Das Kind ist wie ein Hoffnungsträger und wird als Startpunkt für eine bessere Zukunft gesehen
Liv Schindler zeigt suchterkrankten Menschen und ihren Familien Wege aus dem Teufelskreis
Interview mit Liv Schindler
A: Was macht das Seehaus? Wer sind die Nutzer*innen?
Liv Schindler: Das Seehaus ist ein Suchtberatungs- und Behandlungszentrum. Seit Oktober 2021 gibt es zwei Standorte, da wir sehr expandiert sind und mehr Raum benötigten. Die Standorte beinhalten eine Suchtberatung, eine ambulante Suchtbehandlung, eine ambulante Weiterbehandlung nach stationärem Aufenthalt sowie die Tagesklinik ‚Change‘. Genutzt wird unser Angebot überwiegend von Menschen, die eine Suchterkrankung haben. Als ich 1994 anfing, kamen vermehrt Menschen zu uns, die illegale Drogen konsumiert haben. Heute sind alle Suchtmittel und Altersgruppen vertreten.
A: Bieten Sie im Seehaus auch eine Familienberatung an?
Liv Schindler: Wir beraten Familien, die von Sucht betroffen sind. Je nachdem, wie es gewünscht ist, kann die Behandlung in einem Familiensetting stattfinden. Wir bieten aber auch Angehörigenberatungen an. Eine klassische Erziehungsberatung gibt es nicht, da der Schwerpunkt immer auf dem Thema ‚Sucht‘ liegt. Der Träger selbst hat in Schleswig-Holstein auch eine Erziehungsberatung.
A: Im Februar dreht sich bei A: aufklaren alles um das Thema „Systemisch betrachtet“. Inwieweit arbeiten Sie systemisch in der Suchtberatung?
Liv Schindler: Dadurch, dass alle unsere Kolleg*innnen interdisziplinär und teilweise systemisch ausgebildet sind, handeln wir in einer integrativen systemischen Arbeitsweise. Das geschieht insbesondere in der Gruppenarbeit, aber auch unsere Supervision ist systemisch geprägt. In unserem Projekt FriDA ist es explizit gewünscht, dass in der Beratung bereits systemisch gearbeitet wird. Hier geht es um die Frühintervention für substanzkonsumierende Jugendliche, die noch zu Hause wohnen. Wenn die Eltern des Jugendlichen getrennt sind, was häufig vorkommt, bitten wir beide Elternteile, an der Beratung mit ihrem Kind teilzunehmen. Der erste Schritt, systemisch vorzugehen geschieht durch die Frage, wie wir einen Elternteil mit ins Boot holen können, um mit der Kernfamilie zu arbeiten. Es kann aber auch sein, dass wir die Schule mit einbinden oder den Allgemeinen Sozialen Dienst (ASD), der bereits in der Familie aktiv ist.
„Der erste Schritt, systemisch vorzugehen geschieht durch die Frage, wie wir einen Elternteil mit ins Boot holen können (…)”
A: Wer sucht bei dieser Form der Beratung den Weg zu Ihnen?
Liv Schindler: Das geht sowohl von Jugendlichen als auch von Eltern aus. Sollte ein Jugendlicher nicht bereit sein mitzukommen, starten wir zunächst mit den Eltern und eruieren gemeinsam, wie wir den Jugendlichen zu uns bewegen könnten. Hier sind wir bei dem Thema Erziehungsstil und Einfluss. Wir geben Eltern Methoden an die Hand, die sie dabei unterstützen sollen, ihr Kind zu einer Beratung zu bewegen. Das klappt erstaunlich gut.Aktuell haben wir einen Fall, bei dem sich ein Junge extrem quer stellt. Er nimmt seine Eltern nicht mehr ernst, sie haben keinerlei positiven Einfluss mehr auf ihr Kind. Hier muss man das ganze System betrachten. Welchen Einfluss haben z. B. die Großeltern oder befreundete Ehepaare, die Kinder im ähnlichen Alter haben? Wir überlegen gerade, ob wir ein Meeting machen, wo alle ihre Sorgen mitteilen können, auch befreundete Familien. Gegebenenfalls sogar in der Wohnung der Eltern.
A: Es geht in systemischen Therapien oder Beratungen darum, wie Wirklichkeit im System erzeugt wird und welche Hintergründe und Bedingungen ihnen entsprechen, um diese dann zu verändern (Schlippe und Schweitzer, 2007). Welche systemischen Methoden wenden Sie an, um diese Wirklichkeit sichtbar zu machen?
Liv Schindler: Gerade im Familiensetting arbeiten wir mit systemischen Interventionen, wie z. B. mit zirkulären Fragen. Dabei wollen wir erfahren, wie jedes Familienmitglied die Situation wahrnimmt. Das ist manchmal schon sehr erhellend und geht gerade bei Jugendlichen schnell auf eine emotionale Ebene. Wenn Eltern gegenüber ihren Kindern ihre Sorgen äußern, dann steigen manchmal harten jungen Kerlen die Tränen in die Augen. Ich arbeite auch sehr gerne ressourcenorientiert. Passend dazu habe ich eine Weiterbildung im Bereich Neuropsychotherapie gemacht. Dabei werden die Erkenntnisse der Neurowissenschaften auf therapeutische Prozesse angewendet. Hier gibt es eine Methode, die sich Ressourcenaktivierung nennt. Also, welche Ressourcen sind überhaupt da? Oft geht es nämlich darum, was alles nicht klappt. Wenn es lange Zeit sehr destruktiv bei einem suchterkrankten Jugendlichen zugeht, werden positive Ressourcen nicht mehr gesehen. Bei dieser Methode kann zu Beginn der Behandlung z. B. gewürdigt werden, dass es zumindest geklappt hat, dass alle Anwesenden zum vereinbarten Termin gekommen sind.
Im Team arbeiten wir auch viel mit der Methode des Reframing. Dabei gibt man der Situation eine andere Bedeutung. Ein Beispiel wäre das ständige Ausflippen einer Mutter der Tochter gegenüber. Die Tochter sieht in diesem Verhalten nur, dass ihre Mutter ihr das Leben schwer macht. Wir vermitteln dann, dass der Mutter die Emotionen so entgleiten, weil ihre Tochter ihr sehr wichtig ist. Das ermöglicht beiden – Mutter und Tochter – einen neuen Blickwinkel neben „wir streiten uns andauernd“.
Auch das Stellen hypothetischer Fragen und das Dramatisieren von Situationen können eine hilfreiche Methode sein. So z. B. bei einer von Heroin abhängigen jungen Frau, deren Mutter die Situation als sehr ungefährlich einschätzte, die wir gefragt haben: „Wenn das jetzt so weitergeht, wo sehen Sie sich mit ihrer Tochter in einem Jahr?“ oder „Was müsste passieren, dass Sie mit dem Konsumieren aufhören?“ Diese Fragen können oft erhellend für die Betroffenen sein und zeigen uns, wie viel Problembewusstsein vorhanden ist.
A: Was ist „die Wirklichkeit“ von Kindern suchtmittelabhängiger Eltern?
Liv Schindler: Die Wirklichkeit für diese Kinder und Jugendlichen ist, dass es ihre Normalität ist, dass ihre Eltern konsumieren und emotional nicht verfügbar sind. Diese Kinder sind für ihre Eltern da. Häufig haben sie auch nicht die immateriellen und materiellen Dinge, die ihre Freunde haben. Oft kennen sie den von Nicht-Süchtigen erlebten Alltag gar nicht. Oft verstehen die Kinder nicht, dass jemand um sie besorgt ist. Kindern aus dysfunktionalen Familien ist oft nicht klar, dass das „Schützen der Eltern“ durch z. B. Geheimhaltung auch bedeutet, dass keine geeignete Hilfe stattfinden kann. Sie denken viel mehr, ihnen wird ihre Normalität genommen, wenn sie die „Familiengeheimnisse“ öffnen.
„Kindern aus dysfunktionalen Familien ist oft nicht klar, dass das „Schützen der Eltern“ durch z. B. Geheimhaltung auch bedeutet, dass keine geeignete Hilfe stattfinden kann.”
A: Arbeiten Sie mit vielen Kindern zusammen, bei denen die Mutter bereits während der Schwangerschaft konsumiert hat oder mit Kindern, die bereits mit einer Sucht geboren werden?
Liv Schindler: Dass Kinder bereits mit einer Sucht geboren werden, kann ich nicht bestätigen. Für eine genetische Veranlagung zur Sucht gibt es bis heute keinen überzeugenden wissen-schaftlichen Beleg. Dennoch gibt es die transgenerationale Weitergabe von Sucht-strukturen in Familien. So ist z. B. oft erlernt, dass es völlig normal ist, Suchtmittel zu konsumieren, um den Alltag und Gefühle zu bewältigen. Ich finde es immer wieder erstaunlich, wie viele suchtkranke Mütter es hinbekommen, während der Schwangerschaft keine Suchtmittel zu nehmen. Leider kann das nach der Schwangerschaft oft nicht aufrechterhalten werden. Vor allem, wenn noch keine Aufarbeitung der Suchterkrankung stattgefunden hat.
A: Das ist ja teilweise eine sehr positive Erkenntnis.
Liv Schindler: Ja, es ist ein großes Bewusstsein da. Ich hatte aktuell Kontakt mit einer Frau, die 30 Jahre lang gekifft hat. Sie war einmal im Leben für 24 Monate abstinent. Das war während ihrer Schwangerschaft und der Zeit, in der sie gestillt hat. Das war ihr sehr wichtig. Das ist auch ein gutes Beispiel für Reframing. Sie weiß, dass sie abstinent sein kann, das gibt Hoffnung, dass sie es mit Unterstützung auch nicht schwanger schaffen kann. Mir fällt immer wieder auf, dass eine beträchtliche Anzahl suchtkranker Frauen, vor allem wenn die Erkrankung chronifiziert ist, mehrere Kinder haben, die oft direkt nach einer Therapie geboren werden. Das Kind ist wie ein Hoffnungsträger und wird als Startpunkt für eine bessere Zukunft gesehen. Eine Freundin von mir, die ein Pflegekind aus einer suchtkranken Familie bei sich aufnahm, sagte mal: „Diese Kinder sind manchmal etwas zwischen Prinzessin und Fußabtreter, je nachdem, welche Phase die Mutter in ihrer oft chronifizierten Suchterkrankung gerade durch-macht.“
A: Wenn sie suchtkranke Eltern behandeln, wie reagieren diese darauf, wenn Sie sie auf ihre Kinder ansprechen?
Liv Schindler: Das kommt darauf an, wie man das tut. Im Kontext von FitKids haben wir im Team die Haltung erarbeitet, dass wir im Sinne des Kinderschutzes alles tun wollen, um eine Kindeswohlgefährdung zu vermeiden. Wir erfassen frühzeitig die Gesamtsituation, um zusammen mit den Eltern eine geeignete Unterstützung zu finden. Das heißt, wir fragen jede*n, der zu uns kommt, ob er oder sie Kinder hat. Wenn es Kinder gibt, wird diese*r Klient*in im Team vorgestellt. So haben wir alle den gleichen Wissensstand. Wir hatten zu Beginn die Befürchtung, dass Eltern diese Frage zu intim und zu persönlich finden könnten. Fragen nach Haftstrafen und sexueller Gewalt empfinden wir heute als viel kritischer, auch wenn dies natürlich oft gefragt werden muss, um eine angemessene Behandlungsplanung zu machen. Wenn wir die Frage nach den Kindern und ihrer Situation unter dem Aspekt des Unterstützens stellen, reagieren Eltern sehr positiv.
A: Sie sind bereits auf FitKids eingegangen. Erklären Sie doch bitte noch einmal, was FitKids eigentlich ist.
Liv Schindler: FitKids ist eine Initiative von Kolleginnen und Kollegen aus NRW. Die Idee war, ein System für substituierte Eltern zu entwickeln, um sie in ihrem Elternsein wahrzunehmen und zu unterstützen. Dabei sollten möglichst viele Institutionen, Behörden und Träger zusammenarbeiten. Dieses Vorhaben hat so gut geklappt, dass die Auridis-Stiftung vorschlug, dieses Konzept für weitere Beratungsstellen anzubieten. So ging es los, dass andere Beratungsstellen ein FitKids-Coaching erhalten konnten. Parallel wurde die Initiative von der Universität Köln vom Bereich Versorgungsforschung begleitet. Dabei wurde sehr deutlich, dass sowohl Kinder als auch Eltern von einem vernetzten Vorgehen profitieren.
Ich hatte mich damals für eine Veranstaltung angemeldet, bei der der Bericht der Versorgungsforschung vorgestellt werden sollte. Von den Ergebnissen war ich sehr angetan und habe erfahren, dass man ein Coaching buchen kann. Als ich dann hörte, was solche über drei Jahre gehenden Coachings kosten, war ich zunächst sicher, dass dies für uns nicht infrage käme. Es ist jedoch eine Förderung über die Auridis-Stiftung möglich, für die sich das Seehaus beworben hat. Wir haben die Förderung erhalten und konnten in Hamburg mit FitKids starten.
A: Hat das FitKids-Konzept Ihre Arbeitshaltung in der täglichen Praxis beeinflusst?
Liv Schindler: Ja, das hat es. Wir wollen so arbeiten, dass Notfälle gar nicht erst entstehen. Wenn mich z. B. früher vor einem Termin eine Klientin angerufen hat und sagte: „Es ist der 25., ich habe kein Geld mehr und möchte nicht schwarz fahren.“, dann habe ich mich gefreut und mir gedacht: Wie schön, dass die Klientin nicht wieder schwarzfahren möchte. Heute würde ich mich fragen: Hat sie noch etwas zu Essen für ihr Kind? Ich würde mit ihr besprechen, wie sie bei einem bestehenden Mangel vorgehen kann. Diesen Gedanken hätte ich früher nie gehabt.
A: Beraten Sie auch Kinder und Jugendliche mit auffälligem Suchtmittelkonsum?
Liv Schindler: Natürlich tun wir das. In den meisten Fällen nehmen die Eltern Kontakt auf. Über einen Forschungsauftrag der Bundesregierung hat man festgestellt, dass unter 18-jährige mit problematischem Suchtmittel-konsum vom klassischen Suchthilfesystem so gut wie gar nicht erreicht werden. Diese Jugendlichen tauchen dann eher in der Kinder- und Jugendpsychiatrie auf oder werden durch Kriminalität auffällig. Das Jugendamt ist oft bereits aktiv. Seitdem wir im Seehaus das FriDA-Konzept zur Frühintervention anbieten, kommen mehr Jugendliche zu uns.
A: Was erfahren Sie von diesen Kindern und Jugendlichen über das Familiensystem in dem sie leben?
Liv Schindler: Wir erfahren relativ viel und auch relativ schnell Dinge über die Familie – gerade durch das eingangs angesprochene systemische Setting. Vor allem, wenn Eltern in Not sind, ist die Bereitschaft, viel zu erzählen, sehr groß. Dabei kommt dann häufig auch auf den Tisch, wenn Eltern z. B. selbst Substanzen konsumieren.
„Vor allem, wenn Eltern in Not sind, ist die Bereitschaft, viel zu erzählen, sehr groß.”
Da gab es z. B. einen Vater mit einem 15-jährigen Sohn. Der Vater ist selbst seit Jahren Subsitutionsklient. Sein Sohn fing an, in seiner Jugend-WG zu kiffen. Daraufhin hat der Vater sich seinen Sohn geschnappt, ist zu uns gekommen und hat gesagt: „Das geht so nicht, hier muss etwas passieren.“ Das war eine sehr spannende Beratung. Bei dem Sohn ging es um klassischen Probierkonsum, doch fand er es toll, dass er zum ersten Mal mehr über die Geschichte seines Vaters erfahren hat. Die Ehrlichkeit und die Fürsorge des Vaters haben ihn sehr beeindruckt, sodass er ganz schnell die Finger vom Probierkonsum gelassen hat.
A: Wie häufig erleben Sie es, dass Ihre Klient*innen mit einer Suchtproblematik auch psychische Erkrankungen haben? Stichwort: Komorbidität.
Liv Schindler: Es kommen viele Menschen zu uns, die eine Komorbidität haben. Hier kann man auch oft nicht sagen, was Henne und was Ei ist, also war zuerst die Sucht oder die psychische Erkrankung da. Ich persönlich finde nicht, dass die Menschen insgesamt kranker geworden sind. Allerdings wird heute genauer diagnostiziert, vor allem im Entzug. Das hat Vor- und Nachteile. Noch vor zehn Jahren haben die Krankenkassen für einen Entzug vier Wochen bewilligt. Das macht keine Kasse mehr mit. Heute sind es oft nur zehn Tage, bei Jugendlichen manchmal nur eine Woche. Ein sogenannter „Qualifizierter Entzug“ darf nur einmal pro Jahr stattfinden. Das sehe ich sehr kritisch. Denn wenn diese Zeit nicht ausreicht, muss man einen Grund – z. B. das Benennen einer weiteren Diagnose – finden, damit die Patient*innen länger im Entzug bleiben können. Die Symptome, die man gerade bei Jugendlichen nicht gleich einer validen Depressionsdiagnose zuschreiben würde, werden oft als Zusatzdiagnose benannt, damit Patient*innen noch weitere zwei Wochen in der Klinik bleiben können, bis sie stabil sind.
Eine positive Entwicklung in diesem Zusammenhang ist, dass die meisten Suchtkliniken heute Patient*innen aufnehmen, die eine gesicherte Komorbidität haben und deshalb Psychopharmaka einnehmen. Das war in der Suchthilfe im Bereich der illegalen Drogen nicht immer so. Manchmal, so vermute ich, gibt es einen Hang zur Vielfachdiagnose. Das kann zu sehr skurrilen Situationen führen, da Sucht eine sehr unbeliebte Diagnose bei Patient*innen ist. So hatte ich schon Menschen vor mir sitzen, die gesagt haben: „Ich habe keine Sucht, ich habe eine Borderline-Erkrankung, die Sucht ist nur ein Symptom.“ Das erschwert bei Suchterkrankungen das sogenannte „Krank-heitsverständnis“.Es ist wichtig zu verstehen, das kontrollierter Konsum vermutlich nie mehr möglich ist, auch nicht wenn die Suchterkrankung mit einer Borderline-Erkrankung im Doppelpack kommt.
„Es kommen viele Menschen zu uns, die eine Komorbidität haben.”
Hanna Berster: Was glauben Sie, was es für Kinder von sucht- und/ oder psychisch erkrankten Eltern in Zukunft in Hamburg braucht?
Liv Schindler: Ich glaube, dass die Kinder davon profitieren würden, wenn Fachkräfte wie die, die beim ASD arbeiten, besser zu den Themen „Suchterkrankungen und psychische Erkrankungen“ fortgebildet werden würden. Ich stelle immer wieder fest, dass noch zu wenig Wissen über Psychiatrische- oder Suchtbehandlung besteht. Es braucht mehr Fachwissen und mehr Austausch. Es braucht außerdem mehr Projekte wie Kompaß, die ein wirklich tolles Angebot für Kinder aus Suchtfamilien haben und jahrzehntelange Erfahrung. Bei Kompaß liegt der Schwerpunkt auf dem Suchtmittel Alkohol. Eine Erweiterung des Fokus auf Kinder psychisch kranker Eltern sowie Kinder von Eltern, die illegale Drogen nehmen, wäre wünschenswert. Besser wären noch zusätzliche vergleichbare Projekte für Kinder aus belasteten Familien. Projekte, in denen Kinder andere Kinder treffen können und merken, dass es anderen ähnlich geht. Es bedarf auch mehr Träger wie Such(t)- und Wendepunkt, die Expertise im Bereich Sucht haben, sozialpädagogische Familienhilfe und andere Hilfen zur Erziehung anbieten, die in ihren Leistungsvereinbarungen mehr Ressourcen bekommen. Denn Familien mit Sucht- oder psychischen Erkrankungen haben einen höheren Bedarf.
Insgesamt braucht es viel mehr Angebote, damit man nur in Ausnahmesituationen familienersetzend arbeiten muss und eine Förderung der Kinder im Alltag stattfindet.
A: Vielen Dank für Ihre Zeit sowie den Einblick in Ihr Arbeitsfeld.
Liv Schindler: Ich danke auch Ihnen.
Hanna Berster
Journalistin und bis 2022 bei A:aufklaren in der Öffentlichkeitsarbeit beschäftigt.
Liv Schindler
Suchtberaterin im Seehaus Suchtberatungszentrum. Seit 1994 arbeitet die Diplom Sozialpädagogin und staatlich anerkannte Sozialarbeiterin in der Suchthilfe. Außerdem ist sie Fachkraft für Kindeswohlgefährdung und Suchttherapeutin.