Auch Jugendliche wollen gesehen werden

Juliane Tausch

Jugendliche, die einen psychisch stark belasteten oder erkrankten Elternteil haben und mit diesem aufwachsen, sind nicht erst im Jugendalter, sondern schon seit vielen Jahren mit der Herausforderung konfrontiert, auch Aufmerksamkeit für sich selbst zu schaffen. Sie entwickeln verschiedene Bewältigungsmethoden, die mehr oder weniger hilfreich sind, um in Zeiten der Identitätsentwicklung und wachsender Autonomiebestrebungen den Loyalitätskonflikt handhabbar zu machen.

Einführung

Jugendliche als Angehörige psychisch erkrankter Eltern stehen bisher wenig im Fokus von differenzierter Betrachtung, es gibt wenig Unterstützungsangebote und Präventionsmaßnahmen für sie. Doch auch wenn sie schon „die Großen“ sind, sich lieber mit ihren Peers austauschen und in Ruhe gelassen werden wollen, darf das keine Einladung sein zu glauben: „Sie schaffen das schon“. Im Gegenteil, sie müssen in den Fokus. Denn in dieser Lebensphase stehen Entwicklungsschritte an, die wegweisend sind, um ins Leben zu gehen und einen Start zu machen, der in eine selbständige, möglichst selbstbestimme, Lebensführung mündet.

Lebensalltag von jungen Menschen

Die Lebenswelt von Jugendlichen ist im konkreten Alltag durchgetaktet. Durch die zeitliche Einteilung in Schule oder Ausbildung und Freizeit, ergibt sich ein Pflicht- und ein Freizeitteil. 

Schule, die Jugendliche ähnlich einer Vollzeitanstellung täglich bindet, kann für manche ein Ort der Sicherheit sein, Rhythmus geben und Verlässlichkeit bieten. Für manche ist es ein Ort der Leistung, der Bestätigung, des Wettbewerbs und der Erfolge. Wieder andere finden keinen guten Platz, sprengen den Rahmen, sind abwesend, erleben Mobbing und ausgrenzende Gruppenstrukturen oder finden keinen Anschluss an die Lernthemen. Freizeit wird zusätzlich verknappt durch Hausaufgaben und Klausur- und Prüfungsvorbereiten, Förder- oder Nachhilfestunden. Es schließen sich Sport- und Hobbyzeiten in Vereinen an, die oft terminiert sind und ebenfalls mit kontinuierlicher Anwesenheit verbunden sind. 

Die Welt der Erwachsenen (und auch das Recht auf Bildung) orientiert junge Menschen auf die Erlangung des Schulabschlusses, eine berufliche Weichenstellung und den Wechsel vom Schul- in einen Ausbildungs- oder Studienalltag. Neue Menschen, neue Strukturen, mehr Selbständigkeit, Ungewohntes, Spannendes und Angstauslösendes. Eine Welt, die oft verbunden ist mit „müssen“ oder „sollen“ und Anpassung verlangt.

Dem gegenüber steht ein selbstbestimmter, ausdrücklich eingeforderter Bereich von Erwachsenen- sowie anforderungsfreier Zeit und Räumen zum Chillen, Abhängen mit Kumpels, „unbestimmtem“ Beieinandersein, Party, Musik, Ausschlafen, experimentellem oder auch umfangreicherem Konsum von Gras oder Alkohol, Leute kennenlernen, Tag und Nacht tauschen, Youtube, TikTok, Infuencern…. 

Alleine diese zwei Welten auszubalancieren ist eine große Herausforderung, die junge Leute wie Eltern stresst, die ausgehandelt wird und gelegentlich nervt oder zu schärferen Konflikten führt. Erwachsene geben darin Orientierung, können Wegbeleiter sein, sind teilweise aber auch Bestimmer, Grenzensetzer und unfreiwillige Begleiter. 

Entwicklungssaufgaben in der Adoleszenz 

Neben der alltäglichen Betrachtung lässt sich „Jugend“ auch aus entwicklungspsychologischer Perspektive beleuchten. Die Entwicklungsphase des Jugendalters ist die prägende Zeit für die Identitätsentwicklung. Mit ihrem Pendeln zwischen Selbsterfahrung (Autonomie) und Orientierung finden (der Suche nach Sicherheit) ist sie eine verletzliche Phase. Hier wird der Bezug zu den Eltern und der Peergroup neu verhandelt. All das ist geprägt von Unsicherheiten, Zweifeln und Mut bis Übermut. Die Anforderungen von Schule und Berufsorientierung steigen (Kapella 2017). 

Jugend und Pubertät sind dafür da, Neues zu wagen, zu testen und Herkömmliches zu hinterfragen! Es muss zwangsläufig zu Turbulenzen im Familiensystem kommen, denn der Loyalitätskonflikt wird größer. Das Konzept der Entwicklungsaufgaben ist hilfreich, um einige Anhaltspunkte zu markieren, was für Jugendlichen (eigentlich) dran wäre, was die Themen und Anforderungen sind – selbst gewählt oder durch die Gesellschaft an sie herangetragen.

Hurrelmann (2015)

 

Dreher u. Dreher (1985)Fend (2005)
Körper

Die Entwicklung der Körper- und Geschlechtsidentität

Veränderung des eigenen Körpers und Aussehens akzeptieren

Den Körper bewohnen lernen; Umgang mit Sexualität lernen

Beziehung zu den Eltern

Die emotionale Ablösung von den Eltern

Sich von den Eltern loslösen, d.h. von den Eltern unabhängig werden

Umbau der sozialen Beziehungen, z.B. zu den Eltern

Freundschaften und Partnerschaften

Die Fähigkeit der Bindung, um die gesellschaftliche Mitgliedsrolle eines Familiengründers zu übernehmen

Einen Freundeskreis aufbauen, d.h. zu Altersgenossen beiderlei Geschlechts neue, tiefere Beziehungen herstellen; Engere Beziehung zu einem Freund bzw. einer Freundin aufnehmen; Vorstellungen entwickeln, wie man die eigene zukünftige Familie bzw. Partnerschaft gestalten möchte

Umgang mit Mädchen bzw. Jungen; Umbau der sozialen Beziehungen (u.a. Beziehungen zu Gleichaltrigen aufbauen)

Beruf

„Qualifizieren“: Die Entwicklung der intellektuellen und sozialen Kompetenzen für Leistungs- und Sozialanforderungen sowie der Bildung und Qualifizierung, um die gesellschaftliche Mitgliedsrolle des Berufstätigen zu übernehmen

Sich über Ausbildung und Beruf Gedanken machen; Überlegungen, was man werden will und was man dafür können bzw. lernen muss

Umgang mit Schule und Berufswahl (u.a. Selbstkontrolle einüben, sich Ziele setzen, über Beruf und Studium nachdenken)

Rolle

Die Entwicklung der Körper- und Geschlechtsidentität

Sich das Verhalten aneignen das in unserer Gesellschaft zur Rolle eines Mannes bzw. zur Rolle einer Frau gehört

 

Selbst und Persönlichkeit

 

Sich selbst kennenlernen und wissen, wie andere einen sehen, d.h. Klarheit über sich selbst gewinnen

Identitäts-Arbeit (u.a. seine Talente und Stärken leben und seine Schwächen akzeptieren lernen)

Werte

„Partizipieren“: die Entwicklung eines individuellen Werte- und Normensystems und der Fähigkeiten zur politischen Partizipation, um die gesellschaftliche Mitgliedsrolle des Bürgers zu übernehmen

Eine eigene Weltanschauung entwickeln: sich darüber klar werden, welche Werte man vertritt und an welchen Prinzipien man das eigene Handeln ausrichten will

 

 

 

 

 

Lebenswelt als junger Angehöriger eines psychisch erkrankten Elternteils

Doch was ist, wenn das alles nicht seinen „normalen“ Gang gehen kann, wenn Eltern nicht zur Verfügung stehen, wenn ihre eigenen, krankheitsbedingten Bedürfnisse weitaus mehr im Vordergrund stehen, die Anliegen der großen Kinder nicht gesehen werden, die Kraft Wegbegleiter und Orientierungspunkt zu sein nicht reicht, wenn die Autonomiebestrebungen zur Bedrohung werden. Oft hat eine Rollenumkehr stattgefunden und Jugendliche tragen Elternverantwortung – für ihren Alltag, für jüngere Geschwister, für Haushalt, Geheimniswahrung und Versorgung des erkrankten Elternteils. Die eigenen Bedürfnisse und Empfindungen sind in den Hintergrund gerückt, die Muster zur Wahrung der familiären Stabilität etabliert und das eigene Erklärungsmuster gefunden. Elterliche Problemlösestrategien sind übernommen und der soziale Rückzug angetreten worden. Welche Ideen haben Jugendliche und Jungerwachsene wie ihr Leben sich entwickeln wird, wo ihr Platz in der Welt sein kann und wie sie das mit ihrer Familie „verhandelt“ bekommen? Wieviel Egoismus darf sein? Wie hart die Diskussion und Grenzziehung? Und wie groß werden dann die Schuldgefühle, wie klein der Glaube an Selbstwirksamkeit und die Verfügbarkeit von ideellen und materiellen Ressourcen, Träume zu haben und ihnen zu folgen? Erwachsen werden heißt auch haltende Strukturen zu verlassen und sich eine neue, selbstgewählte, Normalität schaffen zu können. 

Belastungen und Herausforderungen

Das Aufwachsen im Kontext der elterlichen psychischen Erkrankung ist mit vielfältigen Belastungen verbunden. Mit der altersspezifischen Betrachtung von Herausforderung gibt die qualitative Befragung von Jugendlichen (Habers, Stelling und Jungbauer 2016) konkrete Hinweise aus deren eigener Perspektive.

In der Studie von Habers und Kolleg*innen (2016) schildern fast alle Befragten Einschränkungen, Probleme und seelische Belastungen im Zusammenhang mit der elterlichen Erkrankung:

  • Die Stressbelastung wird besonders hoch, wenn sich akute Krankheitsphasen und Krisen einstellen, das heißt eine ausgeprägtere Symptomatik vorliegt, die auch mit mehr elterlichen Kompetenzeinschränkungen verbunden ist. Dazu gehören:
    • Ängste
    • Hilflosigkeit
    • Überforderungsgefühle
    • Sorgen, um die familiale Situation und um den Elternteil

In den stabileren Phasen des Elternteils sinkt das eigene Stresserleben.

  • Bei einem Aufenthalt des Elternteils in der Psychiatrie werden als Belastungen benannt:
    • Von Klinikmitarbeiter*innen ignoriert und allein gelassen zu werden
    • Als Ansprechpartner*in (Angehöriger) nicht wahrgenommen zu werden
  • Stigmatisierungserfahrungen oder Befürchtungen, dass diese eintreten, werden von Einzelnen als sehr belastend wahrgenommen. 
    • Daraus entstehen Vermeidung z.B. andere Jugendliche mit nach Hause zu nehmen, vom Wochenende zu erzählen oder in „peinlichen“ Situationen mit ihren Eltern gesehen zu werden und in Erklärungsnot zu geraten
    • Ablehnung von Beratungsangeboten, weil sie sich selbst dann als „Opfer“ erleben und nicht etikettiert sein wollen
    • Vorhersehung von Ausgrenzung und Abwertung durch andere Jugendliche, weil eigene Wissensdefizite und Vorurteile zu psychisch erkrankten Menschen auch bei ihnen unterstellt werden. 
  • Verantwortung für Haushalt und Kindererziehung (von jüngeren Geschwistern), besonders dann, wenn der zweite Elternteil in der Wohnung nicht zur Verfügung steht, weil er viel arbeitet, selbst belastet ist oder die Eltern getrennt sind.
  • Die jungen Menschen beschreiben auf der Beziehungsebene sei es immer wieder schwer zu verstehen, dass das Verhalten des Elternteils krankheitsbedingt ist und nicht eine Laune oder Absicht. Hier sind stetige Beobachtungen und Rückversicherungen nötig, die viel Energie benötigen.
  • Wenn sich die Persönlichkeit von Mutter oder Vater dauerhaft negativ verändert, die Krisen länger und größer werden und die positiv gelingenden und liebenswerten Begegnungen weniger werden, sind Jugendliche mit starken Emotionen wie Hass, Wut, Mitleid oder Ohnmacht konfrontiert.

Es kann zusammenfassend gesagt werden, dass der tägliche Alltag mit einem psychisch erkrankten Elternteil viel Aufmerksamkeit und Kraft braucht, die nicht für die eigenen Lebensthemen nutzbar wird. Spontanität, Lustorientierung, sich hängen lassen und die Orientierung zu den Peers müssen schwer errungen werden. Diese Aktivierung der Autonomiebestrebungen wird Konflikte auslösen, die allein schwer zu halten sind. Es entsteht immer wieder ein Loyalitätskonflikt, weil die enge Bindung an das Familiensystem in Frage gestellt wird. Ob Eltern dafür Raum geben können, ihre eigene Stresstoleranz ausreicht oder eine Entwicklung zu einer altersgerechten Beziehungsgestaltung zum Jugendlichen möglich wird, hängt sehr von den elterlichen und familialen Ressourcen und Schutzfaktoren ab. 

Im Kontext der familialen Belastung durch die psychische Erkrankung tritt dies allerdings zurück bzw. darf sich nicht entfalten, denn die Autonomiebestrebungen lösen Irritationen in der geübten familialen Struktur und Deutung, in Rollen und Freiheitsgraden aus. Die altersgerechten Bestrebungen der Jugendlichen können damit auch zu heftigen Verunsicherungen bei den weiteren Familienmitgliedern führen, besonders beim erkrankten Elternteil, was auch zu einer Verstärkung der Symptomatik führen kann.

Bewältigung und Coping

Jugendliche stehen unter enormem Druck, diese inneren Spannungen ausloten zu müssen. Wie gut ihnen das gelingt, hängt von individuellen Risiko- und Schutzfaktoren ab. Aber auch ganz deutlich davon, wann und wie viel Unterstützung die Familie in Bezug auf die elterliche Erkrankung in den Jahren davor schon bekommen hat. Es ist immer noch Zufall, ob Kinder Hilfe erhalten und Eltern in ihrer Belastung gesehen werden (Becker in Heintze 2020). Oft passiert gar nichts. Damit, wie es vielfältig vorkommt, nicht erst später in der eigenen Therapie die psychische Belastung im Herkunftssystem aufgearbeitet wird, bedarf es frühzeitiger Ansprache und Aufklärung. (Unger in A: aufklaren 2021).

Die Anpassungsleistungen von Jugendlichen sind sehr verschieden und knüpfen an in den Vorjahren gemachten Erfahrungen an: 

sich einordnen, Rücksicht nehmen, für sich selbst sorgen, das Geheimnis bewahren, Eltern ersetzen, Isolation suchen, Außenkontakte meiden, Stress vermeiden, Erstarrung, eigene Gefühle reduzieren, den eigenen Erfolg in Abrede stellen, fehlende Zuversicht auf das Gelingen, Prüfen und Skepsis bei Beziehungsangeboten, Sorgen, Grübeln, ….

Manch ein Jugendlicher hat schon aufgehört, an sich zu glauben, vermeidet jegliche Konfrontation, kompensiert die Einsamkeit mit Alkohol oder Internetkonsum. Einige Betroffene begnügen sich mit „zu Hause sein“, zweifeln an sich und machen sich Sorgen, selbst zu erkranken. Andere, die „Angepassten“, sind fleißig in der Schule, erledigen den Haushalt, sorgen für ihre Eltern und sind am Ende des Tages zu erschöpft, um sich noch um sich zu kümmern, sich Freiheiten zu erobern oder Neuland zu erkunden (Lenz 2014).

Die in vorgenannter Studie interviewten Jugendlichen erleben bei der Bewältigung gleichaltrige Bezugspersonen, insbesondere Freund*innen, als wichtige Ressource. Gespräche mit der Peergroup werden als Entlastung und emotionale Unterstützung erlebt. Sie beschreiben von sich auch, „das Beste aus der Situation zu machen“, denn oftmals sind sie vertraute mit dem Auf und Ab im Familienalltag (Habers et al. 2016).

Als besondere wichtig werden kurzfristige Erleichterungen formuliert wie Musik hören, Freunde treffen, Relaxen, Sport machen, abhängen – also alterstypische, ganz „normale“ jugendbezogene Aktivitäten, die ohne Erwachsene oder Institutionen und mit Selbstbestimmung gestaltet werden können. Es soll so normal wie möglich sein. Orte, die eine besondere Markierung „für Kinder psychisch erkrankter Eltern“ haben werden eher als stigmatisierend erlebt und das Gefühl des „Opfers“ geweckt (Habers et al. 2016). Gerade in der Wahl alltäglicher Orte und Beschäftigungen liegt der Gewinn an Selbstbewusstsein und das Gefühl „gut mit der Sache umgehen zu können“. Es geht hier mehr um Distanz zum Thema als um Auseinandersetzung, die als stärkend formuliert wird. 

Hinsichtlich der eigenen Idee für die Zukunft ist die Frage nach Verselbständigung und Berufsorientierung relevant. 

Der Wunsch nach räumlicher Trennung von den Eltern wird sehr wichtig und sehr ambivalent beschrieben. Das Gefühl „gebraucht zu werden“, den Elternteil und jüngere Geschwister unversorgt zu wissen lässt viele zögern, ihren eigenen Hausstand zu gründen (Habers et al. 2016). Gleichzeitig braucht es für den Auszug auch Unterstützung wie Ermutigung, Know How, Geld, praktische Hilfe. Diese Ressourcen stehen in vielen Haushalten jungen Menschen nicht zur Verfügung, wenn ihre Eltern durch vielfältige Probleme belastet sind. Darüber hinaus bedeutet der Auszug einer Person auch die kritische Nachfrage der Agentur für Arbeit zur angemessenen Wohnungsgröße für die Verbleibenden und eine Reduzierung des Geldes für die Eltern. Raum und Geld für sich zu beanspruchen ist eine große Autonomiefrage, die auch mit einer Irritation der Eltern einhergehen kann und, gerade da wo ALG II bezogen wird, zu existenziellen Fragen des Herkunftssystems führt. Die Frage der Schuld steht dann wieder im Raum und belastet die jungen Leute. (Gatermann in A: aufklaren 2022).

Bewältigung und Integration des Familienthemas zeigt sich auch in den Wünschen zur Berufswahl. Die interviewten jungen Leute wollen ihre Erfahrung im Umgang mit psychischen Erkrankungen und ihre Bewältigungskompetenz gern in ihrer Berufswahl integrieren (Habers et al. 2016). Das ist das, was ihnen nah ist, worin Vertrauen besteht und Ausdruck von Selbstkompetenz ist – „Hier bin ich gut.“

Hilfe – und Unterstützungsangebote

Wie können Jugendliche und junge Erwachsene unterstützt werden, damit es für sie annehmbar ist und sie in ihren Entwicklungsaufgaben erfolgreich sein können?

Frühzeitige Hilfen - Breits im Kindesalter ist Hilfe erforderlich. Das kann eine gute Grundlage sein, Risikofaktoren frühzeitig zu reduzieren und Ressourcen zu wecken.

Lebensweltenbezug und Normalisierung - Je spezieller und konstruierter das Angebot ist, desto stigmatisierender wird es wahrgenommen. Zum einen sind ganz normale Jugendaktivitäten nach Aussage von Jugendlichen die beste Maßnahme. Zum anderen müssen sie nah an ihren Lebenswelten sein und damit anschlussfähig an ihren Alltag. Damit ist gemeint

  • Bezugspersonen an den Orten Schule und Ausbildung, die zum Thema geschult werden
  • „Öffnungszeiten“ und Erreichbarkeit außerhalb der Schulzeit, an Wochenenden, Feiertagen, spät abends oder nachts
  • Austausch mit anderen Jugendlichen, Peerberatung
  • Digitale Angebote wie Onlineberatung, Apps, Websites, Youtube, TikTok und Instagram
  • Eine Person mitbringen; zu wichtigen und verunsichernden Terminen ganz selbstverständlich eine Freundin / einen Freund mitbringen können
  • Alles, was Spaß, Gemeinschaft, Kreativität und Leichtigkeit schafft

Dauerhafte „Einladung“ sich zu melden, wiederholte Angebote - Nicht die erste Beratungseinheit zündet und schafft Vertrauen. Jugendliche schnuppern und testen. Das erste Zulassen von ICH-Bezug kann große Verunsicherungen auslösen und die angebotenen Unterstützungsmöglichkeiten können überfordern. Es wäre schön, wenn man wiederkommen kann, ohne sich erklären zu müssen und nach einiger Zeit sogar die gleiche Ansprechperson wieder treffen kann. Helfer*innen die freundlich beharrlich ihre Angebote darbieten, senden die Botschaft: Mir ist wichtig, dass Du dich damit beschäftigst. Mit mir kannst Du dieses Thema besprechen.

Als Angehörige gesehen werden - Kinder und Jugendliche sind auch Angehörige. Sie haben ein Recht auf Information und Beratungsgespräche als Angehörige, besonders dann, wenn ihre Not am größten ist, sie Orientierung brauchen und sich um ihre Eltern besonders sorgen (Habers et al. 2016). In Krisen dürfen sie nicht übersehen werden und die Verantwortung zur Selbstversorgung und Geschwisterbetreuung selbstverständlichen überlassen bekommen. In Krisen brauchen sie Beteiligung und Entlastung. Dafür muss vorab gesorgt werden. Die umstehenden Erwachsenen tragen dafür die Verantwortung.

Recht auf Beratung - Mit der Verabschiedung des Kinder- und Jugendstärkungsgesetzes 2021 haben junge Menschen ein Anspruch auf Beratung, wenn es mit den Eltern „schwierig“ ist - unabhängig von einer Notlage. Leicht zugängliche Beratungsmöglichkeiten müssen noch weiter ausgebaut und kommuniziert werden. In den inzwischen weiter ausgebauten Ombundsstellen der Jugendhilfe ist auch ein wichtiger Platz, Unterstützung zu bekommen wenn die eigene Perspektive im Rahmen von Jugendhilfe nicht zufriedenstellend gesehen wird und Jugendliche andere Vorstellungen für ihre Unterstützung haben (Beckmann, Lohse 2021).

Echte Beziehungsangebote - Unabhängig von Professionen, Zuständigkeiten und Hilfen brauche junge Menschen Bezugspersonen, die sie nehmen wie sie sind, mit ihnen aushalten, zuhören, Mut machen, einen ruhigen geschützten Ort bieten, verlässlich sind und Zeit haben.

Konkrete Hilfen – Dann, wenn es dauerhaft Unterstützung braucht, Entwicklung gezielt gefördert werden muss, erste eigene Krankheitssymptome auftreten und Behandlung erforderlich ist, gibt es vielfältige Möglichkeiten (Lenz 2014, Schrappe 2018):

  • therapeutische Hilfe beim Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeut*in, ggf. auch Psychiater*in; kann ab 15 Jahren ohne das Wissen der Eltern beantragt werden.
  • Peerberatung, Onlineberatung für Jugendliche
  • Selbsthilfe
  • Systemische Familientherapie, Familiengespräche
  • Erziehungsbeistandschaft
  • Wohnen außerhalb der Herkunftsfamilie

Jugendliche mit einem psychisch erkrankten Elternteil müssen gesehen und gestärkt werden. Ihr Autonomieprozess und ihre Verselbständigung stehen unter sehr erschwerten Bedingungen. Sie sollten mit diesen Konflikten nicht allein sein müssen. Ein gelingende Verselbständigung würde die Chance erhöhen, einen Schritt aus der Tradierung der psychischen Erkrankung in der Familie zumachen.

Juliane Tausch

M.A. Klinische Sozialarbeit, Kinderschutzfachkraft nach §8a SGB VIII, Supervisorin/Coach (DGSV)
Projektleitung von A: aufklaren

Zurück zur Übersicht Beitrag als PDF