Das Augenmerk auf die ganze Familie richten
Bei Prof. Dr. Silke Wiegand-Grefe ist jedes Familienmitglied Gegenstand der Behandlung
Prof. Dr. Silke Wiegand-Grefe
Den Anfang in 2022 macht das Thema „Familie“. Passend dazu haben wir Prof. Dr. Silke Wiegand-Grefe zum A: aufklaren-Interview gebeten. Sie ist Verfechterin eines ganzheitlichen Blicks auf das Familiensystem. Welche Settings sie in Familientherapien anwendet, ob Diagnosen bei ihrer Arbeit eine Rolle spielen und welche Gedanken sie zum Koalitionsvertrag im Kontext „Kinder psychisch erkrankter Eltern“ hat, erfahren Sie im Interview.
Hanna Berster: Warum ist es so wichtig, auf das ganze Familiensystem zu schauen, wenn ein Elternteil psychisch belastet oder erkrankt ist?
Prof. Dr. Silke Wiegand-Grefe: Die Familie lebt zusammen und die Kinder werden in den Erfahrungen geprägt, die sie in ihrer Herkunftsfamilie machen. Die Lebensbedingungen, unter denen Menschen aufwachsen, ganz besonders in den frühen Jahren, aber auch später, werden maßgeblich durch die Eltern beeinflusst. Je älter sie werden, auch durch das soziale System, ihrer Peergroup, der Kita sowie der Schule. Hinzu kommt, dass Kinder sich häufig mit ihren Eltern identifizieren. Sie übernehmen oftmals deren Wünsche, Erwartungen oder Vorstellungen. Das ganze Familiensystem ist rundherum prägend.
„Das ganze Familiensystem ist rundherum prägend.”
Hanna Berster: Mit Ihrem Blick auf Familie: Wie hat sich die Medizin im Bereich eines ganzheitlichen therapeutischen Ansatzes entwickelt?
Prof. Dr. Silke Wiegand-Grefe: Leider noch nicht so weit, wie wir uns das vorstellen würden. Die Medizin und auch die Psychologie sind unserer Auffassung nach in den Kinderschuhen. Wir wissen seit spätestens der Entwicklung der Familientherapie und der systemischen Ansätze in den 60er-Jahren, dass die Kontextbedingungen und die Interaktion maßgeblich und prägend sind. In den klassischen Versorgungssystemen zentriert sich der Blick nur auf das Individuum wie den einzelnen Patienten, sei es ein Kind oder sei es ein Erwachsener. Die Angehörigen und die Familie kommen in aller Regel zu kurz. Das ist das größte Problem. Es trägt aus meiner Sicht mit dazu bei, warum wir von einer transgenerationalen Weitergabe psychischer Erkrankungen sprechen, weil eben nicht konsequent familienorientiert gearbeitet, gedacht und behandelt wird. Es gibt in den letzten Jahren aber auch ein Stück Veränderung. So nehmen seit etwa fünf bis zehn Jahren alle größeren Verbände im Bereich der Psychologie und der Medizin das Thema ‘Familie‘ auf ihre Agenda. So z. B. die Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie (DGPPN) oder die Deutsche Gesellschaft für Psychologie (DGPs), die zum Thema „Familie“ Arbeitseinheiten gegründet haben.
Auch die Entwicklung, dass die systemische Therapie an Anerkennung gewonnen hat, ist sehr positiv. Sie ist jetzt nicht nur wissenschaftlich, sondern auch sozial-rechtlich anerkannt, weshalb die Behandlung einer systemischen Therapie finanziert wird, allerdings streng genommen für einzelne Personen, weil sie der individuumszentrierten Denke des Medizinsystems folgen muss. Es mag ein stückweit das gesamte System positiv beeinflussen, aber insgesamt ist es aus meiner Sicht immer noch viel zu wenig, denn die Familie gehört noch viel konsequenter in den Fokus. Mit konsequent meine ich: Wenn ein Kind oder ein Erwachsener irgendwo gesehen wird, ist das Augenmerk auf die ganze Familie richten.
Hanna Berster: Ich erinnere mich an einen Artikel, den ich von Ihnen gelesen habe, in dem speziell über das Thema ‚Familienmedizin` sprechen. Könnten Sie den Begriff im Kontext von Familie einordnen und erläutern, was Familienmedizin ist?
Prof. Dr. Silke Wiegand-Grefe: Ja, das ist im Prinzip genau das, was in den 60er-Jahren in den USA entstanden ist. Es gibt ein schönes Buch über Familienmedizin von William J. Doherty und Susan H. McDaniel, die Psychiaterin und Familientherapeutin ist. Darin wird das Prinzip der Familienmedizin beschrieben, das mittlerweile auch in der allgemeinärztlichen Versorgung verwendet wird in dem Sinne, dass oft die ganze Familie bei einem Hausarzt ist, der Hausarzt also häufig die ganze Familie kennt. Zudem geht dieser Begriff von einer integrativen Betrachtungsweise des Patienten in ihrer Gesamtheit aus. Die Beachtung somatischer, psychischer, systemischer und soziokultureller Aspekte gehört explizit dazu. Das meint nichts anderes als den Umstand, dass in die Behandlung immer auch die Familie involviert wird. Der Begriff der Familienmedizin muss jedoch um den Begriff der Familienpsychologie ergänzt werden, der ebenfalls eine eigene und lange Geschichte hat. Medizin und klinische Psychologie sind ja gleichberechtigte Versorgungssysteme (oder sollten es sein). So ist klassischerweise die Medizin das System, in dem behandelt wird, weshalb sich der Begriff der Familienmedizin aus Amerika stammend zunächst etabliert hat, aber man heutzutage genauso von Familienpsychologie sprechen muss, weil auch die klinische Psychologie gleichberechtigt Behandlung anbietet.
„Der Begriff der Familienmedizin muss jedoch um den Begriff der Familienpsychologie ergänzt warden (…)”
Hanna Berster: Noch ein bisschen zur Vertiefung: Heißen Familienmedizin und Familienpsychologie auch, dass mehrere Familien zusammen Therapie bekommen, wie z. B. in der Multifamilientherapie?
Prof. Dr. Silke Wiegand-Grefe: Familienmedizin heißt erst mal, dass die Familie bei der Behandlung berücksichtigt wird. Auf welche Weise das passiert, ob durch Angehörigengespräche im Kontext der Behandlung des Erwachsenen, ob die Kinder oder die ganze Familie mit eingeladen werden, wenn die Entlassung bevorsteht bis hin zu Mehrpersonensettings wie Multifamilientherapie, ist eine Frage der Ausformung und der verschiedenen Spielarten.
Hanna Berster: Erhält die ganze Familie eine Diagnose oder sieht der Behandlungsansatz lediglich eine Diagnose für das psychisch erkrankte Familienmitglied vor?
Prof. Dr. Silke Wiegand-Grefe: Das ist eine gute Frage. Das kommt darauf an, wie Sie es auslegen und in welche Richtung Sie fragen. Wenn sie die Frage einem Systemiker stellen, würden ihm schon bei dem Begriff ‚Diagnose‘ die Haare zu Berge stehen. Er würde hier womöglich überhaupt niemanden diagnostizieren wollen. Es ist eine traditionelle Denke aus dem medizinischen System, das Behandlung eine Diagnose hat. In der klinischen Familienpsychologie aus der ich komme, wird traditionell so vorgegangen, dass derjenige, der behandlungsbedürftige Symptome in der Familie hat, die Diagnose bekommt. Wenn das ein auffälliges Kind ist, dann das Kind, wenn das ein erkrankter Elternteil ist, dann der erkrankte Elternteil. In der Familientherapie spielt die Diagnose nicht so eine Rolle, weil wir davon ausgehen, dass für eine gelingende Familientherapie die Familie das Problem als Ganzes sehen muss. Die Familientherapie ist also unabhängig vom Symptom sehr viel mehr. So sieht z. B. die Familientherapie in der Familie von beispielsweise Max seine ADHS-Erkrankung als ein Problem der ganzen Familie.
Das sogenannte Konzept des präsentierten Problems ist immer noch relevant, obgleich es schon in den 80er Jahren entstand. Dieses stammt von dem Amerikaner Lymann Wynne, das er 1988 als eine wegweisende Arbeit publiziert hat. Dieses Konzept empfinde ich als sehr geschickt, denn es kann ein Symptom sein, was die Familie zur Familientherapie bringt, aber auch etwas völlig anderes wie Erziehungsschwierigkeiten im Umgang mit den Adoleszenten oder das Abgrenzen in der Familie. Daher ist der Begriff des präsentierten Problems so passend, weil er sehr viel weiter reicht als der Symptombegriff.
Hanna Berster: Bekommt dann jede Person ihr eigenes Behandlungsprogramm oder gibt es gemeinsame Settings und Gespräche?
Prof. Dr. Silke Wiegand-Grefe: Familientherapie heißt immer, dass die ganze Familie eingebunden wird, alles andere ist Angehörigenarbeit. Wenn die Familienmitglieder als Angehörige mitkommen, weil sie z. B. diagnostische Informationen zur Behandlung von Max erfahren wollen, dann sprechen wir gar nicht von Familientherapie, sondern dann ist das Angehörigenarbeit. Familientherapie heißt auch, dass ich loyal der ganzen Familie gegenüber bin. Jedes einzelne Familienmitglied ist Gegenstand meiner Behandlungsinterventionen. Das ist ein ganz entscheidender Unterschied zwischen Angehörigenarbeit und Familientherapie.
„Familientherapie heißt immer, dass die ganze Familie eingebunden wird, alles andere ist Angehörigenarbeit.”
Hanna Berster: Was würden Sie sagen, ist der besondere Gewinn, wenn Familien als System Unterstützung bekommen?
Prof. Dr. Silke Wiegand-Grefe: Der Prozess geht sehr viel intensiver weiter als bei der Intervention eines Einzelnen. In der Einzeltherapie geht die Person aus dem Behandlungsraum in die Welt und es spielt sich in ihrem Inneren eine andere Dynamik ab. Wenn in einer Familientherapie die ganze Familie am Tisch sitzt, dann ist der Prozess viel dynamischer, interaktiver, lebendiger und intensiver. Die Familie spricht auf dem Nachhauseweg miteinander über die Behandlung, vielleicht am Wochenende zu Hause oder beim Abendbrot. Deshalb ist Familientherapie auch so hoch wirksam, weil ich intensivere Möglichkeiten in den Interventionen habe, die ganze Familie zu erreichen.
Hanna Berster: Das klingt für mich auch nachhaltiger. An welche medizinischen oder therapeutischen Felder grenzen Familienmedizin und Familienpsychologie an?
Prof. Dr. Silke Wiegand-Grefe: Hier kommen die Felder der Kinder- und der Erwachsenenpsychiatrie zusammen. Wenn ich psychisch kranke Eltern behandle, haben etwa die Hälfte derer Kinder mit hoher Wahrscheinlichkeit bereits selbst seelische Erkrankungen entwickelt. Da kommt es dem Behandlungsprozess zu Gute, wenn im Team die Erwachsenen- und die Kinderperspektiven vertreten sind. In der Familienambulanz, die ich leite, haben wir Erwachsenentherapeut*innen und Kindertherapeut*innen an Bord.
Hanna Berster: Also hat das durchaus etwas Interdisziplinäres.
Prof. Dr. Silke Wiegand-Grefe: Absolut. Wir schlagen oft auch die Brücke zur Jugendhilfe und haben z. B. im CHIMPS-NET-Projekt Träger als Kooperationspartner dabei.
Hanna Berster: Welche Rolle spielen die psychotherapeutischen Schulen und die klinischen Behandlungskonzepte bzw. Leitlinien? Denn bisher ist oft die Einzelperspektive voranging.
Prof. Dr. Silke Wiegand-Grefe: Die Schulen spielen eigentlich weniger eine Rolle, denn Familientherapie ist eine Frage des Settings und die Schulen geben eine bestimmte Richtung vor. Sie prägen natürlich die jeweiligen Familientherapeut*innen, die hier ausgebildet und sozialisiert wurden, wie ich z. B. in der Psychoanalyse. Sehr entscheidend ist der Unterschied zwischen dem Fokus des Einzelsettings und dem des Familiensettings. Aus meiner Sicht ist das Setting, in dem ich arbeite, am Ende viel entscheidender als die Schule, aus der ich komme.
„Aus meiner Sicht ist das Setting, in dem ich arbeite, am Ende viel entscheidender als die Schule, aus der ich komme.”
Hanna Berster: Welche Kostenträger*innen stützen die familienorientierte Behandlung? Oder geht das im Moment nur im Rahmen eines Forschungsprogramms wie CHIMPS-NET?
Prof. Dr. Silke Wiegand-Grefe: Für die Leser*innen, die CHIMPS-NET nicht kennen, hier eine kurze Erläuterung. Es handelt sich dabei um ein bundesweites Projekt, bei dem Kinder und Jugendliche bereits während der Behandlung ihrer Eltern in der Erwachsenenpsychiatrie auf psychische Auffälligkeiten hin untersucht und ihnen und ihrer Familie ein passendes Behandlungsangebot gemacht wird. Das zentrale Ziel ist die Verbesserung der psychischen Gesundheit und der Lebensqualität von Familien mit einem psychisch erkrankten Elternteil. Der Schwerpunkt liegt dabei auf den Kindern.
Zu Ihrer Frage: CHIMPS-NET ist ein Verbund im Rahmen des Innovationsfonds des gemeinsamen Bundesausschusses der Krankenkassen (GBA). Dort sind alle großen Krankenkassen aktiv, die uns unterstützen und mit denen wir gemeinsam Verträge entwickelt haben, um diese Intervention zukünftig finanzieren zu können. Dabei hoffen wir, dass wir mit positiven Evaluationsergebnissen diese Selektivverträge verlängern und die selektiv vertragliche Versorgung erweitern können. Aber das ist noch ein Stück des Weges.
Hanna Berster: Da ist es jedes Mal aufs Neue aufwendig, die Zusage für diese Gelder zu bekommen?
Prof. Dr. Silke Wiegand-Grefe: Ja, genau. CHIMPS-NET ist deutschlandweit an 20 Standorten vertreten. So haben wir, als wir den Verbund gegründet haben, geguckt, dass wir jedes Bundesland mit mindestens einem Standort gewinnen, was uns gut gelungen ist.
Hanna Berster: Wie ist der Stand zur Aufnahme der Beratungsformen des CHIMPS-Ansatzes in den Leistungskatalog der Krankenkassen?
Prof. Dr. Silke Wiegand-Grefe: Wir haben mit den involvierten Krankenkassen einen Selektivvertrag entwickelt, abgeschlossen und unterschrieben. Dieser Vertrag gilt für die Dauer der Projektlaufzeit bis zum 30.12.2022. Mit dem Selektivvertrag wird die Leistung genau beschrieben. Wir sind gerade dabei, ein Verlängerungsantrag zu stellen und das Projekt um ein weiteres Jahr zu verlängern. Wir hoffen, dass wir eine entsprechend positive Evaluation vorlegen können, wovon wir jetzt mal ausgehen, sodass der Selektivvertrag verlängert wird und damit in der Versorgung landet. Mit dem Leistungskatalog der Krankenversicherung hat das erst mal noch nichts zu tun, dorthin ist der Weg noch viel weiter (aber sicherlich ein Ziel, weil wir erst dann von Regelversorgung sprechen können, wenn die Leistung jeder Familie zur Verfügung steht, unabhängig davon, bei welcher Krankenkasse die Angehörigen versichert sind). Aber die selektivvertragliche Versorgung zu erweitern, worum es beim GB-A Innovationsfond geht, von dem CHIMPS-NET gefördert wird, ist ein Anfang.
Hanna Berster: Was glauben Sie, was es für Kinder von psychisch erkrankten Eltern in Zukunft in Hamburg braucht?
Prof. Dr. Silke Wiegand-Grefe: Das, was sie bei A: aufklaren tun: Fachkräfte vernetzen, aufklaren und aufklären und verschiedene Stakeholder an Bord holen. Damit meine ich auch die Politik, die ein wichtiger Stakeholder ist.
Wir müssen in Hamburg noch viel stärker mit den regional-politischen Strukturen und Fachkräften zusammenarbeiten. Das passiert noch zu wenig. Sie sind ja bereits dabei, das zu tun, zu vernetzen und interdisziplinär verschiedenen Expertisen zusammenzubringen. Vor allem müssen wir die Trennung von Medizinsystem und Jugendhilfe überbrücken und einen Weg des Zusammenarbeitens finden. Dann sind wir, glaube ich, gemeinsam auf einem guten Weg.
Hanna Berster: Da stimme ich Ihnen zu. Sie sprechen auch die Politik an, weshalb ich noch kurz auf den Koalitionsvertrag zu sprechen komme möchte. Darin verabschieden die zukünftigen Regierungsparteien: „Wir unterstützen die Kinder von psychisch, sucht- oder chronisch kranken Eltern“ (Koalitionsvertrag 2021-2025, S. 99). Was glauben Sie, wird die Bundesregierung davon umsetzen?
„(…) wir müssen die Trennung von Medizin-system und Jugendhilfe überbrücken.”
Prof. Dr. Silke Wiegand-Grefe: Ja, schauen wir mal. Wir haben ja viele aktive Verbände, die sich politisch einbringen. Zudem gibt es die Arbeitsgruppe `Kinder psychisch und suchtkranker Eltern‘, die über mehrere Jahre getagt und 19 Empfehlungen entwickelt hat. Aus der Arbeitsgruppe heraus gibt es ein Netzwerk, das weiterhin mit Verbänden arbeitet und aktiv ist, dass die 19 Empfehlungen weiter Gehör finden. Dazu zählen z. B. der AFET, der Dachverband Gemeindepsychiatrie, und die Deutsche Gesellschaft für systemische Therapie und Familientherapie. Darüber hinaus haben wir eine Stellungnahme abgeschickt mit der Bitte, das Thema auch in den Koalitionsvertrag aufzunehmen. Und jetzt gucken wir mal, was daraus gemacht wird. Wir werden auf jeden Fall hartnäckig und weiter dran bleiben. Dort, wo es vielleicht aus dem Blick gerät, müssen wir hartnäckig und penetrant sein.