Diagnose Depression
Der Tag mit dem Hundekackeleuchtturm
Benjamin Maack
Kennen Sie die Geschichte von den Kindern, die einen Hundehaufen in eine Papiertüte füllen, vor eine Haustür legen, die Tüte anzünden und klingeln? Und dann soll man rauskommen und vor Schreck schnell reintreten, um das Feuer zu löschen und die Kinder rennen lachend davon? Ist mir noch nie passiert. Ich weiß ehrlich gesagt nicht, ob das überhaupt schon mal jemandem passiert ist. Vielleicht ist die Geschichte auch einfach nur zu witzig, um sie nicht weiterzuerzählen.
Eine Depressionsdiagnose ist keine besonders lustige Geschichte. Dafür ist sie garantiert echt. Depressionsdiagnosen passieren ständig. Meine habe ich vor acht Jahren in einer psychiatrischen Klinik bekommen. Und – Sie dürfen sich aussuchen, ob Sie jetzt lachen oder Kopfschütteln – meine Diagnose war wie die Sache mit der Hündhaufentüte, nur andersrum.
Zuerst war da die Kacke, eine volle Ladung: Ich bekam Angst, war verzweifelt. Depressionen. Scheiße, dachte ich, heißt das jetzt, ich bin für immer kaputt? So schlimm ist es also, dachte ich, so am Ende bin ich.
Aber darunter, unter der Kacke, war etwas anderes, etwas, das mich erleichterte: Endlich hatte mir jemand gesagt, dass ich nicht einfach nur grad zu faul, zu schwach oder zu blöd bin, um ein normales Leben zu führen.
Im Gegenteil, da saß mir ein Arzt gegenüber, ein echter Arzt, und sagte mir, ich sei krank. Sogar so krank, dass ich in einem Krankenhaus sein muss. Ich hatte eine Krankheit. Das war das Feuer in dem Kackeberg, ein Leuchtfeuer in einem Leuchtturm aus Hundekacke. Das schon. Aber immerhin ein Leuchtfeuer. Etwas, das mir eine Richtung aus der Schwärze, die mich umgab, wies. Denn krank ist schließlich jeder mal – und wer krank ist, kann wieder gesund werden. Oder versuchen, einen Weg zu finden, mit der Krankheit zu leben.
„Endlich hatte mir jemand gesagt, dass ich nicht einfach nur grad zu faul, zu schwach oder zu blöd bin, um ein normales Leben zu führen.“
So wurde aus dem Gefühl vollkommenen Zerstörtseins ein Zustand, der benannt, geheilt oder wenigstens gelindert werden kann. Und aus der unbarmherzigen Abwärtsspirale und der undurchdringlichen Schwärze, in die ich immer tiefer hineinraste, wurden Symptome.
Seitdem hat die Depression mich begleitet, es ist kaum ein Tag vergangen, an dem ich nicht gespürt habe, dass sie ein Teil von mir ist. Kaum ein Tag, an dem ich nicht überlegen musste, wie es mir geht, was heute möglich ist und was nicht. In den guten Momenten, an den guten Tagen kann ich denken: Die Diagnose Depression ist nur ein Name dafür, an welchen Stellen du auf dich achtgeben musst. Und dass das vollkommen in Ordnung ist. Das ist die wahrscheinlich wichtigste Frage: Bin ich in Ordnung, wie ich bin?
An manchen Tagen sind die Antworten leicht zu finden. An anderen überhaupt nicht. Manchmal finde ich nur Antworten, die alles schlimmer machen. Und manchmal die Antworten anderer. Und das ist das beste an der Diagnose Depression.
Sie macht aus mir, der allein in seinem Kopf kauert – verängstigt, zu traurig, um zu weinen, voller Selbsthass – und nicht mehr herausfindet, jemanden, der nicht allein ist. Es gibt so viele Menschen, die das alles kennen, die mitfühlen und helfen können. Nicht, weil sie Ärzte in Praxen und Kliniken sind. Sondern, weil sie wissen, wovon sie reden. Weil sie auch an irgendeinem Hundekackeleuchtfeuertag die Diagnose Depression bekommen haben.
Benjamin Maack
Benjamin Maack
Foto: Benne Ochs