe 1/2020.
www.kinder-undjugendarbeit.de - Olten, Manuela (2020): Wir haben Rechte! Kamishibai
Bilderkartenset. Don Bosco Medien. - Walhalla Fachredaktion (2021): Kinder- und
Jugendstärkungsgesetz: Weiterentwicklung des
SGB VIII: Gesetzesmaterial und Erläuterungen.
Walhalla Verlag.