Arbeit darf nicht krank machen!
Donata Wilutzki und Jana Biemelt
A: Können Sie bitte sagen, was die Perspektive Arbeit und Gesundheit (PAG) ist und was sie dort machen?
Donata Wilutzki: Die Perspektive Arbeit und Gesundheit (PAG) ist eine von der Stadt Hamburg geförderte Anlaufstelle und berät Betriebe und Beschäftigte. Damit können alle Menschen, die in Hamburg wohnen oder arbeiten, bei uns kostenfreie Gespräche bekommen. Zu uns kommen Beschäftigte, die sich durch ihre Arbeit belastet fühlen, Schwierigkeiten und Fragen zu ihrer Arbeitssituation haben. Auch psychisch Erkrankte kommen zu uns, das ist aber keine Voraussetzung für eine Beratung. Im besten Falle kommen Ratsuchende zu uns bevor sie erkranken, dann können wir sie im Sinne der Prävention unterstützen und ggf. die Entstehung von psychischen Erkrankungen verhindern. Zur Förderung der psychischen Gesundheit beraten wir auch betriebliche Funktionsträger:innen. Da geht es vor allem um die Gestaltung von psychisch gesunden Arbeitsbedingungen durch Instrumente wie beispielsweise die Gefährdungsbeurteilung psychischer Belastung. Auf Wunsch beraten wir in einem Beratungsprozess auch verschiedene Personen und Funktionen im Betrieb und nehmen auf Wunsch von Beschäftigten auch Kontakt zum Betrieb auf oder andersherum.
A: Wie viele Menschen beraten Sie im Jahr?
Donata Wilutzki: Wir sind gut ausgelastet, denn: Die Belastungen durch die Arbeitswelt nehmen zu. Die Folgen psychischer Beanspruchungen werden mehr. Die Stadt Hamburg hat vor acht Jahren - seitdem gibt es unsere Beratungsstelle - gesagt, wir müssen unbedingt was tun angesichts der steigenden Zahlen der Frühberentung und Arbeitsunfähigkeit wegen psychischer Belastung, die Leute sind psychisch mehr belastet. Das gilt auch für Eltern, die Verantwortung für Kinder tragen oder andere pflegende Angehörige.
Jana Biemelt: Ich habe es gerade nachgesehen: Seit 2016 haben wir in der PAG 1500 Beschäftigte und 600 Betriebe beraten.
A: Unser Fokus liegt ja auf psychisch erkrankten Eltern und ihren Kindern. Haben sie auch erlebt, dass jemand zu ihnen kommt und sagt: Ich bin psychisch erkrankt, habe Familie und ich schaffe das alles nicht mehr?
Jana Biemelt: Das kommt natürlich vor. Unser Angebot ist bewusst niedrigschwellig. Wir haben die ganze Bandbreite und natürlich auch Eltern unter den Ratsuchenden dabei, die mit psychischen Beanspruchungen zu kämpfen haben oder teilweise auch psychisch krank sind, die dann schon kämpfen müssen, alles unter einen Hut zu bekommen. Wenn sie z.B. lange in der psychiatrischen Tagesklinik waren und es darum geht, wie denn der betriebliche Wiedereinstieg gelingen kann. Das sind elementare Fragen, weil es dann häufig auch um das Finanzielle geht. Es sind in der Regel Frauen, oft alleinerziehende, die zu uns kommen. Das ist meist eine richtig prekäre Situation, in der sie sich befinden. Es kommen aber auch Väter, die quasi die alleinige Versorgerrolle haben in der Familie. Wenn die ausfallen und längere Zeit im Krankengeld landen, dann kommen sie in Schwierigkeitencdas Familiensystem aufrecht zu erhalten.
Häufig ist eine arbeitsbedingte Erkrankung eine gesunde Reaktion auf die ungesunden Bedingungen, unter denen ich arbeite.
A: Wie helfen Sie dann diesen Leuten weiter? Was können Sie denen raten?
Donata Wilutzki: Wir beraten unsere Ratsuchenden mit einem verhältnispräventiven Ansatz. Das bedeutet, dass wir schauen, inwiefern es äußere Belastungsfaktoren gibt, die die Gesundheit beeinträchtigen. Wenn zu vermuten ist, dass die Arbeit krank macht, machen wir ein sogenanntes Belastungs-Screening basierend auf arbeitswissenschaftlichen Erkenntnissen. Dort erfassen wir alle Belastungen die im Kontext der Arbeit auftreten. Dies ist für die Ratsuchenden ein erster, wichtiger Schritt, um sich erst mal bewusst zu werden, dass da objektiv erfassbare Belastungen bei der Arbeit sind, die die psychische Gesundheit beeinflussen. Häufig ist eine arbeitsbedingte Erkrankung eine gesunde Reaktion auf die ungesunden Bedingungen, unter denen ich arbeite. Das ist der erste Schritt, dass die Menschen überhaupt verstehen, welchen Belastungen sie ausgesetzt sind. Hier schauen wir uns auch an, was sonst im Leben der Ratsuchenden eine wichtige Rolle spielt wie z.B. Elternschaft oder die Pflege von Angehörigen. Im zweiten Schritt schauen wir dann, was für betriebliche Möglichkeiten es gibt, die Verhältnisse zu ändern. Das heißt im besten Fall präventiv zu gucken. Was für betriebliche Unterstützung kann ich mir holen über Betriebsräte, Personalräte, Schwerbehindertenbeauftrage? Führungskräfte spielen dabei auch eine große Rolle. In der Beratung suchen wir außerdem auch nach individuellen Handlungsmöglichkeiten: was kann ich selber tun, damit es mir besser geht?
A: Wie funktioniert das Betriebliches Eingliederungsmanagement?
Jana Biemelt: Das ist eine gesetzliche Vorgabe. Alle Menschen, die sechs Wochen oder länger in den letzten zwölf Monaten arbeitsunfähig geschrieben waren, haben einen Anspruch auf einen sogenannten BEM-Prozess (Betriebliches Eingliederungsmanagement). Das heißt, die Arbeitgeber*innen in Deutschland sind verpflichtet, diesen Personen einen sogenannten leidensgerechten Arbeitsplatz zur Verfügung zu stellen. In dem Prozess werden Gespräche geführt, da schaut man, welche Einschränkungen der Mensch aufgrund der Belastung erlebt, die am Arbeitsplatz aufgetreten ist und welche Maßnahmen es braucht, damit dieser Mensch langfristig gesund werden und bleiben kann.
A: Sprechen Sie auch mit dem Arbeitgeber? Ich könnte mir vorstellen, dass viele gar nicht wissen, was sie dem/der Mitarbeiter/in anbieten sollen.
Donata Wilutzki: Das ist eine der wichtigen Aufgaben der Beratung, dass die Ratsuchenden zur Klärung ihrer belasteten Arbeitssituation sozusagen „sprechfähig“ werden und ihre Rechte kennen, so dass sie Kontakt zum Betrieb aufnehmen und mit den Personen sprechen können, die in der Verantwortung sind, z.B. Führungskräfte. Wir begleiten bei Bedarf die Ratsuchenden in den Betrieb und nehmen auf Wunsch direkt Kontakt zu den Interessenvertretungen, BEM-Beauftragten, Führungskräften oder Geschäftsleitungen auf. Wenn wir den Eindruck haben, da muss noch mal deutlich gemacht werden, dass es Umgestaltungsmaßnahmen braucht, was die Arbeitsbedingungen anbelangt, sind wir auch entsprechend aktiv. Da spielen natürlich auch klassischen Themen eine Rolle, wie Arbeitszeit, Arbeitsorganisation, soziales Miteinander im Betrieb, unterschiedliche Beanspruchungsfolgen in bestimmten Lebensphasen und auch Diskriminierungsthemen.
A: Haben Sie den Eindruck, das wird gut angenommen von der Arbeitgeberseite?
Donata Wilutzki: Es ist unterschiedlich. Manchmal besteht ein deutliches Interesse, etwas zu ändern. In anderen Betrieben gibt es Hemmschwellen sich Themen zuzuwenden, die prekär, beschämend oder schwierig sind, z.B., wenn es darum geht sich damit auseinanderzusetzen, welche unterschiedlichen Arbeitsbedingungen für weibliche und männliche Beschäftigten möglicherweise gelten, das Thema Elternzeit oder ständige Erreichbarkeit beispielsweise. Themen, zu denen wir durch unsere Beratung erst einmal einen Zugang herstellen, weil da nicht so gerne hingeguckt wird. Dies betrifft auch Themen, die mit Branchenzugehörigkeit und damit verbundenen Glaubenssätzen zu tun haben. Kann ich z.B. sagen, ich möchte als Vater in Teilzeit arbeiten oder meine Elternzeit verlängern? Kann ich als weibliche Führungskraft ein Leitungstandem vorschlagen, um mein Privatleben besser mit meinem Beruf zu vereinen? Da merken wir, es gibt große Unterschiede in den Betrieben und sehen es als eine unser Aufgabe, diese Themen voranbringen können.
Jana Biemelt: Wenn der Betrieb das will, kann das BEM-Verfahren eine tolle Chance sein, die Arbeitsbedingungen ein Stück weit mitzugestalten. Wir hatten das Beispiel, dass ein alleinerziehender Vater nicht Schicht arbeiten konnte, weil es mit Kindern nicht ging. So ein BEM-Verfahren bietet die Möglichkeit darüber zu sprechen und individuelle Vereinbarungen zu treffen. Auch wenn ich an einem bestimmten Tag Zeit für meine Therapie brauche, kann ich den Arbeitgeber darauf hinweisen, dass das einfach notwendig ist für meinen Heilungsprozess, da habe ich die Chance das als vereinbarte Maßnahme ins Protokoll im BEM-Verfahren schreiben zu lassen, damit das auch wirklich umzusetzen ist.
A: Haben Sie den Eindruck, dass der Bedarf an Beratung zugenommen hat?
Psychisch krank ist nicht gleichzusetzen mit arbeitsunfähig.
Donata Wilutzki: Es gibt schon eine Nachwelle der Corona-Zeit. Besonders Eltern, die wirklich sehr lange durchhalten mussten mit Mehrbelastung unter schwierigen Bedingungen, da lösen sich die Beanspruchungen nicht in Luft auf. Wie das bei psychischen Erkrankungen eben ist, ihre Entstehung ist meist ein schleichender Prozess und wir bemerken, dass der Bedarf an Beratung sehr groß ist. Auf der anderen Seite erleben wir, dass Betriebe zum Teil wenig Orientierung dazu haben, wer einen gesetzlichen Anspruch hat, ein BEM-Verfahren angeboten zu bekommen und dass da zu wenig getan wird. Ein BEM-Verfahren bedeutet sich gemeinsam hinzusetzen und zu überlegen, wie es gehen kann. Psychisch krank ist nicht gleichzusetzen mit arbeitsunfähig. Da gilt es einen Rahmen zu setzen, um das gut besprechen zu können. Beschäftigte und Betriebe brauchen da Orientierung, weil es da häufig an Wissen fehlt. Gerade in Hinblick auf die psychische Gesundheit gibt es betriebliche Unsicherheiten. Entsprechend sind auch Beschäftigte häufig verunsichert. Dieses Thema ist zum Teil immer noch ein großes Tabu-Thema und mit Stigmatisierungen verbunden. Entsprechend groß ist da auch die Nachfrage, z.B. an Informationsvermittlung und konkreten Handlungsansätzen für Führungskräfte z.B. wie kann ich auf Menschen mit psychischen Beeinträchtigungen zugehen? Was darf, kann ich, sollte ich machen? Da ist immer noch viel Unwissenheit da.
A: Da ist sicher auch eine Unsicherheit im Umgang.
Jana Biemelt: Genau, aber es ist auch ein schambesetztes Thema über die eigenen Beeinträchtigungen zu sprechen. Wir haben immer wieder Ratsuchende, die würden gerne offen mit ihren Beeinträchtigungen umgehen, aber sie wissen nicht, wie der Chef darauf reagiert. Da ist eine große und zum Teil berechtigte Sorge, dass das negative Auswirkungen haben könnte. Wir haben in der Beratung den Ansatz zwischen Erkrankung und arbeitsrelevanter Beeinträchtigung zu unterscheiden. Ich kann als Betroffene unter Konzentrationsschwierigkeiten leiden, aber mein Arbeitgeber braucht es nicht zu wissen und hat auch kein Recht darauf zu erfahren, ob diese mit einer Depression, einem Bandscheibenvorfall oder einer Krebserkrankung zusammenhängt.
Vereinbarkeit von Beruf und Familie wird in der Beratung zu wenig genannt, weil es gerade bei Frauen ein schambesetztes Thema sein kann.
A: Haben Sie ein positives Beispiel, wo das dank ihrer Beratung gut gelungen ist?
Jana Biemelt: Elternspezifisch fällt mir nichts sein, wo das Elternsein ein Thema war. Eher indirekt.
Donata Wilutzki: Das Thema Vereinbarkeit von Beruf und Familie wird in der Beratung zu wenig genannt, weil es gerade bei Frauen ein schambesetztes Thema sein kann. Weil den Frauen noch immer der Mythos von Vereinbarkeit von Beruf und Familie vermittelt wird, als sei das alles doch kein Problem. Für die Frauen ist es schwierig zu erleben, dass es sehr häufig eben so gar nicht funktionieren kann, weil die dafür notwendigen strukturellen, gesellschaftlichen und auch partnerschaftlichen Bedingungen nicht vorhanden sind. Das ist häufig so mit Scham besetzt, dass es nicht thematisiert wird. Es ist immer mit einem subjektiven Gefühl von Scheitern verbunden. Da ist es unsere Aufgabe zu sagen: Unter diesen Bedingungen, sowohl im Arbeitssystem als auch im gesellschaftlichen System und im familiären Umfeld inklusive der eigenen Paarbeziehung, kann das zu einer psychischen Erkrankung führen. Da kann auf Dauer niemand gesund bleiben. Das hat aber nicht damit zu tun, dass man selber blöd ist oder es nicht drauf hat, sondern vor allem damit, dass die Geschlechterrollenerwartung in Hinblick auf Mutterschaft, die die Gesellschaft an Frauen richtet, ganz konkret und tagtäglich die psychische Gesundheit und im Übrigen auch die Lebenszufriedenheit von Frauen aufs Spiel setzt.
A: Es ist also ein strukturelles Problem?
Jana Biemelt: Ja. Auch die gesellschaftlichen Unterstützungssysteme wie Schulen und Kitas bieten keine verlässliche Unterstützung. Wir haben viele Lehrkräfte und Erzieher*innen bei uns sitzen, bei denen wir merken, da läuft grundlegend etwas schief. Natürlich merken das vorrangig die Eltern, die ja selbst auch Arbeitnehmer*innen sind. Wenn dann noch psychische Erkrankungen dazu kommen, dann ist das Schiff wirklich kurz vor dem Sinken.
A: Was kann man da tun?
Jana Biemelt: Da muss man gucken, wo es am leichtesten ist, Belastungen rauszunehmen. Die Kinder kann man nicht abgeben, bei der Arbeit hat man einen guten Hebel, Belastungen herauszunehmen.
Arbeit muss menschengerecht gestaltet sein.
A: Was müsste denn ihrer Meinung passieren, damit die Belastungen für die Eltern reduziert würden?
Donata Wilutzki: Unser Credo ist, wie es im Arbeitsschutzgesetz steht: Arbeit muss menschengerecht gestaltet sein. In dem Wort „Menschen“ ist eigentlich schon drin, dass wir unterschiedliche Lebensphasen haben, für die es Berücksichtigung in der betrieblichen Gestaltung von Arbeitsbedingungen und -anforderungen geben sollte. Wie kann man Arbeitsbedingungen gestalten, dass Menschen dauerhaft gesund arbeiten können - vor allem auch im Hinblick auf die seelische Gesundheit? Wie kann Arbeitszeit gestaltet werden, dass es in Phasen von Care-Arbeit Flexibilität gibt? Wie kann die Arbeitsorganisation gestaltet sein, dass ich weiß, ich habe gute Rückendeckung durch Kolleg*innen? Eine psychische Erkrankung ist nicht gleichzusetzen mit Arbeitsunfähigkeit. Es geht immer darum zu gucken, gibt es eine Beeinträchtigung, die relevant ist für meine Arbeit. Es geht auch darum zu verstehen: Es gibt arbeitsbezogene Belastungen, die machen Menschen krank auf Dauer. Das ist ein anderes Verständnis davon, wie Gesundheit sich konstruiert und da müssen wir hin.
A: Was würden sie Arbeitgebern empfehlen?
Jana Biemelt: Ganz klassisch ist die Gefährdungsbeurteilung psychischer Belastung, die mit dem Ziel durchzuführen ist, dass alle Arbeitnehmer*innen, egal ob Eltern oder nicht, gesunde Arbeitsbedingungen vorfinden, was ja auch Auswirkungen hat auf die Produktivität der Betriebe. Wenn ich gesunde Mitarbeiter*innen habe, habe ich auch ein gesundes Unternehmen. Da gibt es die gesetzlichen Grundlagen bereits, sie müssen nur genutzt werden.
Hinweis
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