Die Eltern fühlen sich meist defizitär, weil sie ihren Kindern nichts bieten können
Interview mit Corrina Koob und Nina Sprengel
Aufklaren: Erzählen Sie doch einmal, was Iglu konkret macht, für wen sind Sie da?
Corrina Koob: Das IGLU arbeitet mit Familien, in denen Eltern eine Suchtproblematik haben oder hatten. Wir arbeiten dabei für die Kinder, allerdings liegt unser Schwerpunkt hierbei auf den Eltern. Das heißt, wir gehen nicht in Konkurrenz mit den Eltern. Wir versuchen vielmehr mit den Eltern zu erarbeiten, was ihre Kinder in ihrem Entwicklungsstand gerade brauchen und was sie dazu beitragen können, ihren Kindern Sicherheit zu vermitteln. Dabei unterstützen wir Eltern, die Suchtproblematik für die Kinder verständlich zu machen. Wir achten darauf, dass sie die Generationengrenzen einhalten und selbst in der Verantwortung bleiben. Was im Einzelnen der Unterstützungsbedarf in den Familien ist, ist sehr individuell und wird dementsprechend von uns angeboten.
Aufklaren: Welche Familien suchen den Kontakt zu Ihrer Beratungsstelle?
Corrina Koob: Das sind Mütter oder Väter, die substituiert sind oder es waren. Häufig haben sie einen problematischen Konsum von Partydrogen oder Cannabis oder vermuten diesen bei ihren Partner*innen. In jedem Fall haben oder hatten sie mit illegalisierten Drogen zu tun. Meist sind es Elternteile, die mit ihren Kindern zusammenleben. Ziel unserer Arbeit ist dabei, dass die Kinder bei ihren leiblichen Eltern bleiben können.
„Ziel unserer Arbeit ist dabei, dass die Kinder bei ihren leiblichen Eltern bleiben können."
Corrina Koob: Es kommen auch Mütter und Väter zu uns, deren Kinder fremd untergebracht sind oder die im Haushalt des anderen Elternteils leben. Hier unterstützen wir dabei, einen möglichst guten Kontakt zu den Kindern herzustellen und verlässlich zu halten. Kinder wollen häufig wissen, wo ihre Wurzeln sind. Dabei halten wir es für sehr wichtig, den Kindern zu vermittelt, dass sie nicht schuld sind, wenn der Kontakt zu ihren leiblichen Eltern unterbrochen oder gestört ist. Unsere Aufgabe ist es auch, bei Problemen mit Pflegeeltern zu vermitteln. Im Kontakt zwischen Pflegeeltern und leiblichen Eltern gibt es oft konkurrente Situationen. Um einem Loyalitätskonflikt der Kinder entgegenzuwirken, setzen wir uns für gegenseitiges Verständnis ein und verdeutlichen, dass die jeweiligen Parteien nur gemeinsam, quasi als Team, förderlich für die Entwicklung des Kindes wirken können.
Aufklaren: Das klingt sehr umfangreich und sehr individuell.
Corrina Koob: Genau, das ist sehr umfangreich. Wir arbeiten mit allen Generationen, die da sind, die zu dem (Familien-)System des Kindes gehören. Das können die leiblichen Eltern, Großeltern oder auch neue Partner*innen sein. Hier erklären wir zum Beispiel, was es für das Kind bedeutet und wie es sich anfühlt, wenn die Eltern hochstrittig sind.
Aufklaren: Welches Angebot bietet das IGLU diesen Familien an?
Nina Sprengel: Neben der ganz klassischen Beratung machen wir auch eine Reihe von niedrigschwelligen Angeboten. Diese sind durch die momentane Coronalage allerdings sehr eingeschränkt. Zum Beispiel organisieren wir monatlich Familiennachmittage und bieten auch eine Kleiderkammer für Kinderkleidung und Schwangerschaftsbekleidung. Die IGLU-Beratungsstelle plant außerdem zusammen mit der IGLU-Familienhilfe Sommer- und Weihnachtsfeste sowie Ausflüge in den Schulferien. Einmal in der Woche kommt die Hamburger Tafel zu uns, um die Familien mit Lebensmittel zu versorgen. Etwas ganz Besonderes für die Familien ist die Familienreise, die wir einmal im Jahr planen. Hier fahren wir mit 14 Familien für fünf Tage nach Plön. Ein weiteres Angebot ist die Fach- und Fallberatung, die sich an Kolleg*innen der Suchthilfe, den Allgemeinen Sozialen Dienst, die Kinder- und Jugendhilfe sowie an die Gesundheitshilfe richtet.
Corrina Koob: Wir bieten einen Ort der Begegnung. Eltern haben hier die Möglichkeit, auf andere Eltern zu treffen. Gerade ist das natürlich etwas schwierig. Generell ist es aber so, dass die Eltern sehr einsam sind. Wenn sie sich aus der Drogenabhängigkeit rausgelöst haben, haben sie keine anderen Menschen, mit denen sie vernetzt sind. Hinzu kommt, dass die meisten über sehr wenig Geld verfügen und von Arbeitslosengeld II leben – gerade die Alleinerziehenden können sich und ihre Kinder in der Regel nicht ohne ergänzende Leistungen finanzieren. Daher können sie auch nicht in den Urlaub fahren. Das versuchen wir dann mit unserem Ferienprogramm unserer Plön-Reise ein wenig zu kompensieren. Dies ist oft der erste und einzige Urlaub, den diese Familien gemacht haben. Das ist natürlich auch ein Grund, warum das alles sehr schambesetzt ist. Die Eltern fühlen sich meist defizitär, weil sie ihren Kindern nichts bieten können.
Aufklaren: Ich kann mir vorstellen, dass es gerade in Zeiten von Corona eine große Herausforderung ist, dieses Angebot aufrecht zu erhalten.
Corrina Koob: Ja, für diese Familien ist es aktuell sehr herausfordernd. Sie haben alle kleine Wohnungen und generell auch wenig Kontakte. So ist die familiäre Unterstützung auch nicht groß. Wir machen jedes Jahr eine Statistik und dokumentieren, wie viele Eltern familiäre Unterstützung, zum Beispiel durch Großeltern erfahren. Dabei kommt regelmäßig heraus, dass die Hälfte bis zwei Drittel unserer Klient*innen keinerlei Unterstützung haben. Geld für einen Babysitter gibt es nicht und auch niemanden, der bei Krankheit oder Überforderung einspringen und entlasten kann. Was das speziell in dieser Zeit für eine Belastung für die Eltern darstellt, kann sich wohl jede*r ausmalen. Gerade die Alleinerziehenden sind über Jahre, 24 Stunden am Tag allein für ihre Kinder verantwortlich. Daher ist es wichtig, einen Ort zu haben, an den sich diese Familien wenden können.
"(...) die Hälfte bis zwei Drittel unserer Klient*innen haben keinerlei Unterstützung."
Nina Sprengel: Gerade beim Homeschooling ist das schwierig. Hier hören wir den Eltern einfach nur mal zu, fühlen mit, freuen uns auch mal mit ihnen, denn sonst gibt es kein Gegenüber, das das macht. Dabei bieten wir eine Nähe an, bei der wir aber immer auch eine Grenze ziehen, damit wir selber gut damit klar kommen.
Aufklaren: An welchen Stellen begegnet Ihnen das Thema ‚Kinder psychisch erkrankter Eltern‘?
Corrina Koob: Genau genommen ist Sucht ja eine psychische Erkrankung. Insofern kann man das schwer trennen. Wir arbeiten mit vielen Eltern, die unter Persönlichkeitsstörungen wie zum Beispiel Borderline oder auch schweren Bindungsstörungen leiden. Für die Kinder kann es dann sehr schwierig sein, wenn sie davon Zeuge werden oder auch selbst davon betroffen sind.
Aufklaren: Sehen Sie Gemeinsamkeiten und Unterschiede bei Kindern von sucht- und psychisch kranken Eltern?
„Wir bieten eine Nähe an, bei der wir aber immer auch eine Grenze ziehen, damit wir selber gut damit klar kommen.“
Corinna Koob: Die Gemeinsamkeiten sehe ich darin, dass häufig die Generationsgrenzen verschwimmen und unklar ist, wer für wen verantwortlich ist. Ein Unterschied ist, dass psychische Erkrankungen meist weniger schambelastet als Suchterkrankungen sind. Gesellschaftlich wird es oft so gesehen, dass ich nichts für eine psychische Erkrankung kann. Wenn ich eine Suchterkrankung habe, kann ich aber scheinbar etwas dafür. Ich kann ja damit aufhören oder mich mal zusammenreißen. Das ist besonders für Mütter schwierig, diesen gesellschaftlichen Druck auszuhalten. Vor allem bei illegalisierten Drogenkonsum besteht für die Kinder das Problem der Tabuisierung. Sie dürfen darüber eigentlich gar nicht sprechen. Im Zweifelsfall landen die Eltern sonst vielleicht im Gefängnis.
Aufklaren: Wo sehen Sie Entwicklungsbedarf beim Thema ‚Kinder psychisch- und suchtkranker erkrankter Eltern‘?
Corrina Koob: Generell ist es wichtig zu erkennen, dass Soziale Arbeit Geld kostet. Und auch wenn die Arbeit überwiegend von Frauen gemacht wird, ist es trotzdem nötig, dass man davon leben kann und irgendwann eine Rente kriegt, von der man sich noch die Wohnung leisten kann. Der Umgang mit den Menschen, die in diesem Bereich arbeiten, sollte überdacht werden. Wir sind bei IGLU zu dritt, haben drei Vollzeitstellen und sind für ganz Hamburg zuständig. Das reicht natürlich vorne und hinten nicht. Der Bedarf der Familien an Zuwendung und Unterstützung übersteigt besonders in Krisenzeiten das, was wir leisten können. Wir ruckeln das alles schon immer zurecht, doch im Grunde sind wir häufig einzige Ansprech-partnerinnen für die Familien und daher oft an unserer Überlastungsgrenze.
Nina Sprengel: Wir haben immer ganz tolle Ideen, aber kaum Kapazität und Raum, um diese umzusetzen. Das ist sehr frustrierend in der Arbeit. Unser Ziel ist es ja auch, dass wir sehr individuell mit den Familien arbeiten, denn jede Familie ist anders und hat einen anderen Bedarf. Das fordert Zeit und vor allem auch einen Willen, sich darauf einzulassen.
Aufklaren: Wie müsste Ihrer Meinung nach eine gute Versorgung von Kindern und ihren seelisch stark belasteten Eltern in Hamburg in fünf Jahren aussehen?
Nina Sprengel: Ich sehe Entwicklungsbedarf bei der Enttabuisierung von Sucht- und psychischen Krankheiten. Ich erlebe häufig, dass Eltern „schief“ angesehen werden, wenn etwas „vermutet“ wird. Das passiert zum Beispiel in der Kita oder anderen Zusammenhängen,in denen Kinder auftauchen. Wichtig ist, einen genauen Blick auf das Kind zu haben, ohne dabei die Eltern zu verurteilen. Die Kinder kommen sonst in eine für sie schreckliche Situation. Sie müssen etwas verstecken. Dabei ist es so wichtig, dass sie eine Bezugsperson haben, außerhalb oder innerhalb der Familie, der sie sich anvertrauen können.
“Ich sehe Entwicklungsbedarf bei der Enttabuisierung von Sucht- und psychischen Krankheiten.”
Corrina Koob: Ich wünsche mir, dass es viele Orte der Begegnung gibt. Egal, ob suchtkrank, psychisch krank oder überfordert. Hier sollen alle Eltern zusammenkommen können, die Unterstützung brauchen. Hier sollen sie sich austauschen können, weil Erziehung lernen sie nicht in der Schule. Wir arbeiten zum Beispiel viel mit Vätern, die selbst keinen Vater hatten. Sie wissen nicht, wie ein Vater ist. Sie haben kein Modell und brauchen viel Unterstützung, um sich in dieser Rolle zu finden. An diesem Ort könnten sich Menschen begegnen und gegenseitig unterstützen.
“Ich wünsche mir, dass es viele Orte der Begegnung gibt.”
Ein Wunsch ist es auch, dass es Häuser gibt, wo Kinder mit ihren Eltern leben können. Hier sollte es eine Art Großelternbetreuung geben. Die Eltern könnten selbst noch mal ein bisschen nachbeeltert werden, aber trotzdem auch die Verantwortung für ihre Kinder übernehmen können. Dann würde ich mir wünschen, dass es viel mehr Mutter-Kind-Plätze in Hamburg gibt und sehr viel kleinere Einrichtungen. Das würde natürlich um einiges mehr Geld kosten. Wenn man aber von Anfang an die Sache gut macht, dann gibt es bessere Chancen, dass die Kinder dauerhaft bei ihren Eltern leben können und später kaum Folgekosten entstehen. Wenn wir ausrechnen, wie viel ein Kind in einer Einrichtung kostet oder ein kurzer Aufenthalt in der Psychiatrie, lohnt es sich schon am Anfang ein bisschen Geld in die Hand zu nehmen, um einen guten Start zu ermöglichen.
Das Interview führte Hanna Berster
Hanna Berster
Journalistin und bis 2022 bei A:aufklaren in der Öffentlichkeitsarbeit beschäftigt.
Corrina Koob
Ausgebildete Familientherapeutin, Systemische Kinder- und Jugendtherapeutin und Supervisorin bei IGLU.
Nina Sprengel
Sozialpädagogin und Traumafachberaterin/pädagogin und arbeitet bei IGLU.
Verweise
Weitere Informationen zur Beratungsstelle IGLU finden Sie auf www.palette-hamburg.de.