Angehörige psychisch erkrankter Eltern

Auch Kinder müssen als Angehörige wahrgenommen werden

ANGEHÖRIGE
„Angehörige sind Menschen, die in einer engen, auf Vertrauen basierenden Beziehung zur erkrankten Person stehen“ (Scherer, Lampert 2017, S. 24). Das sind Eltern, Partner*innen, Geschwister, Kinder, Tanten, Onkel, Nichten, Neffen, Cousins, aber auch gute Freund*innen, Pat*innen oder soziale Bezugspersonen, die der Familie sehr nah sind. Rein rechtlich betrachtet sind Angehörige Verwandte - durch Abstammung, Heirat/Verpartnerung oder z.B. Adoption. Damit einher gehen Fragen von Unterhalt, Erbe, Auskunftspflicht, Sorgerecht usw. Auf der emotionalen Ebene können auch andere Menschen Vertrauenspersonen, Wegbegleiter*innen, Unterstützer*innen oder Freund*innen Angehörige sein. 

FAMILIE ALS RESSOURCE
Wenn es um die Suche nach Ressourcen in einer belastenden Lebenssituation geht, dann wird direkt auf die Familie geschaut. Wir fragen in der Beratung Menschen nach ihrem familialen Gefüge, erkunden Genogramme, fragen, wer die Pflege übernehmen kann. Familie als Verantwortungsgemeinschaft war und wird gebraucht und gefordert. Familie sollte bereitstehen in der Not, kann Schutz und Unterstützung bieten und wird gern adressiert, um Versorgung und Verantwortung für ein erkranktes oder belastetes Familienmitglied zu übernehmen. Angehörige aus dem nahen Familienkreis werden oft als Ressourcengeber angesprochen. Gemeint sind damit Erwachsene, denen Haltefähigkeit, Belastbarkeit, Geschick und Verantwortung, auch im Sinne von Geschäftsfähigkeit, zugesprochen werden.

Gerade weil Angehörige so dicht dran sind, übernehmen sie ganz automatisch Verantwortung, kümmern sich, pflegen, begleiten, sorgen sich, gleichen aus, übernehmen Dinge und Aufgaben – viel früher, als es jemand von außen wahrnimmt. Darin liegt zum einen genau die Versorgungsverantwortung, die in Familien steckt, zum anderen wird hier so viel geleistet, dass es von außen kaum wahrnehmbar ist, dass eine Person weniger kann, sich zurückzieht oder auch krank ist und Angehörige über ihre Kraft gehen, sich möglicherweise auch selbst belasten und dabei krank werden.

DOPPELROLLEN UND LOYALITÄTSKONFLIKTE
Wer sind die Angehörigen? Primär sind sie Schwestern, Brüder, Mütter, Väter, Schwiegertöchter- und -söhne, Partner und Partnerinnen. Dadurch haben sie eine ganz individuelle Beziehung zu ihrem psychisch belasteten oder erkrankten Familienmitglied. Es spielt eine Rolle, ob diese positiv besetzt, freudvoll, anstrengend oder von Konflikten beladen ist. Ebenso sind die räumliche Nähe und Erreichbarkeit relevant. Es kann aber auch eine enge geschlossene Systemstarre bestehen, in der sich ungünstige Kommunikationen, Entwertungen und Konflikte manifestieren. Hier soll erwähnt sein, dass durch Pflegeverantwortung und Carearbeit (engl. to care= sich kümmern) ein Ungleichgewicht in der Dyade von Paaren, Eltern zu erwachsenen Kindern, Schwestern und Brüdern entstehen kann. Die ursprüngliche Beziehung erhält eine neue Dimension, in der Lasten so verteilt werden, dass einer (wieder) mehr nimmt und damit Gleichverteilung und Gleichberechtigung kleiner werden (BApK 2021). Besonders durch psychische Erkrankungen verändern sich Menschen. Der bekannte Mensch geht verloren oder ist nur in guten Zeiten als diese vertraute Person verfügbar. Gleichwohl gehen mit den Erkrankungen Verhaltensweisen einher, die alle stark belasten, zu Kränkungen führen, Einsamkeit hervorrufen, Alltag durcheinanderbringen. Das alles belastet die Beziehungen und es entstehen Doppelrollen, in denen es viel Mühe kostet, die ursprünglichen
Bindungen und Rollen aufrecht zu erhalten.

ANGEHÖRIGE STEHEN OFT AUSSEN VOR
Da psychische Erkrankungen vor allem im Kopf passieren, ist vieles schwer nachvollziehbar oder nicht erklärbar. Fehlende Informationen, der Eigen-Sinn des/der Betroffenen, die singuläre Ansprache durch das medizinische Versorgungssystem führen zu einer Ausgrenzung. Viele beschreiben ein „außen vor sein“, eine Dominanz des Krankheitsgeschehens über den familiären Alltag und die individuellen Bedürfnisse der anderen. Wut, Trauer, Scham, Sprachlosigkeit, Angst und erhebliche Loyalitätskonflikte fressen Kraft, manchmal auch Mitgefühl führen, wenn es keine Unterstützung gibt zu Überlastung (Scherer, Lampert 2017).

KINDER SIND AUCH ANGEHÖRIGE
Wie geht es da Kindern? Sie sind auch Angehörige! Ihnen geht es genauso wie den Erwachsenen. Und durchaus noch schlechter. Denn sie werden nicht einmal als Angehörige angesprochen, obwohl sie soviel leisten wie die Großen. Sie haben noch keine Resilienz auf Vorrat aufgebaut. Sie werden übersehen, verstehen nicht, was los ist, werden nicht aufgeklärt, können in keine Selbsthilfegruppe gehen, verstehen Verhalten oft noch monokausal, können nicht weggehen und wollen geliebt werden. Lenz (2014) beschreibt Kinder und Jugendliche als genaue Beobachter ihrer Eltern (sie sind Experten für jede Gemütslage), sie passen sich an, um zum Wohlergehen beizutragen. Sie versuchen allein, ihre Gefühle zu regulieren und sind mit Wut, Angst und Sorge sich selbst überlassen. Sie übernehmen Verantwortung und gleichen
mangelnde elterliche Präsenz aus, versorgen den Haushalt, übernehmen Familienkommunikation und leisten einen erheblichen Teil an Carearbeit – also kümmern, ausgleichen, versorgen - besonders auf emotionaler und alltagspraktischer Ebene. Ihre Selbstwirksamkeit zur Reduzierung ihrer persönlichen und der familiären Belastung ist sehr klein. Sie haben im Großen und Ganzen keine Chance, die Dinge besserzumachen. 

Und warum sind sie damit allein? Warum werden sie nicht wie Angehörige angesprochen, aufgeklärt, ihre Belastung benannt und Unterstützung und Entlastung organsiert? Minderjährige sind formal auch keine Pflegepersonen. Damit verschwinden sie vom Radar als einzubeziehende Angehörige. Gleichzeit verwehren wir ihnen Anerkennung, Beratung und Hilfe, die pflegenden Angehörigen angeboten werden. Carearbeit ist nicht Teil des deutschen Pflegebegriffs.

ANGEHÖRIGE SIND AUCH PAPAS, TANTEN, OMAS UND ONKEL
Wenn wir Kindern emotionale Bezugspersonen zur Verfügung stellen und sie damit in ihrer Resilienz stärken wollen, dann hat das Hilfesystem nicht genug Pat*innen, Lehrer*innen oder Erzieher*innen. Wir brauchen Personen aus der Herkunftsfamilie: Tanten, den zweiten Elternteil, Opas, große Cousinen….und, das lässt sich direkt ableiten, sie sind auch Angehörige. Sie geben ihr Bestes für die betroffene Person, für ihr eigenes Heilsein und vielleicht auch schon für die Kinder. Sie gehen in einen doppelten Ausgleich. Das heißt, die natürliche Triade z.B. Mutter, Kind, Oma wird doppelt herausgefordert. Die Oma in der Sorge und Schuld zu ihrer eigenen Tochter und in der Sorge zum Enkelkind. Sie versucht auszugleichen und eröffnet ein Konkurrenzfeld, mischt sich ein, wägt ab, wieviel sie eingreifen sollte, und steckt mitten im Dilemma, macht sich Sorgen und ist auch verzweifelt. Ebenso Väter und Mütter bzw. Partner*innen als zweite Erziehungs- und Bezugspersonen. Ihnen obliegt auch noch die Gestaltung des Alltags, eine Neusortierung der Familienarbeit, der materiellen Absicherung, der Begleitung der Kinder in Bezug auf die Erkrankung des anderen Elternteils – schlicht die Familie beieinander zu halten.

Wer unterstützt sie in ihrer Doppel- und Dreifachbelastung? Was bieten wir ihnen an? Wenn Kinder und Jugendliche gestärkt werden sollen, dann lohnt auch ein Blick auf die weiteren Angehörigen. Sie müssen gesehen und wertgeschätzt, unterstützt und entlastet werden. Sonst geraten sie in Rollen als Pflegeeltern, Alleinerziehende, ausgegrenzte Väter oder Mütter.

Juliane Tausch

M.A. Klinische Sozialarbeit, Kinderschutzfachkraft nach §8a SGB VIII, Supervisorin/Coach (DGSV)
Projektleitung von A: aufklaren

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