„Die psychiatrische Diagnose sollte Menschen nicht einordnen.“
Eine Diagnose bietet Orientierung, um einen Weg aus der Krise zu finden und eine individuelle Therapie für Patient*innen zu entwickeln.
Im Interview mit Dr. Hans-Peter Unger
A: Im März setzen wir bei A: aufklaren einen Schwerpunkt zu den Themen Diagnose und Diagnostik. Ich freue mich daher, dass wir Sie als Interviewpartner gewinnen konnten und somit die Sicht eines Psychiaters mit einbeziehen.
Dr. Hans-Peter Unger: Ich freue mich auch auf den Austausch mit Ihnen.
A: Ich starte gleich mit meiner ersten Frage: Mit welchen Anliegen und Beschwerden kommen Patient*innen zu Ihnen?
Dr. Hans-Peter Unger: Die meisten Menschen kommen nicht mit einem konkreten Anliegen, sondern in einer Krise zu uns. Zum Beispiel Beziehungskrisen oder auch Krisen im Arbeits- und Familienleben. Die Patient*innen berichten häufig von Symptomen wie Angst oder depressiver Herabgestimmtheit, die sie so beeinträchtigen, dass daraus ein Leiden entsteht. Ihr Hilferuf nach einer medizinischen Unterstützung ist dann oft groß.
A: Erleben Sie viele Zwangseinweisungen in Ihrer Abteilung?
Dr. Hans-Peter Unger: Der Teil der Patient*innen, die ihren Weg zwangsweise zu uns finden, ist extrem klein. Die Kunst unseres Handwerks ist es, die Bedürfnisse der Patient*innen hinter der krisenhaften Zuspitzung zu erkennen. Das ist manchmal durchaus schwierig zu „dechiffrieren“. Hier geht immer eine Krise im Lebensumfeld vorweg, die zu so einer so extremen Maßnahme führt.
„Die Kunst unseres Handwerks ist es, die Bedürfnisse der Patient*innen hinter der krisenhaften Zuspitzung zu erkennen.“
Hanna Berster: Worin unterscheiden sich die Angebote der stationären Klinik, der Tagesklinik und der Ambulanz?
Dr. Hans-Peter Unger: Hier muss man zunächst einen Blick auf die Geschichte der Psychiatrie werfen. Ambulante psychiatrische Angebote hat es immer gegeben. Mit dem Aufbau von Krankenhäusern und Kliniken im 19. Jahrhundert hat sich das Angebot der stationären Psychiatrie entwickelt. In der Vergangenheit hatten die stationären Angebote eine große Bedeutung. Heute ist das anders. Die Entwicklung geht in Richtung Tagesklinik und Behandlung zu Hause wie Home Treatment oder Hausbesuche durch Krisenteams.
Die Indikation zu einer stationären Behandlung besteht, wenn akute Selbst- oder Fremdgefährdung vorliegt, wenn die Symptomatik so ausgeprägt ist, dass eine selbstständige Lebensführung nicht mehr möglich ist, wenn körperliche und seelische Leiden komplex zusammenwirken oder wenn ein Abstand zu einem „aufgeheizten“ Lebensumfeld sinnvoll ist. Dies sollte erwogen werden, wenn Patient*innen z. B. im Rahmen einer Depression gar nicht mehr aufstehen wollen, es ihnen schwerfällt, Nahrung zu sich zu nehmen und das familiäre Umfeld überfordert ist. Der Unterschied zur Tagesklinik ist, dass die Patient*innen dort in ihrem vertrauten Umfeld bleiben. An fünf Tagen in der Woche nehmen sie Behandlung in unserer Tagesklinik wahr, die durchschnittlich auf acht bis zwölf Wochen angelegt ist. Hier gibt es ein dichtes Therapieprogramm mit Einzelgesprächen, Gruppenangeboten, gemeinsamen Mittagessen und Rückzugsmöglichkeiten. Das ist ein gutes Training für die Patient*innen, um nach einer Behandlung wieder ihren Alltag wie Schule, Uni oder Arbeit aufzunehmen.
A: Gehe ich richtig in der Annahme, dass die meisten Patient*innen ambulant begleitet werden?
Dr. Hans-Peter Unger: Ja, das ist tatsächlich so. Im ASKLEPIOS KLINIKUM in Harburg begleiten wir im Jahr 3.000 bis 4.000 Patient*innen in der Ambulanz. Das ist der größte Anteil an Patient*innen.
A: In welchem Bereich treffen Sie die meisten Eltern an?
Dr. Hans-Peter Unger: Natürlich bei den jugendlichen Patient*innen bis 25 oder 30 Jahren, die in den letzten Jahren deutlich zugenommen haben. Aber die Eltern spielen heute aufgrund der höheren Fitness und
Lebenserwartung auch bei Krisen in der Lebensmitte eine große Bedeutung. Und im hohen Alter wandelt sich das Bild. Bei den Alterserkrankungen kommen die Kinder in die Rolle der Eltern. Mir gefällt hier der Begriff einer lebensphasenspezifischen Psychiatrie. Jede Altersphase hat ihre eigenen Aufgaben und entsprechende Krisen. Bei der Bewältigung dieser Krisen sind immer zwei oder drei Generationen involviert.
“Jede Altersphase hat ihre eigenen Aufgaben und entsprechende Krisen.”
A: Was unterscheidet die Arbeit des Psychiaters in der Institutsambulanz von der Arbeit des niedergelassenen ambulanten Psychiaters?
Dr. Hans-Peter Unger: Die Hauptunterscheidung ist, dass die Institutsambulanz aus einem multiprofessionellen Team besteht. Dort arbeiten Psycholog*innen, Ärzt*innen, Therapeut*innen und Krankenschwestern zusammen. Dabei gibt es ein komplexes Behandlungsangebot, das aus Einzel- und Gruppengesprächen besteht. Wir bieten z. B. Gruppen für Menschen mit chronischen Depressionen oder Psychosen an, die auf den Grundlagen der aktuellen Psychotherapie basieren.
A: Ich möchte gern mehr über die Situation der Erstdiagnostik wissen. Wie gehen Sie vor, um eine Diagnose zu stellen?
Dr. Hans-Peter Unger: Erst mal müssen wir über die psychiatrische Diagnose als solche nachdenken. Hier sollte man ganz bescheiden vorgehen, denn psychische Störungen sollten nur diagnostiziert werden, wenn das Erscheinungsbild eindeutig ist. Die psychiatrische Diagnose liegt in der Mitte zwischen zwei Polen, dem Pol einer eng definierten Normalität, an dem schon kleine Abweichungen als Störung oder Krankheit beschrieben werden, und dem anderen Pol, an dem jedes Verhalten als normal gilt. Zwischen den beiden Polen schafft die psychiatrische Diagnostik eine Ordnung, die sich am Leiden orientiert. Diese Ordnung ist allerdings von verschiedenen Faktoren wie Kultur, Ort und Zeit abhängig.
“(…) psychische Störungen sollten nur diagnostiziert werden, wenn das Erscheinungsbild eindeutig ist.”
Bei dem Stellen einer Diagnose höre ich meinem Gegenüber zu. Psychiatrische Gespräche sind nur mit hoher Aufmerksamkeit zu führen. Ich versuche mich in die Person hineinzuversetzen. Wie kann ich das, was ich sehe und höre mit dem diagnostischen System „in meinem Kopf“ in Deckung bringen. Ich führe deshalb in der Regel ein zweites Gespräch, um meinen Eindruck zu bestätigen oder zu korrigieren. Der Psychiater ist ein Handwerker und sein Handwerkszeug ist er selbst. Und jeder Mensch ist anders und das macht es für mich auch heute noch hochinteressant, obwohl ich jetzt 65 Jahre alt bin.
A: Wie konkret sprechen Sie Diagnosen aus und an? Was muss man dabei beachten?
Dr. Hans-Peter Unger: Das ist sehr unterschiedlich. Eine Diagnose kann einen Patienten entlasten, endlich hat er einen Namen für sein Leiden – und in der Regel eine Behandlungsmöglichkeit. Eine Diagnose kann aber auch Angst machen, belasten, stigmatisieren. Ich muss immer berücksichtigen, in welcher Situation ich mit welchen Patient*innen über ihre Diagnose spreche. Im Gespräch achte ich dann darauf, dass die diagnostische Benennung möglichst verständlich und möglichst wenig stigmatisierend. Die Information sollte ebenso einen Nutzen für die Person haben. Sonst wäre die Diagnose ja nur ein rein akademisches Thema.
“Eine Diagnose kann einen Patienten entlasten, endlich hat er einen Namen für sein Leiden – und in der Regel eine Behandlungsmöglichkeit. Eine Diagnose kann aber auch Angst machen, belasten, stigmatisieren.”
Gute Erfahrung haben wir hier mit dem „Trialog“ gemacht. Dabei reden Angehörige, Betroffene und Fachleute miteinander – auch über Diagnosen. In der trialogischen Gesprächssituation zeigt sich, wie Angehörige und Betroffene die Diagnose erleben und wie es Fachleute sehen. Erst in diesem Dreieck wird deutlich, worum es wirklich geht.
A: Was bedeutet eine Diagnose für die betroffenen Menschen?
Dr. Hans-Peter Unger: Die psychiatrische Diagnose sollte Menschen nicht einordnen. Sie ist ein Hilfsmittel, um sich zu orientieren und einen Weg aus der Krise zu finden. Eine Diagnose wird gestellt, um aus ihr eine Therapie abzuleiten. Es gibt auch den Missbrauch der Diagnose. Dies trifft zu, wenn z. B. psychiatrische Diagnosen immer weiter gefasst werden und immer mehr Menschen in medizinische Kategorien eingeordnet werden. Diagnosen in der Psychiatrie sind immer Konstrukte, die auch die aktuelle gesellschaftliche Situation widerspiegelt. Daher müssen wir bei der Entwicklung von Diagnosesystemen sehr umsichtig sein. Dabei ist der Einbezug von Betroffenen und Angehörigen, neben den Fachleuten, unverzichtbar.
“Die psychiatrische Diagnose sollte Menschen nicht einordnen.”
A: Gibt es Menschen, die keine Diagnose wollen?
Dr. Hans-Peter Unger: Menschen können sie als Stigmatisierung empfinden und sagen „Das ist mein Todesurteil, jetzt bin ich psychisch krank!“. Wieder andere haben keine Krankheitseinsicht. Bei ihnen passt die Diagnose nicht in ihre Welt. Hier spielen die Selbststigmatisierung und die Stigmatisierung der Gesellschaft mit ein. Wenn ich Ihnen sage, dass Sie ein Bein gebrochen haben, ist das relativ wertfrei. Wenn ich Ihnen aber sage: „Sie haben eine Depression“, dann kommen ganz andere Assoziationen hervor.
A: Wie beziehen Sie Angehörige in das Patientengespräch mit ein?
Dr. Hans-Peter Unger: Jeder Mensch, der in einer Krise zu uns kommt, lebt in einem Umfeld, ist Teil eines „Systems“. Daher soll bei uns in der Klinik in jeder Behandlung mindestens ein Gespräch mit der Familie bzw. den Angehörigen stattfinden. Mithilfe von Familienaufstellungen lässt sich z. B. ein Problem noch einmal anders einordnen. Das ist natürlich aufwendig, kann aber ein ganz zentraler Punkt für die weitere Behandlung sein. Die Krise einer einzelnen Person ist auch immer eine Krise in seiner oder ihrer Familie, also im Lebensumfeld.
A: Für alle, die nicht im Feld der Psychiatrie arbeiten: Was ist der Unterschied zwischen einem*r Psychiater*in und einem Psychotherapeut*in?
Dr. Hans-Peter Unger: Der Unterschied liegt in der Ausbildung. Ein Psychiater hat Medizin studiert und macht die Weiterbildung zum Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie. Ein Psychologe hat Psychologie studiert und macht die Weiterbildung zum psychologischen Psychotherapeuten. Ein Psychiater darf zur Behandlung auch Medikamente verschreiben, beide führen therapeutische Gespräche.
A: Was kann Ihr Arbeitsfeld beitragen, damit wir für die Kinder von psychisch erkrankten Eltern mehr Prävention und Unterstützung anbieten können?
Dr. Hans-Peter Unger: Wir müssen die Kinder immer mitdenken. Daher müssen wir die systemische Sichtweise schulen. Es darf sich nicht ausschließlich auf das Leiden des Einzelnen konzentriert werden. Es muss überprüft werden, in welchem System der oder die Betroffene lebt und ob ggf. noch eine andere Person, ein Kind gefährdet ist. Wenn morgens z. B. eine Mutter in die Notaufnahme eingeliefert wird, muss immer nachgefragt werden, ob es zu Hause Kinder gibt, ob es sichere Betreuung, z. B. durch Großeltern gibt oder welche Sicherheiten es für das Kind gibt. Umgekehrt ist es auch wichtig, bei erwachsenen Patient*innen zu verstehen, wie sie mit ihren Eltern zusammengelebt haben, als sie selbst Kind waren. Waren vielleicht schon ihre Eltern psychisch krank? Mussten sie gewisse Reifungsschritte früher tun uns wo waren sie vielleicht überfordert oder der Situation ausgeliefert? Nicht wenige erwachsene Patient*innen haben einen solchen Hintergrund, doch diese Erfahrungen noch nicht für sich klären können. Dabei ist es enorm wichtig, dass wir vor Kausalitäten hüten, also der Beziehung zwischen Ursache und Wirkung. Patient*innen können aus schwierigen Lebenslagen auch besondere Stärken entwickeln, die sie aber im Lebenslauf auch verwundbar machen können.
Kinder kriegen immer mit, was zu Hause läuft. Liegt bei einem Elternteil eine psychische Erkrankung vor, kann sich das im Verhalten des Kindes widerspiegeln. Das kann plötzliches Verstummen sein oder ein untypisches, nicht altersgerechtes Verhalten. Wichtig ist, dass dem Kind das Verhalten des kranken Elternteils kindgerecht erklärt wird, dass gesprochen und nicht geschwiegen wird.
A: Vielen Dank für Ihre Zeit und die interessanten Einblicke, die Sie in Ihre Arbeit gegeben haben.
Dr. Hans-Peter Unger: Ich bedanke mich.
Dieses Interview führte Hanna Berster
Hans-Peter Unger
Dr. Hans-Peter Unger ist Chefarzt im Zentrum für seelische Gesundheit in der Abteilung für Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik im ASKLEPIOS KLINIKUM in Harburg. Neben seiner Haupttätigkeit schreibt er u. a. Bücher, wie „Das hält keiner bis zur Rente durch!“ und „Bevor der Job krank macht“.