Bindungsabbruch versus Kindeswohlgefährdung bei Kindern psychisch kranker Eltern
Ein familienrechtspsychologischer Blickwinkel
GRUNDIDEE
Können Kinder sicher, behütet und stabil in ihrer Ursprungsfamilie aufwachsen, stellt dies den Idealzustand dar. Diese Kinder sind dann in der Lage aufgrund sicherer Bindungserfahrungen in der frühkindlichen Entwicklung zwischen 0,6 und 3 Jahren entsprechende Arbeitsmodelle für einen funktionalen Umgang mit Bindungen und Beziehungen in der Zukunft zu entwickeln. Bowlby postulierte hierzu in seinem Buch „Bindung als sichere Basis“, dass Eltern eine „unverzichtbare soziale Funktion“ hätten (Bowlby, 2008), wobei er auf Studien verwies, welche belegen konnten, dass es einen Zusammenhang zwischen Zufriedenheit, Gesundheit und Selbstbewusstsein von Jugendlichen und der Stabilität ihrer Familien, in welchen sie aufwuchsen, bestand. Durch eine angemessene Fürsorge ermöglicht die Bindungsperson dem Kind somit ein soziales Verhalten auszubilden, welches es ihm erleichtert, angemessene und funktionale Strategien im Umgang mit positiven und negativen Situationen zu entwickeln. Abweichungen dieses Idealzustandes können unter anderem Einschränkungen in der Erziehungsfähigkeit der primären Bezugsperson/en durch psychische Erkrankungen darstellen. In solchen Fällen müssen die Auswirkungen von Bindungsabbrüchen durch Herausnahme eines Kindes gegen die Gefährdung des Kindeswohls bei Verbleib des Kindes abgewogen werden.
Beweisbeschlussfragen zur Erziehungsfähigkeit betreffen daher ebenfalls Fragen zu einer möglichen Kindeswohlgefährdung. Zentral ist hierbei aus sachverständiger Sicht, wie ein Elternteil/ die Eltern in die Lage versetzt werden können, das Kind so zu erziehen und zu betreuen, dass das Kindeswohl nicht (mehr) gefährdet ist. Zur Empfehlung, ob eine Herausnahme notwendig ist, ist zudem eine Diskussion der Risiko- und Schutzfaktoren notwendig.
Schutzfaktoren des Kindes unter anderem: sichere Bindung; hohe Intelligenz; Resilienz; soziale Kontakte und Förderungen; positive Geschwisterbeziehungen; wenig kritische Lebensereignisse; wenig Konflikte in der Familie
Risikofaktoren des Kindes unter anderem: psychische Störungen/ Erkrankungen der Eltern; unsicher vermeidende, unsicher-ambivalente oder desorganisierte Bindung; niedriger sozialökonomischer Status; mangelnde Schulbildung der Eltern; Substanzmissbrauch /-abhängigkeitder Eltern; Gewalterfahrung im Elternhaus
Die “Big Eight”
Um eine fachlich fundierte Empfehlung aus familienpsychologischer Sicht treffen zu können, ob eine Herausnahme dem Kindeswohl am besten entspricht, fließen folgende acht Fokusse ein:
1. Allgemeine Erziehungsfähigkeit der Eltern/ des Elternteils
Gibt es Einschränkungen der allgemeinen Erziehungsfähigkeit (hier: durch die psychische Erkrankung der Eltern/ des Elternteils) für Kinder dieser Altersstufe?
Zentral ist hierbei die Prognose der Auswirkungen der psychischen Erkrankung der Eltern/ des Elternteils auf das zukünftige Wohl, insbesondere im Hinblick auf eine konkrete Gefahr eines Kindes des betreffenden Alters.
2. Entwicklungsstand und Besonderheiten des Kindes
Gibt es mögliche Besonderheiten des Kindes, welche zu beachten wären, wenn es weiterhin im elterlichen Haushalt verbleiben würde?
In diesen Aspekt fließen unter anderem der aktuelle psychische und psychische Entwicklungsstand des Kindes, samt möglichen Entwicklungseinschränkungen oder -defiziten, das Sozialverhalten des Kindes, mögliche Bindungsstörungen oder Traumatisierungen ein.
3. Bindungen und Beziehungen des Kindes an die Elternteile, Geschwister und andere Verwandte
Basis dieser Einschätzungen sind unter anderem die Theorien von Bowlby und Ainsworth zu Bindung und Fürsorge. Zu bedenken bei diesem Fokus ist, dass ein Bindungsabbruch durch eine Fremdunterbringung, insbesondere in den ersten drei Lebensjahren zu einer sekundären Kindeswohlgefährdung/ hohen Belastung seitens des Kindes führen kann und dies im Kontext aller anderen Befunde bewertet werden muss.
4. Spezielle Erziehungsfähigkeit und Feinfühligkeit der Eltern/ des Elternteils für dieses Kind mit seinen Bedürfnissen
Ist das Kindeswohl tatsächlich gefährdet oder nicht?Resultierend aus den Fokussen eins bis drei ergibt sich der Blickwinkel für die Einschätzung der speziellen Erziehungsfähigkeit und Feinfühligkeit in dieser konkreten Familiensituation.
5. Soziales Netzwerk des versorgenden Elternteils
Gibt es im Umfeld der Familie soziale Ressourcen (Verwandte, ältere Geschwister der Kinder, Freunde, Nachbarn), welche die Kindeseltern privat unterstützen können, um Defizite zu reduzieren?
6. Kooperationsprognose des versorgenden Elternteils
Ist eine ausreichende Kooperationsbereitschaft und -fähigkeit vorhanden, um mögliche notwendige Hilfen aus dem Helfersystem ect. erfolgreich zu installieren/ fortzuführen?
7. Dynamik zwischen den Eltern
Gibt es Streit oder Gewalt zwischen den Eltern? Wie gestaltet sich die Paarebene und welche Umgangsoptionen sind sinnvoll?
Dieser Fokus hilft dabei mögliche zusätzliche Belastungsfaktoren der Kinder (vor allem i.S. von Loyalitätskonflikten) zu identifizieren und eventuell zu verringern.
8. Jugendamt/ Erziehungshilfen
Welche Hilfen können im vorliegenden Fall realistisch und wirksam sein?
Ist bei Abwägung der oben genannten Aspekte zur Wahrung des Kindeswohls eine Herausnahme/ Inobhutnahme des Kindes zu empfehlen, stellt sich gleichzeitig die Frage einer möglichen Umgangsregelung.
Mögliche Gründe einen Umgang (eventuell zeitweise) auszuschließen:
psychotische Anteile der Erkrankung des Elternteils/ der Eltern führen beim Kind zu massiven Verängstigungen oder einer erheblichen Gefährdung des Kindes bei Umgangskontakten
das Kind selbst weigert sich massiv, konstant und mit erlebnisfundierten Begründungen gegen einen Kontakt
Gewalt gegen das Kind, vereinzelt massiv oder häufiger
Unzuverlässige Wahrnehmung der Umgangskontakte ist nicht korrigierbar und führen beim Kind zu einer massiven Belastung
nicht korrigierbarer Substanzmissbrauch mit Auswirkungen auf die Umgangskontakte
Nicht sicher ausschließbare Eigen- oder Fremdgefährdung
Umgangsgestaltung derart, dass Gefahren für das Kind entstehen
Gefahr der Retraumatisierung
ABER: Es muss immer diskutiert werden, ob die Nachteile eines Kontakt- und Bindungsabbruches der Entscheidung standhalten können.
WICHTIG: Nach maximal zwei Jahren sollte erneut entschieden werden, ob die Entscheidung dann noch Bestand hat.
Mögliche Gründe für einen Umgang trotz Schwierigkeiten und Belastungen:
Eltern als Ressource für die Entwicklung des Kindes
positive Entwicklungschancen für die Bindung/ Beziehung zwischen Eltern und Kind
positive Auswirkungen einer realen Beziehungsgestaltung
Entlastung der Pflegefamilie
Aufarbeitung von Fehlern/ Konflikten/ Traumata mit dem betreffenden Elternteil/ Umgangsberechtigten möglich
Überlegungen zum Umgang:
Ist bei Abwägung der oben genannten Aspekte zur Wahrung des Kindeswohls eine Herausnahme/ Inobhutnahme des Kindes zu empfehlen, stellt sich gleichzeitig die Frage
einer möglichen Umgangsregelung. Mögliche Gründe einen Umgang (eventuell zeitweise)
auszuschließen:psychotische Anteile der Erkrankung des Elternteils/
der Eltern führen beim Kind zu massiven Verängstigungen oder einer erheblichen Gefährdung des Kindes bei Umgangskontakten das Kind selbst weigert sich massiv, konstant und mit erlebnisfundierten
Begründungen gegen einen KontaktGewalt gegen das Kind, vereinzelt massiv oder häufiger
Unzuverlässige Wahrnehmung der Umgangskontakte ist nicht korrigierbar und führen beim Kind zu einer massiven Belastung
nicht korrigierbarer Substanzmissbrauch mit Auswirkungen auf die Umgangskontakte
Nicht sicher ausschließbare Eigen- oder Fremdgefährdung
Umgangsgestaltung derart, dass Gefahren für das Kind entstehen
Gefahr der Retraumatisierung
ABER: Es muss immer diskutiert werden, ob die Nachteile eines Kontakt- und Bindungsabbruches der Entscheidung
standhalten können.
WICHTIG: Nach maximal zwei Jahren sollte erneut entschieden werden, ob die Entscheidung dann noch Bestand
hat.
Mögliche Gründe für einen Umgang trotz Schwierigkeiten und Belastungen:
- Eltern als Ressource für die Entwicklung des Kindes
- positive Entwicklungschancen für die Bindung/ Beziehung zwischen Eltern und Kind
- positive Auswirkungen einer realen Beziehungsgestaltung
- Entlastung der Pflegefamilie
- Aufarbeitung von Fehlern/ Konflikten/ Traumata mit dem betreffenden Elternteil/ Umgangsberechtigten
sind möglich
Daniela Wiebigke
Dipl. Psychologin, Sachverständige Familienrecht
Rechtspsychologin i.W., Psychodiagnostische Beratungspraxis Hamburg
Literaturangaben
Grossmann und Grossmann (2015): Bindung und menschliche Entwicklung: John Bowlby, Mary Ainsworth und die Grundlagen der Bindungstheorie. Fachbuch Klett-Cotta: München.
Keller, Heidi (2019): Mythos Bindungstheorie. Verlag: das Netz.
Quellenangaben
- Big Eight: nach E. Heyken, Psychodiagnostische Beratungspraxis Hamburg Wandsbek (2020).Grossmann und Grossmann (2015): Bindung und menschliche Entwicklung:
John Bowlby, Mary Ainsworth und die Grundlagen der Bindungstheorie.
Fachbuch Klett-Cotta: München. - Heyken, E, (2020): Psychodiagnostische Beratungspraxis Hamburg
Wandsbek - Keller, Heidi (2019): Mythos Bindungstheorie. Verlag: das Netz