Ausgrenzung ist wie Denken ohne Wissen

Oft macht uns gerade das Angst, was wir nicht voneinander wissen

Gastbeitrag von Farrin Rezai

In meinem Arbeitsalltag als systemische Therapeutin stehe ich immer wieder im Dialog mit Menschen, die einen Migrationshintergrund haben. Aus meiner Erfahrung weiß ich auch, dass sich hinter dem Wort „Migration“ teilweise einschneidende und prägende Erlebnisse verbergen, die viele der Betroffenen ein Leben lang begleiten. Und zwar in einer oft auch besonderen Form – nämlich als Trauma. Aus meiner beruflichen Erfahrung heraus würde ich dieses Trauma als eine Art Schatten beschreiben, der die Betroffenen auch Jahre später noch in ihren Alltag folgt. Ein für Außenstehende unsichtbarer Begleiter, der sich aber immer wieder bemerkbar macht und sich den Betroffenen zeigt, während sie ihn am liebsten abschütteln oder zumindest irgendwie unter Kontrolle bringen würden. Ein Trauma ist etwas, das Menschen begleitet, prägt und verändert, aber andererseits ihrer Vergangenheit auch ein Gesicht gibt. Ein Trauma bedeutet nämlich Konfrontation im Sinne einer Auseinandersetzung mit dem Durchlebten.

“Ein Trauma ist etwas, das Menschen begleitet, prägt und verändert, aber andererseits ihrer Vergangenheit auch ein Gesicht gibt.”

Den meisten dürften hierzulande die Themen Flucht und Migration nur aus den Medien bekannt sein und dementsprechend auch die Vorstellungen von dem, was Flucht bedeutet, vom medialen Umgang mit dem Thema geprägt sein. Flucht und Migration sind aber gesellschaftliche Phänomene und für die Geflüchteten häufig auch Auslöser eines Traumas. Je öfter man in den Medien bestimmte Begrifflichkeiten wie Flucht und Migration hört, desto eher tritt ein Gewöhnungseffekt und manchmal auch eine Art Abstumpfung ein. Das kann dazu führen, dass nicht mehr die erforderliche Sensibilität und das nötige Einfühlungsvermögen aufgebracht werden, um überhaupt verstehen zu können, wie Flucht und Migration die Betroffenen verändern und formen. 

Flucht bedeutet nicht nur einen Ortswechsel, sondern einen abrupten, unvorbereiteten Verlust des vertrauten Umfeldes, der sozialen Strukturen, der gesellschaftlichen Identität und in vielen Fällen auch den Verlust der Heimat. Flucht ist immer ein Ausnahmezustand, denn sie erfolgt in der Regel aus einer Notlage heraus. Wenn Menschen flüchten müssen, geht das einher mit Hilflosigkeit, Einsamkeit und Orientierungslosigkeit. Denn Flucht findet oft spontan, also unvorbereitet statt. Für Geflüchtete geht es nicht um Besitzstände, sondern in den meisten Fällen um ein Leben ohne Krieg und Gewalt. Häufig werden Geflüchtete aus ihren sozialen Strukturen gerissen und sind dann auf sich allein gestellt.

Gleichzeitig stoßen sie im Zufluchtsland oft auf hohe Erwartungshaltungen. Wer viel zurücklassen musste, soll dann auch noch eine ganze Menge mitbringen, zum Beispiel die Fähigkeit, alleine zurechtzukommen und sich im neuen kulturellen Umfeld zurechtzufinden. Das aber ist natürlich ein Gewöhnungsprozess und auch nicht gerade einfach, wenn die Betroffenen ihre Flucht und die Umstände, die dazu führten, im Rahmen eines Traumas praktisch immer wieder durchleben.

„Wer viel zurücklassen musste, soll dann auch noch eine ganze Menge mitbringen (...)“

Wer aus der Heimat flüchtet und in einem zunächst fremden Land ankommt, steht – bildlich gesprochen – zwischen zwei Türen, die auch noch verschlossen sind. Da aufgrund der Fluchtumstände eine Rückkehr in das Herkunftsland oft ausgeschlossen ist, steht die zweite Tür für die Schwierigkeiten, auf die Geflüchtete treffen, wenn sie an einem Ziel ankommen. Dort gibt es in der Regel keinen, der sie erwartet hat und ihnen hilft. Die Hindernisse und Schwierigkeiten, auf die sie im Ankunftsland stoßen, stellen sich dann wie eine verschlossene Tür dar. Wer sich schon einmal ausgesperrt hat, weiß, wie unangenehm schon ein kurzer Moment vor einer verschlossenen Tür ist und wie hilflos man sich dann fühlt.

Für die Betroffenen ist es nach meiner beruflichen Erfahrung eine Hilfe, wenn sie in ihrer Situation wahrgenommen und verstanden werden. Die Hilfsangebote im Rahmen der systemischen Therapie führen weiter in die Suche nach persönlichen Ressourcen. So hat jemand, der sich selbst aus einer Notsituation befreien konnte und die Flucht in ein fremdes, oft entferntes Land geschafft hat, auch den Mut bewiesen, an einem anderen Ort noch einmal neu anzufangen. 

Die systemische Therapie kann sich vor diesem Hintergrund als zuverlässiger Begleiter und Hilfsakteur erweisen. Sie hilft bei der Aufarbeitung und Bewältigung des Erlebten, das zu einem Trauma führte. Sie kann auch helfen, den Mut aufzubringen, die Migration als Chance zu sehen – auch gesellschaftlich. Wo Unterschiede sind, bestehen auch Möglichkeiten, aus Unterschieden voneinander zu lernen und sich im Dialog und informellen Austausch zu entfalten. Oft macht uns gerade das Angst, was wir voneinander nicht wissen und bringt uns das näher, was wir voneinander lernen können.

“Wo Unterschiede sind, bestehen auch Möglichkeiten, aus Unterschieden voneinander zu lernen (…)”

Ich arbeite in einer Einrichtung der ambulanten Sozialpsychiatrie (ASP). Zwar biete ich keine direkte Therapie an, aber ich arbeite therapeutisch. Ich stelle dabei immer wieder fest, dass viele Menschen im Rahmen meiner Sozialberatung einen Migrationshintergrund haben. Da ich selbst auch einen Migrationshintergrund habe und mich mit vielen Klient*innen in ihrer Muttersprache verständigen kann, sehe ich, wie förderlich das für die Schaffung einer Vertrauensbasis ist. Ich erlebe oft, dass sich Menschen aufgrund ihrer seelischen „Verletzungen“ schwer tun, Vertrauen aufzubauen. Daher ist es nach meiner Feststellung besonders wichtig, den betroffenen Menschen eine zuverlässige Ansprechpartnerin zu sein, die sie dabei unterstützt, ihre Unsicherheiten und Ängste zu überwinden, aber auch durch stabilisierende Gespräche und Methoden, ihnen ihre Ressourcen zu vergegenwärtigen. Das ist eine Art Hilfe zur Selbsthilfe. So können die Betroffenen ein Selbstwertgefühl entwickeln. Das ist eine wichtige Voraussetzung für die zwischenmenschliche Begegnung und Interaktion.

Wir sollten achtsam miteinander umgehen und uns auf Augenhöhe begegnen. Es gibt kein gegenseitiges Verständnis ohne Kenntnis voneinander. Eine unvoreingenommene Kommunikation auf Augenhöhe ist der Schlüssel, der die verschlossene Tür öffnen kann. Denn Ausgrenzung ist wie Denken ohne Wissen.

Ein Beitrag von Farrin Rezai

Quellenangaben

Literaturempfehlungen Trauma und Migration 

  • Reddemann, Louise, Dehner, Rau: Trauma verstehen, bearbeiten, überwinden. Ein Übungsbuch für Körper und
    Seele. 2020
  • Reddemann, Louise; Wöller, Wolfgang: Komplexe Postraumatische Belastungsstörungen. Hogrefe. 2019. Korritko, Alexander & Pleyer, Karl Heinz: Traumatischer Stress in der Familie. Systemtherapeutische Lösungswege. Vandenhoeck & Ruprecht. 2010.
  • Krüger, Andreas: Erste Hilfe für traumatisierte Kinder. Patmos Verlag. 2017.
  • Chizari, Puria: Psychische Erkrankungen bei Menschen mit Migrationshintergrund. IN: Die Kinderschutzzentren: Gelingende Hilfen. Köln. S. 181-186. 2019.
  • Güven, Memet: Psychische Erkrankungen in Migrationsfamilien. Kulturelle Hintergründe und Hilfemöglichkeiten für Betroffene und ihre Familien. IN: Die Kinderschutzzentren: Ein verrücktes Leben. Köln. S. 195-208. 2016.
  • Rezai, Farrin, Kallies, Heidi: Migration und Interkulturalität in der Systemischen Beratung. Der Verlag. 2020.
  • Zindler, Areej: Psychisch erkrankte Kinder in geflüchteten Familien. Welche Hilfen brauchen die Kinder? IN:Frühe Kindheit 06/20. S. 24-27. 2020.
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