Die Klient*innen müssen wissen, dass wir auf ihrer Seite stehen
Der Sozialpsychiatrische Dienst greift ein, wenn Menschen psychisch auffällig werden
Interview mit Gudrun Jakobowski
A: Welche Aufgaben hat der Sozialpsychiatrische Dienst und welche Aufgaben haben Sie dabei inne?
Gudrun Jakubowski: Ich leite den Sozialpsychiatrischen Dienst im Gesundheitsamt Hamburg-Mitte seit etwa eineinhalb Jahren. Wir sind Ansprechpartner für Menschen ab 18 Jahren, die im Bezirk Hamburg-Mitte wohnen und seelische Probleme haben, unter manifesten psychischen Erkrankungen leiden oder sich beispielsweise in akuten Krisensituationen befinden. Aufgrund der Tatsache, dass wir in der Regel keine therapeutische Behandlung machen, sprechen wir von Klient*innen und nicht Patient*innen. In der Regel laden wir die Klient*innen zu Gesprächen zu uns in den Sozialpsychiatrischen Dienst ein, manchmal suchen wir sie auch in ihren Wohnungen auf. Wenn akute Selbst- oder Fremdgefährdung besteht, werden wir teilweise auch von der Polizei begleitet, die uns im Notfall Zugang zu den Wohnungen verschafft. Wir beraten als multiprofessionelles Team, bestehend aus Ärzt*innen, Sozialpädagog*innen und Pflegefachkräften und vermitteln Hilfen, z.B. Sozialamtsgelder, aber auch Unterbringungen und verweisen auf unterschiedliche Hilfsangebote in der Stadt, die sich in dem Bereich auskennen. Wir sind in verschiedenen Gremien in den Stadtteilen aktiv, z.B. Runder Tisch Obdachlosigkeit St. Pauli. Außerdem erstellen wir Gutachten zu unterschiedlichen Fragestellungen, wie z.B. Hilfen zur Eingliederung.
A: Was passiert, wenn jemand mit psychotischen Symptomen öffentlich auffällt?
Gudrun Jakubowski: Als diensthabende Ärztin werde ich im Notfall zur Polizeiwache gerufen. Wenn jemand in der Stadt auffällig wird, weil er selbst- und/oder fremdgefährdend ist oder seine Impulskontrolle vermindert ist, dann bringt die Polizei ihn auf eines der acht Polizeikommissariate im Bezirk Hamburg Mitte.
Manchmal rufen auch Angehörige an, die nicht mehr weiterwissen. Wir versuchen dann im Gespräch die betroffenen Menschen von einer freiwilligen Behandlung zu überzeugen. Wenn allerdings von einer Person mit einer wahnhaften Erkrankung bedrohliche Impulse im Sinne einer Eigen- oder Fremdgefährdung ausgehen, dann gehen wir in die Wohnung (ggfs. auch mit der Polizei), und veranlassen – sofern die oder der Erkrankte nicht freiwillig einer Behandlung zustimmt - eine Unterbringung nach dem Hamburger PsychKG auf einer geschützten Station in einem dafür zuständigen Krankenhaus.
A: Was machen Sie, wenn Kinder mitbetroffen sind? Wenn Sie in eine Wohnung kommen und da sind Kinder?
Gudrun Jakubowski: Wir als Sozialpsychiatrischer Dienst sind für erwachsene Menschen ab 18 Jahren zuständig. Natürlich gucken wir uns die Situation vor Ort genau an und verschaffen uns einen Überblick, ob die Kinder gut versorgt sind, ggfs. schalten wir auch das Jugendamt mit ein, wenn wir den Eindruck haben, dass hier Handlungsbedarf besteht. Wenn die Kinder selber eine psychiatrische oder psychotherapeutische Unterstützung brauchen, vermitteln wir an unseren Kinder- und Jugendpsychiatrischen Dienst.
A: Die Kinder sind ja selbst nicht krank. Sie sind ja nur als Kinder erkrankter Eltern mitbetroffen.
Gudrun Jakubowski: Es kommt auf das Alter an. Wenn sie klein sind, guckt man, ob es in der Familie jemanden gibt, der die Versorgung übernehmen kann. In der Regel gibt es Angehörige, die zur Verfügung stehen, wie Geschwister, Großeltern etc. Oder wir schalten das Jugendamt ein mit der Bitte, sich um die Kinder zu kümmern. Aber eines ist uns sehr wichtig: Wir handeln in erster Linie im Sinne unserer Klient*innen. Für Kinder sind psychische Erkrankungen von Eltern schwer aushaltbar, aber die Situation ist auch schwierig für die Menschen (oder in unserem Fall die Eltern), die selbst psychisch erkrankt sind. Die Erkrankten müssen das Gefühl haben, dass wir uns um ihre Belange kümmern und sie unterstützen. Wir arbeiten mit dem Jugendamt eng zusammen, es ist aber ein vom Sozialpsychiatrischen Dienst komplett getrenntes Amt. Im Zusammenhang von schizophren erkrankten Eltern und einer möglichen Kindeswohlgefährdung muss das Jugendamt manchmal unbeliebte Maßnahmen ergreifen, z. B. Inobhutnahmen. In solchen Fällen werden wir gelegentlich hinzugezogen, um zu beurteilen, ob das erkrankte Elternteil in irgendeiner Form gefährdet ist.
Wichtig für die Sicherheit und die Gesundheit der gesamten Familie ist hier unsere professionelle und interdisziplinäre Kommunikation zwischen allen Beteiligten.
A: Wie groß ist der Anteil von Menschen mit Schizophrenie und psychotischen Störungen bei Ihren Klient*innen?
Gudrun Jakubowski: Wir gehen davon aus, dass 20 bis 30 Prozent unserer Klientel an einer Erkrankung aus dem schizophrenen Formenkreis leidet. Aufgrund der Schwere der Erkrankung ist hier der Hilfebedarf – im Vergleich zu anders gelagerten Krankheitsbildern – oftmals besonders hoch.
A: Worin liegen die Besonderheiten bei diesen Klient*innen?
Gudrun Jakubowski: Es gibt die unterschiedlichsten Symptome im Rahmen einer schizophrenen Erkrankung (wahnhafte Symptome, Stimmenhören, optische oder auch Körperhalluzinationen etc.), deren Gemeinsamkeit ist, dass die Betroffenen diese Symptomatik als real erleben, während die Umwelt dies nicht teilen kann. Das macht es immer wieder schwer, einen Zugang zu den Klient*innen und dann auch zu einer eventuellen Therapie zu finden, weil die Betroffenen keine Einsicht in den Krankheitswert ihrer Symptomatik haben. Außerdem gibt es Klient*innen, die eine zweite seelische Erkrankung, z. B. eine Suchterkrankung mit der entsprechenden Symptomatik haben. Nicht selten ist der Konsum von Drogen oder auch Alkohol als inadäquater Behandlungsversuch der schizophrenen Symptomatik zu werten.
A: Haben Sie für diese Menschen ein Konzept? Wie behandeln Sie die?
Gudrun Jakubowski: Wir begleiten Menschen, die sich in Krisensituationen befinden, manchmal auch über einen längeren Zeitraum; in der Regel machen wir das, um Zeit zu überbrücken, bis die Krise abgeklungen ist, sie einen Therapieplatz haben oder Probleme der Lebenslage mit unseren Sozialpädagog*innen geregelt haben.
Ein zweites sehr wichtiges Standbein unserer Tätigkeit sind vorbeugende Maßnahmen. Wir wollen damit verhindern, dass Menschen überhaupt in Notsituationen geraten, dass sie ihre Wohnung verlieren oder im Krankenhaus behandelt werden müssen. Eine eigentliche Behandlung im Sinne einer länger andauernden Therapie bieten wir jedoch nicht an. Wir verschreiben weder Medikamente, noch führen wir Psychotherapien durch.
A: Welche Konzepte gibt es?
Gudrun Jakubowski: Menschen, die an einer Schizophrenie erkrankt sind, sind sehr unterschiedlich; es kommt auf die Konstellation des Einzelfalles an. Man muss viele Dinge im Blick behalten, aber jeder Fall ist anders, man kann schizophrene Menschen nicht in ein festes Schema pressen. Ungeheuer wichtig ist es, immer wieder Beziehungsangebote zu machen und eine klare, individuell abgestimmte Struktur vorzugeben.
A: Vermitteln Sie sie z. B. in psychiatrische Einrichtungen?
Gudrun Jakubowski: Ja, auch. Im Falle einer akuten Krise bemühen wir uns um eine stationäre Aufnahme oder um die Vermittlung in eine Psychiatrische Institutsambulanz oder Tagesklinik – möglichst freiwillig in Absprache mit den Klient*innen. Immer wieder kümmern wir uns – dies insbesondere auch mit Hilfe unserer Sozialpädagog*innen – um eine Vermittlung in eine geeignete Unterkunft.
Wir versuchen im Gespräch die betroffenen Menschen von einer freiwilligen Behandlung zu überzeugen
A: Welche Besonderheiten im Umgang mit Menschen in der Psychose gibt es?
Gudrun Jakubowski: Menschen mit schizophrenen Erkrankungen haben oftmals keine Krankheitseinsicht und sehen nicht, dass sie sich behandeln lassen müssen. Wenn die Erkrankten sich bereit erklären, sich medikamentös behandeln zu lassen, dann treten oft Nebenwirkungen der Medikamente, wie Schläfrigkeit, Unruhe, Muskelzucken, Schwindel, Mundtrockenheit, sexuelle Beeinträchtigungen oder auch Gewichtszunahmen auf. Das erschwert die Bereitschaft, die Medikamente kontinuierlich einzunehmen. Die regelmäßige Einnahme der Medikamente ist aber für eine Genesung unabdingbar und wird über entsprechende Psychiatrische Instituts-ambulanzen gewährleistet.
Menschen, die unter einer Psychose leiden, können oftmals kaum Strukturen einhalten. Das hat zur Folge, dass z. B. Termine nicht wahrgenommen und damit die Medikamente nicht eingenommen werden. Oder wenn Erkrankte Stimmen hören, sind diese häufig kommentierend. Die sagen dann z. B. so etwas wie: „Du darfst die Medikamente nicht nehmen.“ Aus Angst vor den Stimmen bzw. vermeintlichen Folgen geben die Betroffenen uns häufig keine Informationen darüber. Das kann die Arbeit mit schizophren erkrankten Menschen zusätzlich erschweren.
A: Wie gehen Sie denn vor, wenn jemand einen schizophrenen Schub hat und es selber nicht einsieht?
Gudrun Jakubowski: Wir versuchen zunächst im Gespräch eine freiwillige Behandlung zu erreichen. Gelingt dies nicht, können wir nur bei Fremd- oder Eigengefährdung gegen den Willen der Betroffenen tätig werden. Wir können auch eine Betreuung anregen, dazu schreiben wir ein Gutachten und vom Gericht wird dann ein gesetzlicher Betreuer eingesetzt.
Der gesetzliche Betreuer kann auch beantragen, dass stationär behandelt werden muss, manchmal auch über mehrere Monate. Es ist immer wieder so, dass die Patient*innen nicht effektiv behandelt werden, weil sie die Kliniken verlassen, bevor sie sich stabilisiert haben. In solchen Fällen ist eine längerfristige Unterbringung zielführender.
A: Wie sieht das aus, wenn Kinder mitbetroffen sind?
Gudrun Jakubowski: Hier gibt es keine generellen oder einheitlichen Verfahrensweisen. Jeder einzelne Fall ist anders gelagert und man muss sich die Gegebenheiten immer genau ansehen. Wir sind in erster Linie Fürsprecher*innen für unsere Klient*innen. Aber natürlich nehmen wir auch die Kinder genau in den Blick, insbesondere wenn Sie gefährdet sind. Ein Beispiel aus der Praxis: Eine Patientin mit zwei Kindern im Alter von 11 und 14 Jahren ist schizophren erkrankt. Es gab keine Verlässlichkeit und Absprachemöglichkeiten mit der Mutter mehr. In diesem Fall wurde zusätzlich das Jugendamt eingeschaltet. Oftmals ist es ein schmaler Grat: Man muss vorsichtig mit den Erkrankten umgehen, ein Beziehungsangebot machen und ein Vertrauensverhältnis aufbauen. Und gleichzeitig muss man die Kinder schützen.
A: Sie haben den Fokus auf den betroffenen Eltern. Für die Kinder ist dann das Jugendamt zuständig?
Gudrun Jakubowski: Ja. Wir informieren auch manchmal das Jugendamt, gerade wenn die Situation so dramatisch wird, dass wir Kranke gegen ihren Willen unterbringen müssen, dann muss das Jugendamt oftmals mit ins Boot. Es gibt ja auch plötzliche Suizide oder das Kind findet das erkrankte Elternteil nach einem Suizidversuch. Manchmal muss dann auch der Kinder- und Jugendpsychiatrische Dienst eingeschaltet werden.
A: Deutet sich ein Selbstmord nicht meistens vorher an?
Gudrun Jakubowski: Es gibt Studien zu Suiziden, die besagen, dass 70 Prozent derjenigen, die einen vollendeten Suizid begehen, diesen in der Vergangenheit mindestens einmal angekündigt haben. Das kann auch längere Zeit zurückliegen. Die meisten Menschen kündigen den Wunsch, nicht mehr leben zu wollen, in irgendeiner Form an, manche aber eben auch nicht. Neulich hatten wir auch so einen Fall, da hat der Vater gedroht sich und sein Kind umzubringen, da haben wir auch das Jugendamt eingeschaltet, weil wir uns Sorgen um das Kind gemacht haben.
A: Wenn die Kinder selber nicht krank sind, dann bleiben sie ein bisschen in der Luft hängen, und haben trotzdem die Bedürftigkeit. Dann ist die Frage, wer kümmert sich?
Gudrun Jakubowski: In diesen Fällen kann der Kinder- und Jugendpsychiatrische Dienst behilflich sein. Bei Kindern müssen aber auch die Familie, Großeltern und die Schule mit ins Boot geholt werden. Häufig sind die Sozialdienste schon informiert. Bei Kindern muss man noch mehr aufpassen, das sind kleine verwundbare Wesen.
A: Wenden sich auch die Schulen an Sie?
Gudrun Jakubowski: Das ist bei uns im Sozialpsychiatrischen Dienst eher selten, wenn aber z. B. auffällt, dass ein Elternteil ständig betrunken ist, dann melden die Schulen sich bei uns. Üblicherweise melden die Schulen eher in das Jugendhilfesystem.
A: Gibt es Angebote für die Angehörigen? Werden die mit einbezogen?
Gudrun Jakubowski: Es gibt ein breit gefächertes Angebot für Angehörigenberatung und Selbsthilfe im psychiatrischen Versorgungssystem. Wir beraten und begleiten Angehörige mit entlastenden Gesprächen und vermitteln Informationen und Hilfsangebote. Manchmal bestehen die Kontakte von Angehörigen zu uns über viele Jahre.
A: Bei Selbst- und Fremdgefährdung wird immer die Polizei miteinbezogen?
Gudrun Jakubowski: Das hängt von der konkreten Gefahr ab.
A: Was macht der Zuführungsdienst? Wie arbeiten sie mit dem zusammen?
Gudrun Jakubowski: Der Zuführungsdienst ist für die gesamte Stadt Hamburg zuständig. Er bringt die psychiatrischen Notfallpatient*innen ins Krankenhaus. Wenn ich den oder die Klient*in z. B. auf einer Polizeiwache oder auch im Rahmen eines Hausbesuches gesehen habe und meine, dass er oder sie im Krankenhaus behandelt werden muss, dann rufe ich den Zuführungsdienst, der den oder die Klient*in in die Klinik bringt. Das sind geschulte Leute, die sich im Umgang mit psychisch erkrankten Menschen auskennen.
A: Werden die Betroffenen auch in Handschellen abgeführt?
Gudrun Jakubowski: Das kommt darauf an. Manchmal können aggressive Klient*innen eine Unterbringung gut annehmen und gehen problemlos mit, andere werden noch angespannter und müssen dann ggfs. auch mal in Handschellen ins Krankenhaus gebracht werden. Das passiert aber sehr selten.
A: Dann erleben sie hier bestimmt einige extreme Dinge?
Gudrun Jakubowski: Ja, das ist hier schon oft sehr aufregend und es gibt drastische Fälle.
A: Wieviel Fälle haben Sie im Jahr?
Gudrun Jakubowski: 2000 bis 2500 Fälle im Jahr. Darunter sind natürlich auch einige, die wiederholt kommen.
A: Wie oft werden Sie, wenn Sie Dienst haben, gerufen?
Gudrun Jakubowski: Meistens ein- bis zweimal, aber es kann auch viel häufiger an einem Tag sein. Es gibt auch Tage, wo wir gar nicht gerufen werden. Das ist sehr schwankend. Kurz vor Feiertagen, insbesondere Weihnachten und Silvester, ist besonders viel los. Einerseits sind diese Feiertage für psychisch erkrankte und dann eben oftmals einsame Menschen besonders schwierig. Andererseits rufen uns in oder vor diesen Tagen viele Einrichtungen, Heime, Wohngemeinschaften etc. an, weil sie sich absichern wollen, dass während der Feiertage nichts passiert. Im Moment habe ich das Gefühl, dass die Anzahl der Fälle steigt. Das liegt aber auch an dem Bezirk Hamburg-Mitte, der in vieler Hinsicht ein Schmelztiegel ist: Ärmere und zum Teil belastete Stadtteile wie Wilhelmsburg oder Billstedt, viele Menschen ohne festen Wohnsitz, der gesamte Bereich des Hauptbahnhofes mit vielen Suchtkranken, das Drob Inn etc. gehören dazu.
Das Gespräch führte: Christiane Rose
Gudrun Jakubowski
Fachärztin für Neurologie und Fachärztin für Psychiatrie, Leitung des Sozialpsychiatrischen Dienstes im Gesundheitsamt des Bezirkes Hamburg-Mitte