Das Schweigen brechen

Und wie wir als Familie unsere Worte wiederfanden.

Ein Gastbeitrag von Bianca

In meinem Leben gab es eine Zeit, in der es mir aussichtslos erschien, die Stille innerhalb meiner Familie aufzulösen. Weil es eine für uns sehr schwierige Zeit war, ist mir dieses Thema sehr wichtig. Was fehlte mir, um mein Schweigen damals zu brechen? Es fehlte mir Mut. Das Gegenteil von Mut ist Angst – und die war ja sowieso sehr groß bei mir. Sie bestimmte meinen Alltag und somit auch den meiner Kinder. Um mein Schweigen zu brechen, fehlten mir Worte. Worte für etwas, das ich mir selber nicht erklären konnte. Etwas, das ganz schwer auf mir und meiner Familie, meinen damals noch kleinen Kindern, lastete. Wie sollte ich Worte für uns finden und damit den Anstoß dafür geben, unser Schweigen zu brechen? Wie, wenn uns dieses Schweigen so vertraut war? In meinem Elternhaus wurde nicht gesprochen. Unangenehme oder belastende Themen wurden totgeschwiegen und das bis heute! 

Um mein Schweigen zu brechen, fehlten mir Worte.

Dieses Schweigen bedeutete für mich aber nicht nur etwas nicht zu sagen oder auszusprechen, es bedeutete für mich auch manchmal nicht ehrlich sein zu können, obwohl ich es gerne gewesen wäre. Ich konnte auch nicht ehrlich zu Menschen sein, die mir vielleicht geholfen hätten, Worte zu finden und mir Stimme zu geben. Immer musste ich überlegen, wem ich was gesagt hatte, um dieses Schweigen aufrechterhalten zu können. Das zehrte zusätzlich sehr an meinen Kräften und zwang mich noch mehr in den Rückzug und somit in die Isolation.

In den meisten Fällen ist Schweigen ja ein Zeichen dafür, dass etwas nicht in Ordnung ist. Genau so war das bei uns. Mir ging es lange nicht gut, aber wie sollte ich meinen Kindern sagen, warum ich tagsüber viel auf dem Sofa liege und schlafe oder zusammengekauert auf dem Fußboden sitze und weine? Wie erklärt man einem kleinen Jungen, warum die Mutter ihn nicht in den Kindergarten bringen oder abholen kann und darum der Vater das macht, obwohl er doch immer so sehr nach Alkohol riecht und dann so aggressiv anderen gegenüber ist? Warum können wir nicht auf den Spielplatz gehen, obwohl wir die anderen Kinder mit ihren Eltern auf dem Spielplatz draußen spielen sehen? Warum muss sich die große Schwester um ihren Bruder kümmern, nachdem sie ihre Hausaufgaben alleine gemacht hat? Warum geht keiner zum Elternabend ihrer neuen Schule, obwohl Mama doch zu Hause ist und Papa aufpassen könnte, wie sonst auch? Wie erklärt eine Mutter ihren verstummten Kindern, warum sie immer zittert, glaubt zu ersticken und panisch Tabletten schluckt? Wollte ich als Mutter überhaupt mit meinen Kindern über gefühlt so schwierige Themen sprechen?

“In den meisten Fällen ist Schweigen ja ein Zeichen dafür, dass etwas nicht in Ordnung ist. Genau so war das bei uns.”

Durch mein Schweigen wurden nicht nur Freunde und Angehörige immer stiller, auch meine Kinder. Diese Stille war für mich kaum auszuhalten. Schwerer noch, die Stille meiner Kinder war nicht zu ertragen. Verantwortung hatte ich nicht nur für mich, sondern auch für die beiden. Ich bin Mutter und zu erleben, wie wir uns immer weiter voneinander entfernten, das Schweigen zu einem dicken Abstandhalter wurde, brach mir das Herz.

Wenn der Vater der beiden versuchte, mich zu unterstützen, für seine Kinder da zu sein, obwohl er mit seiner Alkoholsucht selber genug Sorgen hatte, herrschte kaum aushaltbare Eiseskälte. Ich begriff, dass meine Kinder sich nicht weniger schlecht mit dieser Situation fühlten, sie alles mitbekamen und es in meiner Verantwortung lag, das Schweigen innerhalb der Familie aufzulösen und diesen Teufelskreis zu durchbrechen. Dazu gehörte aber auch, mir einzugestehen, dass ich Hilfe brauchte. Das wir Hilfe brauchten. Aber Hilfe woher? Mir war klar, dass ich erst einmal Verständnis für mich und unsere Situation aufbauen musste, denn ohne diese anzunehmen, konnte ich sie nicht verändern. Es begann mein ziemlich langer Genesungsweg und somit auch der Weg, der Stille eine Stimme zu verleihen. Je sicherer ich mit mir und meiner Erkrankung wurde, desto einfacher fiel es mir, mit anderen darüber ins Gespräch zu kommen und mich über mögliche Hilfen zu informieren. Trotzdem war dieser Weg nicht immer einfach ziemlich oft sogar sehr holprig.

"Jahrelanges Schweigen löst sich nicht so einfach auf, nur weil ich es in diesem Moment möchte."

Jahrelanges Schweigen löst sich nicht so einfach auf, nur weil ich es in diesem Moment möchte. Es hat Vertrauen zerstört, welches erst wieder aufgebaut werden musste. Wir mussten raus aus unserer Isolation, anfänglich mit kleinen Worten. Später bekam ich immer mehr Mut, Gefühle und Situationen zu benennen. Sprache bedeutet nicht nur miteinander zu kommunizieren. Für mich steckt da so viel mehr hinter. Das weiß ich heute, Jahre später. 

Ich habe mir eine Therapeutin gesucht, die sehr verständnisvoll war. Oft war es Thema der Therapiesitzungen, wieder ins Gespräch zu kommen und zu verstehen, warum es mir so lange so schwerfiel. Das Verständnis mir selbst gegenüber löste meine Blockaden immer mehr. Ich konnte meine Kinder wieder in die Arme nehmen, ohne Angst zu haben, dass sie Fragen stellen. Langsam Schritt für Schritt konnten wir unsere gemeinsame Zeit wieder genießen.

Informationen und Wissen haben mir sehr viel Sicherheit gegeben. Mir wurde bewusst, dass es viele Menschen gibt, auch viele Eltern bzw. Familien, denen es so geht wie mir. Es war gut zu wissen, dass ich nicht alleine damit bin. Ich fühlte mich nun nicht mehr wie ein Exot. Ich nahm Hilfe von Beratungsstellen in Anspruch, deren Flyer nun ständig in meine Hände fielen. Erst mit dem festen Wunsch, etwas verändern zu wollen, öffneten sich mir ganz neue Wege, die ich vorher nicht gesehen habe. Vielleicht aber auch nicht sehen wollte. Sehr wichtig war mir der Erfahrungsaustausch mit Menschen, die Ähnliches erlebt haben.
 

“Erst mit dem festen Wunsch, etwas verändern zu wollen, öffneten sich mir ganz neue Wege, die ich vorher nicht gesehen habe.”

Mit Unterstützung einer Beratungsstelle fanden meine Kinder und ich eigene Worte, um endlich miteinander ins Gespräch zu kommen. Dort habe ich verstanden, wie wichtig es ist, altersgerechte Begriffe zu finden. Mein Sohn, der noch im Grundschulalter war, brauchte keine Worte wie Sucht, Gewalt, Selbstverletzung, Trauma, Borderline oder Einsamkeit. Es gibt andere Worte, die das Schweigen, welches bei mir größtenteils durch Angst, Unsicherheit, Scham-und Schuldgefühlen entstand, durchbrechen, aber nicht unnötig noch mehr verunsichern. Meine Tochter ist vier Jahre älter als ihr Bruder und benötigte manchmal ganz andere Worte, was nicht schwierig war, da ich Unterstützung dabei bekam, auch für sie die richtigen Worte zu finden. Ich hatte Ansprechpartner, das stärkte mich.

Heute sprechen wir über fast alles, auch über schwierige und unangenehme Themen. Das Schweigen erdrückte und entfremdete uns. Durch das Schweigen innerhalb der Familie entstand eine wahnsinnige Schwere, die uns fast erdrückt hätte. Jetzt, wo wir wieder Worte füreinander und miteinander gefunden haben, arbeite ich viel daran, es nicht wieder zu zerstören. Meine Ursprungsfamilie möchte leider noch immer nicht sprechen und wehrt alle Versuche ab. Dabei werde ich es belassen, denn Schweigen kann nur aufgelöst werden, wenn jemand auch bereit dazu ist.

“Jetzt, wo wir wieder Worte füreinander und miteinander gefunden haben, arbeite ich viel daran, es nicht wieder zu zerstören.”

Ich habe eine für mich sehr schöne Erinnerung, von der ich immer wieder mal gerne erzähle, meistens im Kontext meiner Arbeit (als Genesungsbegleiterin). Im Rahmen der „Sozialen Woche“ bin ich zusammen mit meinen Kindern und anderen psychisch belasteten Eltern und ihren Kindern in den Hansa Park gefahren. Begleitet und organisiert durch die ambulante Sozialpsychiatrie, der ich zu diesem Zeitpunkt angebunden war. Im Hauptbahnhof standen wir zusammen am Gleis und warteten auf unseren Zug. An der Seite ein riesiges Werbeplakat, auf der eine weinende Frau zu sehen war. Neben ihr stand in großen Buchstaben „Depressionen“ (und eine Telefonnummer, unter der jemand Hilfe bekommen kann). Mein Sohn las das und rief laut: „Mama guck mal, da steht Depression. Das hast du doch auch!“ Meine Kinder nahmen mich an die Hand und sahen zufrieden aus. Die anderen betroffenen Eltern verstummten umgehend und beobachteten uns mit starrem Blick. In diesem Moment wurde mir bewusst, wie wunderbar es war, genau dieses Schweigen besiegt und unsere Leichtigkeit wiedergewonnen zu haben.

Auch heute noch ist es mir sehr wichtig, dem Schweigen eine Stimme zu geben. Wenn ich irgendwo jemandem helfen kann, verlorene Worte wiederzufinden, dann mache ich das sehr gerne und aus tiefstem Herzen. So richtig bewusst ist mir mein Weg in meiner Weiterbildung zur EX-IN Genesungsbegleiterin und den Fortbildungen „Mit-Mütter” und „Mit-Geschwister“ geworden. Ich wünsche mir, dass jeder, der sein Schweigen brechen möchte, seinen Weg findet und auch irgendwann diese Erleichterung leben kann, so wie ich es heute mache.


Ein Gastbeitrag von Bianca

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